Machtwechsel in Großbritannien: Jubel in Rot

Nach einer historischen Wahlnacht herrscht in London Freude über Labours Wahlsieg. Nun beginnt die harte Arbeit.

Eine Wahlparty mit vielen Menschen und einem Bildschirm

Patystimmung bei der Partei: Auf der Wahlfete von „Labour List“ in London Foto: Daniel Zylberstzajn-Lewandowski

LONDON taz | Das uralte Pub „The Lexington“ zwischen den Londoner U-Bahnhöfen Angel und Kings Cross ist zum Bersten gefüllt. 300 bis 400 Menschen drängen sich in den prächtigen Räumlichkeiten, viele Wartende vor der Tür werden wohl nicht hineinkommen. Unter den großen Kronleuchtern über der Bar starren die Leute mit Biergläsern in der Hand auf eine große Leinwand.

Hier wird kein Fußballspiel übertragen, sondern hier wartet man voller Spannung auf die ersten Ergebnisse der Parlamentswahl vom 4. Juli. Überall im Vereinigten Königreich gibt es an diesem Donnerstagabend ähnliche Veranstaltungen. Die Atmosphäre ist geladen, so als warte man auf eine neue Mondlandung. Irgendjemand ruft „Fuck the Tories!“.

Als ein Bild von 10 Downing Street erscheint, kommt sogar abfälliges Geschrei aus allen Ecken, ebenso bei einer Aufnahme von Nigel Farage beim Eisessen. Ein Video von Keir Starmer erhält Beifall. Dabei hat die eigentliche Wahlnacht noch gar nicht begonnen.

Punkt 22 Uhr schließen die Wahllokale und in derselben Sekunde erscheint die gemeinsame Wahlprognose der TV-Sender auf der Großleinwand: 410 Sitze für Labour – eine gigantische absolute Mehrheit.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

„Endlich die Konservativen los“

Die weiteren Zahlen gehen im ohrenbetäubenden Jubel unter. „Nach vierzehn Jahren sind wir endlich die Konservativen los geworden“, erklärt die 29jährige Isabel Beaumour in einer Gruppe von Jubelnden schließlich, als man wieder ein Wort verstehen kann. Sie freut sich vor allem über das Ende der Tories, weniger über den Sieg Labours, sagt sie dazu.

In einer anderen Ecke spricht der 33-jährige Chris Norris von Hoffnung. Er hofft, dass jetzt eine Zeit anbricht, in der Menschen sich gegenseitig unterstützen.

Knapp fünf Kilometer quer durch die Stadt in der Nähe des Westlondoner Bahnhofs Paddington geht es im Kellerraum eines Pubs ruhiger zu. Von hier aus beobachtet „Black Politicos“, ein Netzwerk von schwarzen Politikexpert:innen, die Wahlnacht. Sie diskutieren eifrig miteinander. Andre, ein 26-jähriger Buchhalter aus Croydon im Süden Londons, spricht von einem begrüßenswerten Regierungswechsel. Aber ohne Überzeugung.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Andre ist zum Beispiel skeptisch, ob die Verstaatlichung mancher öffentlicher Dienste wie des Energiesektors ein Erfolgsrezept ist, und nennt das britische Gesundheitssystem als Beispiel, wo derartiges nicht gut laufe. Er selbst tendiert zu den Grünen, er arbeitet mit grünen Unternehmen.

Auch die 26-jährige Anwaltsgehilfin Sola Ajayi – sie betont, dass sie mit Menschenrechten arbeitet – ist keineswegs außer Rand und Band. Sie sagt, dass Labour nicht unbedingt die Interessen vieler Schwarzer treffe: sie verweist auf Palästina und auf die schwarze Labour-Abgeordneter Diane Abbott, die darum kämpfen musste, in ihrem Wahlkreis wieder antreten zu dürfen.

„Starmers dünne Labour-Versprechen haben uns verunsichert“, sagt sie. Das bedeute aber nicht, dass sie für die Tories sei, auch wenn da „People of Colour“ mit an der Macht waren. Auch Sola tendiert eher zu den Grünen. Aus taktischen Gründen hat sie in ihrem Wahlkreis Honchurch östlich von London dann doch Labour gewählt, um einen Sieg der Tories zu verhindern.

„Labour war jetzt die bessere Option im Vergleich zum Tory-Bürgerkrieg, mit Brexit, Liz Truss und Partygate“, glaubt demgegenüber David Omojomolo. Der 32-jährige Ökonom hofft auf Verbesserungen im Gesundheitswesen. Aber auch er findet, dass schwarze Wäh­le­r:in­nen größtenteils nicht ernst genug genommen werden. „Sie werden in einen Topf geworfen, als hätten alle die gleiche Meinung.“

Labour-Martinis zum Sonderpreis

Wieder in einer anderen Ecke der Londoner Innenstadt feiern in einer Bar die Gäste von „Labour List“, einem Magazin von und für Labour-Basisaktivisten. Zwischen roten Luftballons und ein paar britischen Papierfähnchen hängt auch hier eine große Leinwand. Die Nacht ist fortgeschritten, immer wieder trudeln neue Ergebnisse aus einzelnen Wahlkreisen ein. Der Tory-Absturz bestätigt sich, Labours Vorsprung ist ungebrochen. Die Stimmung ist bestens.

Unter Spiegelkugeln mit Disco-Beleuchtung tanzen Leute zu lauten Hits, an der Bar gibt es „Labour Martinis“ zum Sonderpreis. Jedes Mal, wenn wieder ein Wahlkreisergebnis mit einem Labour-Sieg an der Leinwand erscheint, stoppt die Musik, und man hört mit lautem Jubel die Übertragung der Zahlen.

Die Labour-Aktivisten Petra Underwood, Alaina Khan und Rouben Bouchard sind alle 21 Jahre alt und alle überglücklich. Dieser Sieg sei „die Stimme unserer Generation“, meinen sie. Aber waren Starmers Wahlversprechen nicht zu dünn? „Nein!“, glaubt Petra. „Boris Johnson versprach die Welt und gab den Menschen falsche Hoffnung. Ich glaube, dass die Labourstrategien ziemlich radikal sind, aber kommunikativ nicht deutlich genug gemacht werden.“

Es sei außerdem verdammt harte Arbeit gewesen, erzählt sie. Ein Jahr lang half sie im Nordlondoner Tory-Wahlkreis Finchley & Golders Green der Labourkandidatin Sarah Sackman freiwillig, „jedes Wochenende!“ wie sie betont. Es hat sich gelohnt, wie sich später heruasstellen wird: Der Sitz fällt in dieser Nacht an Labour.

Ein Mann und zwei Frauen lächeln in die Kamera

„Die Stimme unsrer Generation“: Petra Underwood, Alaina Khan und Rouben Bouchard sind alle 21 und überglücklich Foto: Daniel Zylbersztajn-Lewandowski

Rouben aus Bristol ist ebenfalls außer sich vor Begeisterung. Einzig der Erfolg von Reform UK dämmt die Freude für ihn etwas. Selbst einige seiner Freunde hätten Reform gewählt, gesteht er, „weil sie niemanden mehr trauten“, sagt er, als verstehe er es irgendwie.

Erinnerung an Tony Blairs Wahltriumph

Ein paar Tische weiter sitzt der 46-jährige Matt Willey. Er kann weiter zurückblicken als die drei 21-Jährigen. 2010 kandidierte er in Surrey Heath im Süden Englands, dem Wahlkreis des langjährigen Tory-Ministers Michael Gove, für Labour und wurde Dritter. Jetzt verlieren die Konservativen auch diesen Wahlkreis, wenngleich an die Liberaldemokraten. Im gesamten Südosten Englands ist von der einstigen Tory-Dominanz so gut wie nichts übriggeblieben.

„Es fühlt sich fast an wie 1997“, erinnert sich Matt Willey an Tony Blairs Wahltriumph, als er selbst noch ganz jung war und frisch für Labour arbeitete. Auch damals sei es darum gegangen, nach Jahren der Vernachlässigung zu beginnen, das Land wieder aufzubauen. „Die Tories mussten diesmal verlieren, denn sie müssen endlich ernsthaft darüber nachdenken, was gemäßigte rechte Politik ist“, findet er.

Für Labour geht es jetzt darum, bessere Gesundheitsversorgung und andere Dienstleistungen zu liefern, setzt Matt Willey fort und erläutert: „Das bedeutet nicht unbedingt, mehr Geld auszugeben, sondern man muss die Dinge einfach anders und effizienter machen. Und dafür sind jetzt die richtigen Leute an der Macht“. Er verweist auf die voraussichtliche zukünftige Finanzministerin Rachel Reeves und freut sich auf eine Regierung von „Erwachsenen“, der aber noch schwere Arbeit bevorstehe.

„Anders als 1997 steht heute viel mehr auf dem Spiel, wenn es die Regierung nicht richtig hinkriegt“, warnt Willey und ist dennoch froh, dass es endlich so weit ist. Da wird er wieder von Geschrei und Jubel unterbrochen. Wieder hat Labour den Tories einen wichtigen Wahlkreis abgerungen.

Die Scheinwerfer strahlen rotes Licht auf die Spielkugeln. Es fühlt sich nach mehr an als eine Mondlandung. Scheinbar ist eine riesige Delegation von roten Planeten mitten in Westminster am Ufer der Themse gelandet.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.

Ihren Kommentar hier eingeben