Der
schwarze
Shabbat

Am 7. Oktober 2023 ermordete die Hamas 364 Menschen beim Nova-Festival an der Grenze zu Gaza. Ein Jahr ist seitdem vergangen. Die Überlebenden leider noch immer

Ein junger Israeli trägt noch immer das Bändchen vom Nova-Festival Foto: Avishag Shaar-Yashuv/nyt/redux/laif

Von Nicholas Potter

Um 6.29 Uhr geht die ­Musik aus. Dann Sirenen, Explosionen, Schreie. Omer Hadad und seine Freunde sind erst drei Stunden ­vorher angekommen, in wenigen Minuten soll die Sonne aufgehen – der ­berauschte Höhepunkt des Psytrance‑Raves. Doch als Hadad einen mit Schusslöchern übersäten Fiat sieht, fühlt er sich plötzlich stocknüchtern. Ob die blutenden Insassen des Autos zu diesem Zeitpunkt schon tot sind, kann er nicht sagen. Er rennt um sein Leben.

Sechs Monate nach dem Massaker vom 7. Oktober, das Israel erschüttert hat, wird Omer Hadad immer noch von diesen Szenen heimgesucht. Es ist ein warmer Aprilabend in Tel Aviv. Der 24-Jährige ist Friseur, er hat gerade Feier­abend und sitzt auf einem Leder­sessel im Salon. Er trägt eine militärische Erkennungsmarke um den Hals mit Davidstern – ein Solidaritätszeichen für die Geiseln in Gaza. Seine dunkelbraunen Augen sehen müde und traurig aus.

Hadad hat noch nicht oft gesprochen, über das, was er an diesem Tag erlebte. Und es fällt ihm merklich schwer. Er zeigt ein Video seiner Flucht vor ­Hamas-Terroristen, aufgenommen versehentlich, in Panik: Hunderte spärlich bekleidete Menschen fliehen über Felder, Hadad selbst trägt ein weißes Outfit, irgendwas zwischen Cape und Bademantel. Schüsse sind zu hören. „Wir waren im Überlebensmodus“, sagt er mit schüchterner Stimme.

Eine Freundin stolpert in der Handy­aufnahme immer wieder beim Laufen, weil sie sich übergeben muss, aus schierer Angst, bevor sie auf dem Boden zusammenbricht. „Überall um uns herum lagen Menschen auf dem Boden“, sagt Hadad. „Wir dachten, dass auch sie Panik­attacken hätten.“ Erst später wird klar: Sie sind bereits tot.

Die Entscheidungen, die die größtenteils jungen Menschen in den nächsten Minuten und Stunden treffen, bestimmen, ob sie leben oder sterben: links oder rechts, sich verstecken oder fliehen, mit dem Auto oder zu Fuß.

Dass Hadad das Massaker beim Nova-Festival überlebt, ist Zufall. Oder etwas anderes. Er schaut nach oben, obwohl er, wie er sagt, nicht besonders gläubig ist. Er findet schließlich sein Auto und fährt über die Felder nach Netiwot, einer Stadt knapp 20 Kilometer entfernt, die von den Gräueltaten vom 7. Oktober wie durch ein Wunder verschont bleibt. Zwei von Hadads Freunden schaffen es nicht.

Israelis nennen den 7. Oktober inzwischen den „schwarzen Shabbat“. So viele Jüdinnen und Juden sind seit der Shoah nicht mehr an einem Tag getötet worden. Palästinensische Terroristen der Hamas und anderer Gruppen wie Islamischer Dschihad und die „Demokratische Front zur Befreiung Palästinas“ ermorden fast 1.200 Menschen – zwei Drittel davon Zivilisten.

Das Nova-Festival in der Negevwüste, das Omer Hadad und seine Freunde besuchten, ist der blutigste Schauplatz des Angriffs. 364 Menschen kommen dort ums Leben, fast die Hälfte aller getöteten Zivilisten an diesem Tag. Sie werden mit Maschinengewehren, ­Panzerfäusten und Granaten ermordet. Es ist der tödlichste Angriff auf ein Musikfestival aller Zeiten. Auch das kleinere Psyduck-Festival, ein paar Kilometer entfernt, wird angegriffen. Dort ermorden die Terroristen 17 Menschen.

Von den rund 250 Geiseln, die palästinensische Terroristen nach Gaza verschleppen, werden mindestens 38 vom Nova-Festival entführt. Fünf von ihnen kommen im November durch einen Deal mit der Hamas frei, die israelische Armee befreit weitere vier im Juni.

Ende August werden die Leichen von fünf Festival-Besucher*innen sowie einer weiteren Entführten in einem Tunnel unter Rafah gefunden, die kurz zuvor per Kopfschuss hingerichtet wurden. Sechs weitere Menschen sind bislang in Geiselhaft ums Leben gekommen. 18 Menschen, die vom Nova-Festival entführt wurden, hält die Hamas bis heute in Gaza fest.

Der Angriff vom 7. Oktober wird mit einer Raketensalve aus dem Gazastreifen eingeläutet. Palästinensische Terroristen brechen durch den Grenzzaun zu Israel. Mit Gleitschirmen und Pickup-Trucks erreichen sie das Nova-Gelände beim Kibbuz Re’im, wo fast 4.000 Menschen aus über 30 Ländern am jüdischen Feiertag Simchat Torah unter freiem Himmel tanzen – eine Zusammenarbeit des brasilianischen Universo Paralello und des israelischen Nova-Teams.

Mit GoPros filmen die Terroristen das Blutbad, das sie dort anrichten. In einem Video schießen sie auf eine Reihe Dixi-Klos, in denen sich Menschen verstecken, Tür für Tür, als sei das ein Ego-Shooter-Spiel. Eine Dashcam auf dem Parkplatz zeigt, wie ein Terrorist einen auf dem Boden liegenden Mann, der sich tot stellt, aus nächster Nähe hinrichtet.

In einem Video werfen sie eine Granate in einen kleinen Luftschutzbunker, auf Hebräisch Migunit genannt, in dem rund 30 Menschen Schutz suchen. Nach der Explosion erschießen sie die wenigen Überlebenden. Einen jungen Mann verschleppen sie nach Gaza. Er heißt Hersh Goldberg-Polin und gehört zu den hingerichteten Geiseln, die Ende August in einem Tunnel unter Rafah gefunden werden.

Manche Gäste rennen zu ihren Autos und fahren Richtung Ausgang, doch sie landen in einer Falle. Terroristen blockieren die Regionalstraße 232, die ­parallel zum Gelände verläuft, von beiden Seiten. Die fliehenden Besucher geraten unter schweren Beschuss. Heute nennen Israelis sie die „Straße des Todes“, weil hier Dutzende Menschen ums Leben gekommen sind. Bis heute sind Brandspuren auf dem Asphalt zu sehen. Ein Denkmal aus Hunderten von ausgebrannten Autos erinnert daran.

Viele der Nova-Besucher stehen unter dem Einfluss von Drogen wie MDMA, Kokain oder Amphetaminen. Bei Menschen, die LSD genommen hatten, sei ein „Überlebensinstinkt“ eingetreten, sagt der Psychologe Ran Sapir, der Überlebende des Festivals behandelt hat, im Interview mit der israelischen Zeitung Ha’aretz. Eine dachte, sie sei ein gejagtes Tier, das den Jägern entkommen müsse. Menschen, die Ketamin genommen hatten, hätten schlechtere Überlebenschancen gehabt.

Auch die Terroristen sind im Rausch: Sie haben Captagon-Tabletten dabei, die wie Amphetamin wirken und ihnen dabei helfen, lange wach zu bleiben und Menschen ruhig und konzentriert abzuschlachten oder ihnen sexualisierte Gewalt anzutun.

Viele der bislang dokumentierten Vergewaltigungen ereignen sich beim Nova-Festival. Videos der Erstversorger zeigen tote Frauen mit entfernter Unterhose oder blutigem Schritt. Die Hände mancher Opfer sind festgebunden. Die Ha’aretz berichtete im April von 15 Überlebenden des Festivals, die Vergewaltigungen oder Gruppenvergewaltigungen gesehen hätten, fünf von ihnen haben bislang öffentlich darüber gesprochen.

Eine Zeugin vom Festival schildert gegenüber der New York Times, wie schwerbewaffnete Männer mindestens fünf Frauen vergewaltigt und getötet hätten. Während eine Frau vergewaltigt worden sei, habe einer der Männer ihre Brust mit einem Teppichmesser abgeschnitten und diese zu einem anderen Mann geworfen. Die Zeugin habe auch gesehen, wie die Männer die Köpfe dreier enthaupteter Frauen mit sich getragen hätten.

Viele der bekannten Vergewaltigungsfälle finden am Rande des Festival­geländes statt, beobachtet von Über­lebenden, die sich gut verstecken konnten. Wie viele Menschen an diesem Tag tatsächlich sexuell missbraucht worden sind, ist unklar. Erstversorger der ultraorthodoxen Organisation Zaka beerdigen die Leichen aus religiösen Gründen schnell, sie werden teilweise mit Last­wagen abtransportiert.

Bis heute sind Brandspuren auf dem Asphalt der Regionalstraße 232 zu sehen

Heute sieht das Nova-Gelände aus wie eine Mischung aus Friedhof und Freiluftattraktion. Am Eingang stehen reihenweise weiße Autos in der prallen südisraelischen Sonne. Dutzende Menschen schlängeln sich trauernd und nachdenklich über die trockene Fläche, von Bäumen umrahmt, die einst eine Tanzfläche war. An Stangen hängen die Fotos und Namen der Ermordeten mit blau-weißen Israel-Flaggen, die im warmen Wind leicht flattern. Vorne steht eine DJ-Pult-Attrappe, um an Kido zu erinnern, einen bekannten israelischen Trance-DJ, der beim Anschlag ermordet wurde.

Es sind insgesamt vielleicht 200 Menschen auf dem Gelände – trauernde Eltern, eine diplomatische Delegation, eine Gruppe von Soldaten, Ultraorthodoxe der Chabad-Bewegung, die in einem Bus Shabbat-Kerzen und koschere Snacks verteilen. So viele Menschen, dass sie ein Sicherheitsrisiko darstellen. Denn im Gazastreifen, nur fünf Kilometer Luftlinie entfernt, tobt der Krieg zwischen Hamas und Israel, am Horizont sind leichte Rauchspuren zu sehen. Auf dem Festivalgelände wurden inzwischen zwei mobile Migunit-Bunker und eine Luftsirene eingebaut. Wenn schon wieder Raketen aus dem Küstenstreifen fliegen, hat man hier nur Sekunden Zeit, um Schutz zu suchen.

Das Nova-Gelände ist zum Denkmal geworden, zur Erinnerung an ein Massaker, das für die Menschen in Israel noch immer eine offene Wunde ist. Zwei israelische Dokumentarfilme zum Festival sind bereits entstanden: „Black Sunrise“ und „#Nova“. Zum israelischen Unabhängigkeitstag im Mai produzierte das Büro für Staatszeremonien und Veranstaltungen einen Clip, der für Kontroversen sorgte – eine Art Musikvideo mit Tanzsequenzen, gedreht am Tatort des Massakers, das Angehörigen der Ermordeten als „beschämend“ und „entsetzlich“ empfanden.

Positiver rezipiert wird eine Ausstellung der Festival-Organisatoren mit dem Titel „06:29 – The Moment the Music Stood Still“, die im April in der Tel Aviver Messehalle Expo eröffnet wurde, bevor sie nach New York und Los Angeles wanderte. Sie stellt das Gelände direkt nach dem Massaker nach, mit ausgebrannten Autos, Dixi-Klos mit Schusslöchern und den Sachen, die fliehende oder verstorbene Be­su­che­r*in­nen hinterließen – Schuhe, Sonnenbrillen, Taschen.

Auch beim diesjährigen Burning Man Festival, das von Ende August bis Anfang September in der Nevada-Wüste stattfand, wurde der Ermordeten des Nova mit einer Kunstinstallation gedacht – einem Nachbau der psychedelisch-farbenfrohen Bühne mit den Worten „We will dance again“.

„Das war für uns sehr wichtig“, erzählt Nova-Veranstalter Omri Sasi, der beim Angriff über 100 Freun­d*in­nen sowie seinen Onkel und Cousin verlor. Auf der Nova-Bühne beim Burning Man legte er mit DJ Captain Hook auf, von 6.29 Uhr bis zum Nachmittag. „Leute haben geweint“, sagt der 35-Jährige, der die Nova-Reihe vor drei Jahren ins Leben rief. Auch nächstes Jahr soll das Nova beim Burning Man vertreten sein, sagt er. „Wir wollen nicht aufgeben und werden weiter tanzen. Der Terrorismus darf nicht gewinnen.“

Doch nicht alle wollen erinnern. Vor der Nova-Ausstellung in New York organisierten im Juni Hunderte anti­israelische Aktivisten einen Protest. Sie zündeten Rauchtöpfe und skandierten „long live the intifada“ – es lebe die Intifada. Eine Aktivistin begründete die Aktion auf X (ehemals Twitter) damit, dass das Nova „neben einem Konzentrationslager“ stattgefunden habe. Ähnliche Kommentare waren in den Tagen und Wochen nach dem Massaker in den sozialen Medien hundertfach zu lesen. Die Botschaft: Die Opfer des Massakers seien selbst schuld.

Chen Malca leidet unter Angstattacken Foto: Nicholas Potter

In der globalen Festival- und Clubszene ist seit dem 7. Oktober Solidarität mit den Ermordeten, Verschleppten und Überlebenden des Novas kaum hörbar. Stattdessen fasst die antiisraelische Boykottbewegung BDS dort immer mehr Fuß – und die Szene radikalisiert sich immer weiter. Eine Benefizparty in New York, nur eine Woche nach dem Massaker, nannte sich „Intifada Fundraver“ und warb mit einem Foto, in dem die Hamas mit einem Bagger den Grenzzaun zu Israel durchbricht. Im Februar wurde die Kampagne „DJs Against Apartheid“ gestartet, die inzwischen über 3.000 DJs weltweit unterstützen. In dem Aufruf wird die Gewalt der Hamas als „natürliche“ und „unausweichliche“ Reaktion bezeichnet. Und in Berlin sieht sich das renommierte Berghain einer Boykottkampagne ausgesetzt, nachdem der Club ­einen DJ auslud hatte, der zuvor eine Instagram-Story geteilt hatte, in der die Vergewaltigungen beim Nova-Angriff geleugnet wurden.

Über all das kann Yarin Illovich nur mit dem Kopf schütteln. Der 29-jährige Israeli ist besser bekannt als der Psytrance-Künstler Artifex. Als die Terroristen das Nova-Festival überfallen, steht er am DJ-Pult – er ist der Headliner zum Sonnenaufgang. „Das war ein Genozid bei einem verdammten Musikfestival“, sagt er via Zoom. „Wäre nicht die jüdische Community hier betroffen, wäre zum Beispiel Tomorrowland oder Electric Daisy Carnival angegriffen, würde die Welt ganz anders reagieren.“

Anfang September, elf Monate nach dem Angriff. Illovich sitzt zu Hause in Kfar Yona, eine Stunde nördlich von Tel Aviv, er trägt ein T-Shirt der Fernseh­serie „Rick and Morty“. Einige Bookings seien für den international tourenden DJ inzwischen weggebrochen, weil Veranstalter aus Protest gegen den Gaza-Krieg Israelis nicht mehr einladen wollen würden, sagt er.

Den letzten Track, den Illovich am 7. Oktober auflegte, der von Sirenen, Explosionen und Schreien unterbrochen wurde, hat er inzwischen den Ermordeten gewidmet und kostenlos zur Verfügung gestellt. Mit einem Spendenaufruf will er die Überlebenden und Hinterbliebenen des Massakers unterstützen. „Nova Tribute – The Angel’s Last Dance“, so nennt er nun seinen Remix von Pixel und Space Cats „Clear Test Signal“ – ein energischer, trippiger Psytrance-Knaller. „Es war für die Ermordeten der letzte Moment des Glücks“, sagt er.

Illovich habe seit dem Angriff gute und schlechte Tage. Heute scheint ein guter Tag zu sein, er redet offen über das Massaker, bei dem er 70 Freun­d*in­nen verlor. Nachdem er um 6.29 Uhr die Musik ausmachte, sei er über Felder geflohen, sei mit Panzerfäusten beschossen worden und habe sich fünf Stunden lang hinter einem Auto versteckt, als die Terroristen sich ein Feuergefecht mit der Polizei lieferten. Zehn Stunden habe es gedauert, bis er endlich in Sicherheit gewesen sei.

Doch je näher der erste Jahrestag rückt, umso schlechter gehe es ihm. Für den 7. Oktober 2024 habe er alles abgesagt. „Ich will hier in Israel sein, mit meiner Familie, mit Freunden, mit den anderen Nova-Überlebenden“, sagt er.

„Ich bin traurig, dass so viel Zeit vergangen ist und sich nichts geändert hat – es herrscht immer noch Krieg, die Geiseln sind immer noch nicht zurück“

Omer Hadad, Überlebender des Nova-Festivals

Die psychologischen Folgen des 7. Oktober belasten die Überlebenden bis heute, viele sind stark traumatisiert. Laut der Tribe of Nova Foundation, einer NGO, die von Omri Sasa und den anderen Organisatoren direkt nach dem Angriff gegründet wurde, sind drei Viertel der fast 4.000 Besucher in psychologischer Behandlung. Die Stiftung plant Wochenend-Retreats und vergibt kleine Zuschüsse, um mit den Kosten für Therapien oder Rehabilitation zu helfen. Sie organisiert auch ein wöchentliches Treffen für Überlebende in einem Park in Tel Aviv.

Secret Forest, ein abgelegenes Resort in den zyprischen Bergen, das von Israelis betrieben wird, organisiert kostenlose Therapiewochen für die Überlebenden. Bereits 700 von ihnen waren schon dort, auch Yarin Illovich. „In den ersten vier Monaten nach dem Massaker wollte ich weder auflegen noch ins Studio“, sagt er. Ein fünftägiger Aufenthalt mit über 150 anderen Überlebenden habe ihm geholfen, mit dem Trauma umzugehen.

Auch Chen Malca nahm an einen Retreat im Secret Forest teil, nur drei Wochen nach dem Massaker. „Es war nicht nur Therapie“, erzählt die 25-Jährige aus Jerusalem mit mahagonifarbenen Haaren und glitzernden Fingernägeln. „Sie organisierten auch eine kleine Party für uns, weil das wichtig ist, um eine posttraumatische Belastungsstörung zu verhindern.“

Malca hat nach dem 7. Oktober ihren Job gekündigt und ihre Studienpläne auf Eis gelegt, stattdessen spricht sie mehrmals die Woche auf Veranstaltungen über das Nova-Festival, das sie nur knapp überlebte. Auf dem Festivalgelände erzählt sie regelmäßig ihre Geschichte vor kleinen Gruppen – wie sie in Panik fast erstarrt sei, wie sie und ihr Freund mit dem Auto nur mit Glück entkamen. Bis heute falle es ihr schwer, darüber zu sprechen, sagt Malca. Sie vergisst ständig Wörter und wechselt zurück ins Hebräische, wenn sie darüber redet – aus Aufregung, obwohl sie akzentfreies Englisch spricht.

Malca sei inzwischen wieder auf kleine Festivals gegangen, das sei wichtig, sagt sie, aber auch belastend. „Auf einem Festival sah ich am Himmel Drohnen und Menschen, die mit Gleitschirmen geflogen sind“, erzählt sie. „Ich hatte eine Angstattacke, wollte aber meinen Freunden, die auch Nova-Überlebende sind, nicht zeigen, dass ich in Panik bin, um sie nicht zu be­unruhigen.“

Für manche Überlebende kommen psychologische Angebote zu spät. Nova-Veranstalter Omri Sasa sagt, dass der israelische Staat nicht genug tue, um Therapieplätze bereitzustellen. „Der Regierung ist nur der Krieg wichtig“, sagt er.

Omer Hadad in seinem Friseursalon in Tel Aviv Foto: Nicholas Potter

Und das hat tragische Folgen. Bei einer Anhörung in der Knesset im Dezember sprach Dr. Tzvia Zeligman vom Tel Aviver Sourasky Medical Center, die zum Thema sexuelles Trauma arbeitet, von „vielen Suiziden“ unter Nova-Besucher*innen. Auf taz-Anfrage konnte sie allerdings nicht sagen, wie viele Fälle es genau gegeben hat. In einer weiteren Anhörung in der Knesset im April behauptete ein Nova-Besucher, dass sich seit dem 7. Oktober fast 50 Menschen das Leben genommen hätten. Das israelische Gesundheitsministerium widersprach dieser Zahl. „Uns sind nur wenige Fälle von Selbstmord bekannt. Wir müssen vorsichtig sein mit Zahlen, die der Öffentlichkeit Schaden zufügen könnten“, sagte Dr. Gilad Bodenheimer, zuständig für die Abteilung für psychische Gesundheit im Ministerium, bei der Anhörung. In einer Pressemitteilung des Ministeriums aus dem Januar heißt es: Für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2023 gebe es weniger Selbstmordfälle als im gleichen Zeitraum in den Jahren zuvor. Auf taz-Anfrage will das Ministerium jedoch keine genauen Zahlen geben.

Dass nicht offen über dieses sensible Thema gesprochen wird, hat auch Gründe. In Israel ist Suizid ein Tabu, im Judentum ist er nicht erlaubt. Eine Beamtin des israelischen Außenministeriums, die unter der Bedingung der Ano­nymität mit der taz sprach, geht von „Dutzenden“ Fällen unter Nova-Überlebenden aus, wollte aber keine konkrete Zahl nennen.

Omer Hadad, der Friseur aus Tel Aviv, kennt einen Fall aus erster Hand. Eine Frau, die er auf dem Festival ­kennenlernte, habe er auf einem Treffen für Nova-Überlebende wiedergesehen. Er habe sich gefreut, dass sie es auch in Sicherheit geschafft habe. „Aber es ging ihr nicht gut.“ Im April habe sie sich das Leben genommen, so Hadad.

Auch deshalb fühlt sich das Jahr nach dem 7. Oktober für Hadad und viele andere Überlebende an wie der ewige Tag danach. „Ich bin traurig“, sagt Hadad im September am Telefon. „Traurig, dass so viel Zeit vergangen ist und sich nichts geändert hat – es herrscht immer noch Krieg, die Geiseln sind immer noch nicht zurück.“

Zum ersten Jahrestag wolle er mit seinen Freunden, die den Angriff überlebt haben, denselben Weg jenes Tages zurücklegen: mit dem Auto die Regionalstraße 232 entlangfahren, die Straße des Todes, zum Nova-Gelände. Zum ersten Mal seit dem Massaker, seit dem 7. Oktober 2023. Seit dem Tag, der Israel für immer verändert hat.