Frankreich nach der Wahl: Extrem erleichtert
In Paris feiern Tausende Menschen den Überraschungssieg des Linksbündnisses. Viele hoffen, dass jetzt alles anders wird in Frankreich
A n der Place de la République sollte es losgehen, martialische Aufrufe kursierten im Netz, die McDonald’s-Filiale und Banken hatten ihre Fassaden verbarrikadiert. In der Nacht würde sich hier die Wut über den befürchteten Sieg der extremen Rechten auf der Straße entladen, damit hatten alle gerechnet.
Am Sonntagabend aber gibt es statt Protest hier stundenlangen Jubel. Hunderte sind auf die Mariannen-Statue in der Mitte des Platzes geklettert, Tausende stehen zu ihren Füßen, schwenken Fahnen, brennen bengalische Feuer ab, skandieren „Tout le monde déteste les fachos“ – „Die ganze Welt hasst die Faschisten“.
Die ganze Welt ist es nicht, aber mehr als erwartet. Um 20 Uhr verbreiten sich die ersten Prognosen zur Stichwahl der Nationalversammlung. Der staatliche Fernsehsender France24 hatte so fest mit dem Sieg des rechtsextremen Rassemblement National gerechnet, dass in seiner Grafik zwar die korrekte Zahl der erwarteten Sitze – 132 bis 152 von insgesamt 577 – eingetragen ist. Der zugehörige Balken zeigte dem RN aber rund die Hälfte aller Mandate an.
Auch auf den Straßen können viele Menschen nicht fassen, was geschehen ist. Vor den Cafés in der Innenstadt boxen sie in die Luft, Passanten klatschen sich im Vorbeigehen ab, Autofahrer hupen, Halbwüchsige rasen auf lautlosen E-Scootern über die Fahrradstraßen und brüllen „Front Populaire“ – der Name des linken Bündnisses NFP. Zur Überraschung aller landet es auf Platz 1, mit gut einem Viertel der Stimmen, die dank des französischen Wahlsystems aber für ein Drittel aller Sitze reichen.
Die grüne Marine
Zur NFP gehört unter anderem die Partei La France Insoumise (Deutsch: Unbeugsames Frankreich) des Populisten Jean-Luc Mélenchon. Der hat Massen seiner Anhänger:innen zur mit Abstand größten Parteikundgebung am Sonntagabend im Norden der Innenstadt versammelt. Doch trotz seiner stabilen Fanbase ist Mélenchon in Frankreich zu umstritten, als dass er Marine Le Pen ernsthaft gefährlich werden könnte.
Bei Marine Tondelier ist das möglicherweise anders. Die Generalsekretärin der französische Grünen ist seit 15 Jahren in der Politik, wirklich aufgefallen ist sie aber vielen erst jetzt – als eines der Gesichter des in Rekordzeit gezimmerten Bündnisses NFP. Die 38-jährige Tondelier stammt aus der heruntergekommen Ex-Bergbaustadt Hénin-Beaumont im Norden des Landes, wo Marine Le Pen ihren Wahlkreis hat. Tondelier ist als Kritikerin der dortigen RN-Stadtverwaltung landesweit bekannt geworden.
In der kleinen Parteizentrale der Grünen im 10. Arrondissement hat Tondelier am Sonntag das erste Wort. Nach den Prognosen steigt sie im lindgrünen Blazer mit weißem Hemd und offenen Haar auf die kleine Bühne, sie will offenkundig ein Bild abgeben, an dem all die Diffamierungsversuche des NFP als „linksextrem“ durch RN, Republikaner und Macronisten abprallen.
Es sind mehr Reporter:innen als Parteimitglieder im Raum, Tondelier verkündet, dass „die Umwelt und das Volk“ heute gewonnen haben, und das bei einer Wahlbeteiligung, die es seit über 40 Jahren nicht mehr gegeben habe. „Unsere Nation in die Hände von Rechtsextremen zu geben war ganz klar keine Option für uns“, sagt sie. In weniger als vier Wochen sei der NFP gebildet, Wahlkampf gemacht worden. „Und jetzt werden wir regieren.“
Ruhe bewahren
Doch das wird schwierig. Denn ohne Stimmen von Macrons liberaler Ensemble-Fraktion kann eine mögliche NFP-Minderheitsregierung keine Gesetze beschließen. Und vieles, worauf sich die vier linken Parteien geeinigt haben – etwa die Abwicklung von Macrons Rentenreform – wird mit dieser kaum zu machen sein.
„Wir bewahren den Geist der letzten Tage und wir bewahren Ruhe“, sagt Tondelier. Man werde „entschieden“ an den eigenen Positionen festhalten. „Die Hoffnungen, die wir geweckt haben, dürfen nicht enttäuscht werden.“ Einen „Bruch, hin zur sozialen und ökologischen Gerechtigkeit“, werde die neue Regierung bringen.
Viele im Land glauben, dass Tondelier einer solchen Regierung angehören könne. Doch die Gefahr, durch einen Präsidenten Macron und ohne Parlamentsmehrheit sehr wohl Hoffnungen zu enttäuschen, ist groß.
„Wir reden hier nicht über Koalitionen“, sagt dazu Melissa Camara, eine afrofranzösische Feministin aus dem nordfranzösischen Lille, die jüngst für die Grünen ins EU-Parlament gewählt wurde. „Wir haben als NFP ein Wahlprogramm, und das wird die Basis einer künftigen Regierung sein“, sagt sie.
Was der RN will? Massenabschiebungen
Camara hat das NFP-Programm für die Grünen mit ausgehandelt. Wie es umzusetzen sein könnte, lässt auch sie offen. Aber vielleicht, so sagt sie, wird es Zeit für ein ganz neues System, ein „Ende der 5. Republik“: Ein neues Wahlrecht, ohne übermächtigen Präsidenten, mit starkem, landesweit repräsentativen Parlament, ohne die Winner-takes-it-all-Regel, von der die Linken diesmal so stark profitierten.
Doch all das ist heute Abend noch weit weg. Fahnenschwenkend ziehen Trupps der Grünen nach Tondeliers Rede ab Richtung Innenstadt.
In den Wochen vor der Wahl hatte sich die französische Variante des Sylter „Ausländer raus“-Songs im Netz verbreitet, ein Synthiepop-Ohrwurm mit dem Titel „Je partira pas“ –„Ich gehe nicht“. In vielen der Netz-Videos zu dem Song sind Videoschnipsel von Abschiebungen zu sehen. Eine Frauenstimme singt „Doch, doch, du gehst, schneller, als du glaubst. Mit deiner Fatma. Wenn Bardella gewinnt, gehst du nach Haus.“
Jordan Bardella war der RN-Spitzenkandidat, und auch wenn Le Pen sich von den Remigrationsfantasien der AfD distanziert hatte, steht die Partei für genau das: Massenabschiebungen.
„Wie die französische Revolution“
Und so war die Abstimmung an Sonntag auch eine Entscheidung darüber, wie sicher, wie heimisch sich Nichtweiße in Frankreich fühlen können. „Unsere Volksfront ist antirassistisch“ steht auf einem der größten Transparente, dass die Menge am Abend auf der Mariannen-Statue am Republique-Platz entrollt.
Viele der arabischstämmigen Demonstranten haben Palästina- oder Algerien-Fahnen mitgebracht, eine kleine Blaskapelle führt einen Zug an, mit einem „Keine Faschos im Viertel“-Transparent umkreist er den Platz. Partisanenlieder werden gespielt, Feuerwerke abgebrannt.
Ein junger Kameruner namens Moussa wird von einem englischen TV-Sender interviewt. „Warum seid ihr hier?“, fragt der Reporter. „Wir werden nie aufhören, gegen die extreme Rechte zu kämpfen, weil wir Gerechtigkeit wollen“, antwortet er. „Ich habe die Linke noch nie an der Macht gesehen, aber heute ist das anders.“
Ab 22 Uhr, der Platz ist noch voll, sperrt die Polizei nach und nach die Zugänge ab. Manche beginnen sich zu vermummen, es fliegen die ersten Tränengas-Granaten, auch Flaschen, ein paar Steine, Mülltonnen brennen, eine Barrikade. Zwei US-Touristen stehen in der Menge. „Als ob man mitten in der Französischen Revolution wäre“, sagt einer.
Zeichen für linken Aufbruch?
Kurz vor Mitternacht ist der gesamte Platz komplett eingenebelt mit Tränengas, dicke Schwaden ziehen in die benachbarten Straßen. Vor einer Reihe von Polizeibussen mit Blaulicht und schwerbewaffneten Polizisten, brüllen ein paar Jugendliche, strecken ihnen ihre Hintern entgegen. „Seid vorsichtig, sie haben noch eine Nacht an der Macht“, ruft eine junge Frau. Alle lachen.
Viele hier haben das Gefühl einen Trend gestoppt zu haben. Sie stellen das Wahlergebnis in eine Reihe mit den Wahlergebnissen in Polen, Spanien, Skandinavien, Großbritannien, wo die Linke Erfolge feiern konnte. Da liegt es nahe, die Wahl in Frankreich als weiteres Zeichen eines Linksrucks zu deuten, der auch Marine Le Pen den schon sicher geglaubten Weg zur Präsidentschaft 2027 verstellen kann.
Doch das verkennt, dass Le Pens RN mit rund 32 Prozent der abgegebenen Stimmen am Sonntag so stark abschnitt wie nie und der linke Wahlsieg allein durch die kluge strategische Nutzung des Wahlrechts zustande kam.
Schon bald nach den Wahlprognosen liest man im Netz, dass es „Verrat“ und die Garantie für eine Präsidentin Le Pen ab 2027 wäre, wenn der NFP sich mit den neoliberalen Macronisten zusammen tut, um einzelne Vorhaben durchzubringen. Doch welche Möglichkeiten bleiben dem Bündnis sonst?
Keine Naturkatastrophe
Marie Jay ist beigeordnete Bürgermeisterin für die kommunistische Partei PCF in Gentilly, einer Banlieue-Gemeinde im Süden von Paris. Sie hat aktiv Wahlkampf für den NFP gemacht. Am Morgen nach der Wahl sitzt sie im Baumwollblazer in ihrem Büro im Rathaus, die junge Frau ist für Bauen, Gleichstellung, Familie und Jugend zuständig.
„Die Linke hat ein bisschen Gelände gewonnen“, sagt sie zurückhaltend. Das Wahlergebnis zeige, dass die 32 Prozent Stimmen für Le Pen „keine Naturkatastrophe“ seien. Ob das RN künftig noch stärker werde, das hänge „davon ab, was die Linke in den nächsten drei Jahren macht“.
Für Jay ist klar, dass die Einigkeit des NFP der Schlüssel zum Erfolg war und bleiben wird. Das 2022 gegründete linke Vorgängerbündnis Nupes sei unter anderem wegen der unterschiedlichen Haltungen zur Palästinafrage „explodiert“. Doch nach dem Sieg des RN bei der EU-Wahl Anfang Juni sei klar gewesen, dass die Linke ihre Differenzen zurückstellen müsse, wenn sie eine Chance behalten wolle. „Allein wären wir weiter untergegangen,“ sagt Jay.
Nicht erst durch den linken Theoretiker Didier Eribon wurde der Befund populär, dass die Linke den Bezug zur Arbeiterklasse verloren habe und der RN davon lebe, dieses Vakuum zu füllen. In Gentilly ist es offenkundig anders. 50 Prozent der Einwohner:innen leben in Sozialwohnungen, die Stadt wählt traditionell links. Am Sonntag gingen hier knapp 15 Prozent an die Rechtsextremen, nicht mal die Hälfte des Landesdurchschnitts. Was macht die Linke hier anders?
Die neue Arbeiterklasse fährt Uber
„Wer die These vertritt, dass die Linke den Kontakt zu den Arbeitern verloren hat, hat eine überkommene Vorstellung von der Arbeiterklasse“, sagt Jay dazu. „Die denken immer nur an die Bergleute und Fabrikarbeiter.“ In den Banlieues aber lebe die neue Arbeiterklasse: „Uber-Fahrer, migrantische Putzkräfte, die vielen Menschen in den netzbasierten, prekären Plattform-Jobs, die über Apps angeheuert werden“.
Und dieses Milieu, sagt Jay, ließe sich sehr wohl mit guter Sozialpolitik erreichen. „Wir geben Geld dafür aus, um gute öffentliche Dienstleistunge für alle anzubieten.“ Bessere Gesundheitsleistungen etwa oder Möglichkeiten zur kostenlosen Kinderbetreuung vor und nach Schulbeginn.
Bürgermeister in Gentilly ist der parteilose, aber den Kommunisten nahe stehende maghrebinischstämmige Fatah Aggoune. Im Mai versuchten die Rechten seine Wahl per Gerichtsbeschluss anullieren zu lassen, scheiterten aber. Die Kommunalbeamten solidarisierten sich mit ihm.
Auch Aggoune verweist darauf, dass die Gemeinde soziale Leistungen anbietet, die über die staatlichen Mindeststandards hinausgehen. Das fördere den Zusammenhalt, sagt er. Durch die Nähe zur Paris sei eine Reihe von Großkonzernen auf dem Gemeindegebiet ansässig. „Die besteuern wir angemessen.“
Soziale Politik gegen rechte Narrative
Und so könne man Schulessen für nur 70 Cent für ärmere Familien anbieten. Es gebe stark subventionierte Ferienfreizeiten, weil sich „die Familien von vier von zehn Kindern im Land keinen Urlaub leisten können.“ Es gebe Künstler:innen, die auf Kosten der Gemeinde in die Schulen kommen. „Das gibt auch armen Menschen Zugang zu Kultur, es öffnet den Geist“, sagt Aggoune „Und natürlich ist das alles teuer. Aber es ist unsere politische Entscheidung, das dafür Nötige zu tun.“
Es gebe den Bewohner*innen der Stadt das „Gefühl, integriert zu sein“, sagt Marie Jay. „Und es verhindert, dass Menschen der Erzählung des RN glauben, die anderen nähmen ihnen etwas weg.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen