Juden und Muslime in Sarajevo: Noch sind die Türen offen
Ungefähr 800 Juden leben in Sarajevo im Frieden mit ihren muslimischen Nachbarn. Das Massaker der Hamas bleibt aber nicht ohne Folgen.
Auf dem linken Ufer des Miljackaflusses, der Sarajevo zerschneidet, liegt das jüdische Gemeindehaus mit der angeschlossenen Synagoge und dem Café – einem Treffpunkt für Juden und Nichtjuden in der Stadt. Auch jetzt steht die eiserne Tür offen, ist nicht verrammelt, wie Synagogen anderswo in Europa. Den erstaunten Blick des Besuchers bemerkend sagt der Vorsitzende der Gemeinde, der 80-jährige Jakob Finci, mit einladendem Lächeln: „Wir brauchen nach wie vor keinen Polizeischutz in Sarajevo.“
Die rund 800 Juden sind trotz des brutalen Krieges in Israel und Palästina in ihrer Stadt unbehelligt geblieben und das, obwohl mehr als 80 Prozent der Bewohner der Stadt Bosniaken, also Muslime sind, sagt er. Er freut sich gerade nach dem 7. Oktober über die Sorge von prominenten Bürgern für ihn und seine Gemeinde.
Die legendäre Altstadt von Sarajevo mit ihren Moscheen, Kirchen und Synagogen gilt seit Jahrhunderten als Ort der Toleranz zwischen diesen Weltreligionen. Die Osmanen verfügten schon 1463 Religionsfreiheit, als in Deutschland die Inquisition wütete und noch Jahrhunderte später Frauen als Hexen verbrannt wurden. Hier gab es bis 1941 weder Gettos noch Judenverfolgungen wie in West- und Osteuropa.
Die alte Synagoge in Sarajevo ist ein Museum, das die 500- jährige Geschichte der Juden in der Stadt reflektiert. Es wird gezeigt, wie die Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden und dann später die vom Habsburgerreich eingewanderten Aschkenasim Sarajevo mitgeprägt haben.
Gravierender Zivilisationsbruch
Hier begann 1941 aber auch das große Verbrechen. Nachdem deutsche Truppen Jugoslawien erobert hatten, mussten die meisten Juden der Stadt hier auf den Abtransport warten. Sie wurden in das von kroatischen Extremisten betriebene KZ Jasenovac gebracht. Das war ein für die Stadt gravierender Zivilisationsbruch, bis dahin lebten 12.000 Juden in Sarajevo und stellten über 20 Prozent der damaligen Bevölkerung.
Juden hatten also über Jahrhunderte ganz selbstverständlich zur Stadt gehört, teilen bis heute die Tradition und ihren kosmopolitischen Geist. Die sozialdemokratische Bürgermeisterin Benjamina Karić hat selbst jüdische Wurzeln und ist mit einem Bosniaken, also Muslim verheiratet. Sie verkörpert in ihrer Person diese Tradition.
Mit dem jetzigen Krieg in Israel/Palästina wird das traditionelle Zusammenleben zwischen Bosniaken (Muslimen) und Juden jedoch auf eine Probe gestellt. Vor allem jugendliche Bosniaken könnten leicht die gemeinsame Geschichte und Tradition ausblenden. Denn die Nachrichten vom Krieg in Gaza und vom Terror der Siedler im Westjordanland wühlen ihre Gefühle auf.
Seit dem 7. Oktober, dem brutalen Massaker der Hamas an Juden und der brutalen israelischen Reaktion, gab es zwei Demonstrationen pro Palästina in Sarajevo. Es kamen jeweils einige Tausend Menschen mit Palästinaflaggen und selbstgemalten Plakaten. Eine junge Frau zeigte erst nach Aufforderung, was auf ihrem eingerollten Plakat zu lesen war … vom Fluss bis zum Meer … Doch sie rollte es schnell wieder ein, diese Parole gab es in Sarajevo sonst nicht zu sehen. Es blieb alles sehr friedlich, obwohl die serbischen und kroatischen Medien aus Banja Luka und Mostar vor radikalen Muslimen gewarnt hatten, angeblich sollte eine Palästinensergruppe die Demonstrationen anleiten.
Klar für eine Zweistaatenlösung
Muhammed, 18-jähriger Palästinenser und Student der Internationalen Universität in Ilidža, stand bei der zweiten Demonstration Mitte November zusammen mit einer Gruppe von StudentInnen in der Menge. Sein Vater habe ihn über Jordanien nach Bosnien in Sicherheit gebracht. Von radikalen Parolen wie der auf dem Plakat hält er nichts, er sei klar für eine Zweistaatenlösung, erklärte er unter dem zustimmenden Nicken der Gruppe.
Aber die Informationen über die Lage der Menschen in Gaza und auch im Westjordanland seien schrecklich. „Wo sollen die Gazabewohner denn hin? Es gibt keinen sicheren Platz mehr für sie. Und will denn niemand den Terror der israelischen Siedler im Westjordanland stoppen?“
Auch die älteren Demonstrierenden sind nachdenklich. Vom Rathausplatz schweift der Blick nach oben, von wo die serbischen Artilleristen 1992 bis 1995 Hunderttausende Granaten auf die Stadt und auf das Gebäude der damaligen Bibliothek, dem jetzigen Rathaus, geschossen hatten. Wer das Inferno überlebte, weiß genau, wie sich die Menschen in Gaza unter dem Hagel der israelischen Granaten jetzt fühlen müssen.
Mitleiden zu können ist jedoch etwas anderes, als Hass zu spüren. Ahmed Burić hat mit vielen Opfern der Verbrechen der ethnischen Säuberungen gesprochen, kennt deren grausames Schicksal. Schon während des Krieges war er ein bekannter Journalist in der Stadt. Und er ist als Bürger ein Sarajevoer Urgestein.
Keine Racheaktion
„Wir in Sarajevo können gar nicht hassen“, erklärte er vor drei Wochen angesichts der friedlichen Demonstrationen gegen Israel. Nach dem Krieg habe es vonseiten der Opfer keine Racheaktion gegen die Angreifer und Mörder von damals gegeben.
Doch mit jedem Tag des Krieges in Gaza sind immer mehr Bilder zu sehen und auch Berichte zu lesen, die das brutale Vorgehen des israelischen Militärs und der Siedler dokumentieren. Wird der Gazakrieg auch in Sarajevo als Angriff Israels und seiner Verbündeten auf den Islam und die Muslime insgesamt verstanden? Den Krieg als Kulturkampf Islam – Westen zu deuten, wird zumindest immer populärer.
Dass auch gute Bekannte und Freunde aus der Zivilgesellschaft dem Westen, den USA, Europa und auch Deutschland Doppelmoral vorwerfen, ist ein ernstzunehmendes Warnzeichen. Auch die bisher gemäßigte muslimische Nationalpartei SDA, bis vor Kurzem noch proeuropäisch geprägt, scheint jetzt umzuschwenken. In den leicht zu manipulierenden sozialen Medien werden radikale islamistische Töne immer lauter.
Anonyme Hasskommentare treffen sogar jene, die wie der Direktor der Gedenkstätte in Potocari (Srebrenica), Emir Suljagic, in aller Welt überzeugend als Botschafter der muslimischen Opfer im letzten Krieg auftreten. 1995 wurden in Srebrenica über 8.000 Menschen von der serbischen Soldateska ermordet, „nur weil sie Muslime“ waren. Darunter waren sein Vater und Bruder.
Suljagic tritt für eine Erinnerungskultur ein, die umfassend ist und auch andere Opfergruppen einschließt. Er unterhält enge Kontakte zum jüdischen Weltkongress und will sich nicht von seinen Grundsätzen abbringen lassen. Aber natürlich erschüttern die Ereignisse in Gaza ihn und seine Mitstreiterinnen, die „Mütter von Srebrenica“.
Dass der jüdische Weltkongress, aber auch viele jüdische Persönlichkeiten und Intellektuelle wie Susan Sonntag in den USA, in Europa und in Israel während des Krieges 1992–95 für die Verteidiger Bosniens, also die Bosniaken und Nichtnationalisten, eingetreten sind, sich gegen die Angreifer positionierten, hat in Bosnien, aber auch in Serbien und Kroatien Spuren hinterlassen.
Mit dieser Haltung vieler Intellektueller ist es gelungen, in der Weltöffentlichkeit die Verbrechen in Bosnien anzuprangern und die Muslime Bosniens als Opfer anzusehen. In Serbien und Kroatien hingegen mussten sich viele wegen der Kriegsverbrechen verantworten. Das hat die Nationalisten in Serbien und Kroatien ziemlich gewurmt.
Nicht zu kaschieren war und blieb im jüdischen Gedächtnis haften: Dass die kroatischen Ustaschen im Zweiten Weltkrieg aus freien Stücken Zehntausende Juden, Serben und Roma ermordet haben. Und auch, dass das serbische, hitlertreue Regime von Milan Nedić die serbischen Juden nach Auschwitz deportieren ließ.
In Kroatien und Serbien haben führende Parteien und Kräfte in den letzten Jahrzehnten versucht, einen Mantel des Schweigens und Vergessens über diese Tatsachen zu breiten. Doch jetzt versuchen die Nationalisten beider Länder, mit antiislamischen Positionen den bosnischen Islam als gefährlich islamistisch darzustellen und die Juden der Welt auf ihre Seite zu ziehen.
Seit einigen Jahren kann man beobachten, wie serbische und kroatische nationalistische Politiker und Extremisten sehr israelfreundlich geworden sind. So fuhren der kroatische wie der serbische Nationalistenführer in Bosnien in den letzten Jahren nach Israel und besuchten die Gedenkstätte Yad Vashem.
Der serbisch-bosnische Nationalist und Präsident der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, erklärte sogar, Serben und Juden seien die hauptsächlichen Opfernationen in Europa. Und auch sein Kollege, der kroatische Nationalistenführer Dragan Čović, malt in Bosnien den islamistischen Teufel an die Wand, ohne zu erwähnen, dass seine Partei HDZ in Westmostar Straßennamen nach bekannten Ustascha-Führern benannt hat, die an der Judenvernichtung im Zweiten Weltkrieg mitgewirkt haben.
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