Fusionsküche in Amsterdam: Tapas auf Indonesisch
Wer in Amsterdam eine Rijsttafel bestellt, bekommt bis zu 20 Gerichte in Schälchen serviert. Ein Festmahl, das auf die Kolonialzeit zurückgeht.
Alles runter vom Tisch, fordert die Kellnerin, Handys, Kamera, Kerzen. Nur die schmalen Servietten mit dem Besteck darauf und die Getränke dürfen bleiben. Dann stellt sie lange, mit Teelichtern beheizte Wärmeplatten in die Tischmitte, vier Stück, dicht an dicht. Spezialanfertigungen wie es scheint, denn links und rechts bleibt kein Zentimeter frei. Gut, dass wir den ganzen Tag durch Amsterdam marschiert sind und bis auf ein paar Snacks kaum etwas gegessen haben. Denn dieses Mahl, das ahnen wir, wird üppig und ausschweifend.
Empfohlener externer Inhalt
Wer sich eine Rijsttafel gönnt, braucht Hunger und Zeit. Wortwörtlich übersetzt bedeutet das Wort „Reistisch“, doch passen die Bilder, die mit dem deutschen Wort Tafel einhergehen, auch ziemlich gut: ein festlicher Tisch, reich gedeckt – mit stundenlang geschmortem Rindfleisch, knusprig gebackenen Bananenpuffern, scharfem Tempeh, cremig gekochter Aubergine … aus bis zu 20 Gerichten (pro Person!) kann so ein indonesisches Festmahl bestehen.
Kulinarisch gesehen ist Amsterdam vor allem für Frittiertes, Haschgebäck und die omnipräsenten, mit bunten Goudalaiben dekorierten Käsegeschäfte berühmt. Welch große Rolle die indonesische Küche spielt, weiß im Ausland hingegen kaum jemand. Allgegenwärtig ist etwa die erdnussige Satésoße: Beim Brunch auf dem Markt bekamen wir sie großzügig auf Hähnchenspieße geschmiert, man isst sie zu Pommes, selbst in der Fast-Food-Kette Febo – Spezialität: Frittiertes aus dem Automaten – gibt es mit „würzigem Saté-Ragout“ gefüllte Kroketten. Und auch indonesische Restaurants gibt es in Amsterdam zuhauf, während sie in den meisten anderen europäischen Metropolen ein Nischendasein fristen.
Die Gründe dafür sind weniger schön. Mehr als 300 Jahre lang haben die Niederlande die Inseln im malaiischen Archipel, die das heutige Indonesien bilden, beherrscht und ausgebeutet. Erst 1949 und nach einem mehrjährigen Krieg erkannte die Kolonialmacht die Unabhängigkeit des neu gegründeten Staates an. In den unruhigen Folgejahren kamen viele Tausend Menschen aus Indonesien in die Niederlande, allen voran niederländisch-indonesische Rückwanderer und Molukker, die in der niederländischen Kolonialarmee gedient hatten. Nicht wenige eröffneten Lebensmittelgeschäfte, in denen es etwa Gewürzmischungen für Beef Rendang, Sambal und Krabbenchips gab. Oder eben Restaurants.
Agus Abdullah kam vor rund 20 Jahren nach Amsterdam. Der Liebe wegen. Sein Mann stammt aus den Niederlanden, er machte Urlaub auf Abdullahs Heimatinsel Java. Seit über sechs Jahren kocht der 51-Jährige Abdullah im Tujuh Maret, das Restaurant liegt in einer kleinen Straße südlich der Keizersgracht in einem dieser typischen schmalen Amsterdamer Häuser: Der Gastraum ist langgezogen und eng bestuhlt. Der Platz ist knapp. Um aufzustehen, muss man erst den Tisch vorrücken, sich durch den schmalen Spalt navigieren und dabei achtgeben, nicht die Teller der bis zum Rand beladenen anderen Tische herunter zu fegen.
Denn fast jeder hier isst sich durch eine Rijsttafel. Und wie in den meisten Lokalen braucht man dafür mindestens einen Esspartner. Wir sind zu viert. „Je größer die Gruppe, desto besser“, sagt Koch Abdullah. Sein kleines Reich liegt im hinteren Teil des Restaurants: ein paar Quadratmeter nur, alles blitzblank. Die drei Gaskocher sind zur Seite geräumt, der wannengroße Wok hängt geputzt an der Wand. Ein Großteil der Speisen, sagt er, werde vorgekocht. Er zieht die Schubladen auf: Süß-saures Hähnchencurry, spicy Aubergine, geschmortes Rind in Sojasoße. „Die Gerichte brauchen Zeit, vieles schmeckt erst nach ein paar Stunden oder am nächsten Tag richtig gut.“
Die Rijsttafel ist in ihrer heutigen Form – und Form ist hier wörtlich zu nehmen – eine kolonial geprägte Fusionsküche: Die servierten Gerichte sind indonesisch, das Konzept der Mahlzeit aber ist eine Erfindung der niederländischen Kolonisten. Ein europäisches Festbankett in indonesischem Gewand.
Ernie Witt, Restaurantbetreiber
Als Vorbild diente das in West-Sumatra verbreitete Nasi Padang, ein Essen, das aus einer großen Schüssel Reis und diversen vegetarischen und fleischigen Beilagen besteht. Angetrieben vom Wunsch, den kulinarischen Reichtum ihrer Kolonie zu erkunden und – wichtiger noch – europäischen Besuchern zu imponieren, begannen die niederländischen Gesandten, Gerichte aus sämtlichen Regionen zusammenzutragen. Über 7.000 bewohnte Inseln umfasst Indonesien, eine jede mit eigenen kulinarischen Traditionen. Auf der Rijsttafel kam alles zusammen: Tempeh aus Java, Gulaicurry aus West-Sumatra, Ikan Ritja Ritja (Fisch in Tomatensoße) von den Molukken, lauwarmer Gado-Gado-Salat aus Bali. Ein Best-of der indonesischen Küche.
Serviert wurden die Speisen zu großen Festessen, in Hotels und Restaurants, die sich auf die Geschmäcker der westlichen Kolonialherren ausgerichtet hatten. Eine der beeindruckendsten Rijsttafeln soll es im pompösen Hotel Des Indes in der heutigen Hauptstadt Jakarta gegeben haben: Bis zu 60 verschiedene Gerichte wurden dort jeden Sonntag serviert.
Nach der Unabhängigkeit verschwand die Rijsttafel aus den meisten Restaurants, erinnerte sie doch an viele Hundert Jahre Repression und Unfreiheit. In den Niederlanden aber, vor allem in der Hauptstadt Amsterdam, lebte das Konzept fort. Denn viele der indonesischen Restaurantbetreiber besannen sich auf das bei den Niederländern so beliebte Buffet.
Was genau serviert wird, hänge vom jeweiligen Koch ab, sagt Ernie Witt, der das Tujuh Maret mit zwei Freunden leitet. „Die Eltern meines Geschäftspartners kamen in den 60er-Jahren nach Amsterdam.“ Koch Agus Abdullah zeigt auf die beiden Schwarz-Weiß-Porträts, die über der Theke hängen. „Sie haben hier früher gekocht.“
Auf Abdullahs Rijsttafel finden sich Einflüsse seiner Heimatinsel Java. Grundsätzlich, so Ernie Witt, gilt: „Es muss scharf sein und süß, cremig und knusprig, es muss Fleisch und vegetarische Gerichte geben.“ Eine Vielzahl an Aromen, Farben und Gerüchen. Lediglich im Schärfegrad seien die Speisen an den hiesigen Gaumen angepasst. Mild, medium und spicy stehen zur Auswahl. Sehr scharf? „European spicy“, beruhigt Witt. Er selbst – „Typ Naschkatze“ – isst am liebsten Daging Smoor, lange geschmortes, leicht süßliches Rindfleisch. „Könnt ihr auch gleich probieren.“
Kurze Zeit später kommt die Kellnerin mit den ersten Platten an unseren Tisch. Am Ende stehen 32 Schälchen vor uns, außerdem gebratene Nudeln und dreierlei Variationen des namensgebenden Rijst: weißer Jasminreis. Kurkuma-gelber, in Kokosmilch gekochter. Sowie gebratener, der mit so vielen Gewürzen versetzt ist, dass er selbst pur köstlich schmeckt. Die Erklärung, die uns die Kellnerin zu den Speisen gibt, ist lieb gemeint, aber eigentlich nutzlos. Die Namen schwirren umher: Adam Opor, Hähnchen in Kokossoße, Spicy Tempeh Blado, Tofu-Saté, Emping-Cracker … schneller als man mithören, geschweige denn -schreiben kann. Ein Tipp noch: „Startet links und esst euch nach rechts durch, denn es wird nach und nach schärfer.“
Auf den Tellern mischen sich dunkle Soßen, kross gebratenes Tempeh und Gemüsecurry. „Hast du schon das Rind probiert?“ „Was hältst du von den marinierten Eiern?“ „Gibst du mir den Kokosreis rüber?“ Tapas auf Indonesisch, ein ständiges Rumreichen und Durchkosten. Irgendwann sind fast alle Schälchen leer, wir glücklich, aber auch sehr satt. Es dauert noch eine Weile, bis wir uns aus dem Post-Food-Koma aufraffen und das Lokal verlassen. Fast drei Stunden waren wir dort.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“