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Netanjahu erhitzt die amerikanischen Gemüter

Mehr als 60 demokratische Abgeordnete boykottieren am Mittwoch die Rede des israelischen Premierministers. Auch Kamala Harris war nicht da – angeblich wegen Terminkonflikten

Von Hansjürgen Mai (Washington D.C.) und Leon Holly (Berlin)

Politisch, wütend und ohne Einsicht. Mit diesen drei Worten lässt sich die Rede des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu vor dem US-Kongress zusammenfassen. Er wurde am Mittwoch mit stehenden Ovationen im Kapitol empfangen. Doch die feierliche Atmosphäre konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Unterstützung für Netanjahu unter den Abgeordneten und Senatoren schwindet. Der Grund dafür ist das Vorgehen des israelischen Militärs in Gaza. Laut der dortigen Gesundheitsbehörde, die der Hamas untersteht, sind seit dem Beginn des Kriegs mehr als 39.000 Menschen getötet worden. Ein Großteil der Opfer sind Zivilisten, darunter auch Frauen und Kinder. Vor allem unter Demokraten ist der Rückhalt für Netanjahu und dessen Regierung in den vergangenen Monaten deshalb stark zurückgegangen.

Laut der Nachrichtenagentur ap boykottierten mehr als 60 demokratische Abgeordnete und Senatoren Netanjahus Rede. Und auch Vizepräsidentin Kamala Harris blieb der Veranstaltung fern. Die Demokratin Rashida Tlaib, die erste palästinensisch-amerikanische Abgeordnete, hielt während Netanjahus Ansprache eine Tafel mit den Worten „War Criminal“ (Kriegsverbrecher) auf der einen Seite und „Guilty of Genocide“ (Schuldig des Genozids) auf der anderen hoch. Sie brachte damit nicht nur die Gefühle vieler ihrer Parteigenossen zum Ausdruck, sondern auch die Meinung vieler US-Bürger.

Netanjahu skizzierte seine Vorstellung von einer Nachkriegsordnung im Gazastreifen. Netanjahus Vision ist ein entmilitarisierter und deradikalisierter Gazastreifen. Israel strebe „keine Umsiedlung“ des Gazastreifens an. „Aber für die absehbare Zukunft müssen wir dort die oberste Sicherheitskontrolle behalten, um das Wiederaufleben des Terrors zu verhindern und sicherzustellen, dass der Gazastreifen nie wieder eine Bedrohung für Israel darstellt“, sagte Netanjahu. Der solle eine zivile Verwaltung haben, an deren Spitze „Palästinenser stehen, die nicht versuchen, Israel zu zerstören“.

Während er im Kapitol sprach, kam es in der US-Hauptstadt zu Protesten. Tausende versammelten sich in der Nähe des Kapitols, um gegen die israelische Regierung, Netanjahu und den Krieg zu protestieren. Sie forderten einen sofortigen Waffenstillstand. Sie riefen die US-Regierung dazu auf, keine weiteren Waffen an Israel zu liefern. Sechs Angehörige von Geiseln, die im Sitzungssaal in gelben T-Shirts für einen Deal zur Freilassung ihrer Angehörigen protestierten, wurden kurzzeitig festgenommen.

Vor der Union Station, dem Hauptbahnhof der Stadt, wurden Statuen und Denkmäler mit Hamas-Parolen beschmiert und die US-Flagge mit der palästinensischen ersetzt. Auch das Sternenbanner wurde von den Demons­tranten in Brand gesteckt. Netanjahu richtete sich in seiner Rede direkt an diese Demonstranten: „Es ist unglaublich, aber viele Anti-Israel-Demonstranten entscheiden sich dafür, auf der Seite des Bösen zu stehen. Sie stehen auf der Seite von Hamas. Sie stehen auf der Seite von Vergewaltigern und Mördern.“

Netanjahu hat in den vergangenen Monaten nicht nur viel Rückhalt in den USA, sondern auch in Israel eingebüßt. Es wird erwartet, dass ein Ende des Kriegs in Gaza auch das Ende von Netanjahus Macht sein wird.Bedenken darüber, dass Netanjahu die Verhandlungen bis zu den US-Wahlen im November hinauszögern könnte, wurde von Regierungsmitgliedern zurückgewiesen. Es war bereits Netanjahus vierte Rede vor dem US-Kongress und die erste seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober, bei dem in Israel mehr als 1.200 Menschen getötet wurden. Im Gegensatz zu seinen vorherigen Auftritten hatte diese Rede einen deutlich politischen Unterton.

Netanjahu bedankte sich sowohl bei Präsident Joe Biden als auch bei dessen Vorgänger Donald Trump für deren Unterstützung Israels. Mit beiden wird er sich bei dieser Reise auch persönlich treffen, genauso wie mit Vizepräsidentin Kamala Harris, der voraussichtlichen Kandidatin der Demokraten für das Präsidentenamt. Laut dem Wall Street Journal will Harris dabei auf ein Ende des Krieges, die Freilassung der Geiseln und das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser pochen.

Netanjahus Vision ist ein „entmilitarisierter und deradikalisierter Gazastreifen“

Während der Rede Netanjahus fiel Harris dagegen durch ihre Abwesenheit auf. Zur Begründung schob die voraussichtliche Präsidentschaftskandidatin der Demokraten Terminkonflikte vor. Es wirkte jedoch so, als würde Harris angesichts der aktuellen Lage in Gaza keiner feierlichen Rede beiwohnen wollen. Die Biden-Regierung steht seit Monaten wegen ihrer finanziellen und militärischen Unterstützung für Israels verheerenden Krieg in Gaza unter Druck. Studierende auf den Campus-Protesten im ganzen Land verpassten dem Präsidenten etwa den Spitznamen „Genocide Joe“. Und Anfang Juli 2024 sagten 38 Prozent der Wähler:innen, dass sie aufgrund des Gazakriegs weniger wahrscheinlich für Biden stimmen werden, wie eine parteiübergreifende Umfrage der Century Foundation ergab. Besonders in Swing States wie Michigan mit einer großen arabischen Community könnte das Thema wahlentscheidend werden.

Biden ist dem Staat Israel seit Jahrzehnten eng verbunden. Mit der wahrscheinlichen Ernennung von Kamala Harris als Präsidentschaftskandidatin stellt sich die Frage, ob sie sich anders positionieren wird. In einer Rede vor der proisraelischen Lobbyorganisation Aipac im Jahr 2017 hatte Harris den Bund zwischen den USA und Israel als „unverbrüchlich“ bezeichnet. Im November sagte sie, die USA würden Israel keine Vorgaben machen, wie es den Krieg in Gaza führen solle. Zuletzt aber rügte Harris Israel öffentlich für die Blockade von Hilfsgütern und zeigte Verständnis für die Beweggründe der Campus-Proteste. Das klingt nicht unbedingt nach einem substanziellen Wandel im Vergleich zu Biden, kann sich aber noch ändern. Harris könnte mit einer härteren Haltung gegenüber Israel versuchen, vergraulte Wäh­le­r:in­nen zurückzugewinnen.

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