Prozessbeginn am Montag in Kiel: Versuchter Totschlag mit dem Pick-up
Drei Jahre ist der Angriff auf AfD-Gegner:innen in Henstedt-Ulzburg her. Noch immer leiden die Opfer an den Folgen der Attacke.
Unmittelbar nach der Tat an einem Samstag im Oktober 2020 schien sich die Situation anders verhalten zu haben, glaubte man der Pressemitteilung der Polizei: „Demonstranten der rechten und linken Szene gerieten außerhalb des Veranstaltungsgeländes aneinander. Dabei wurde im Rahmen eines Verkehrsunfalls eine Person der linken Szene schwer verletzt.“ Erst als Betroffene des Angriffs sich kurz darauf an die taz wandten, veränderte sich die Einordnung der Ermittlungsbehörden.
„Ich dachte, ich sehe nicht richtig“, berichtet einer der Betroffenen der taz anlässlich des Prozesses erneut. Er hatte an dem frühen Abend des 17. Oktobers 2020 den Fahrer zuvor mit weiteren Besuchern der AfD-Veranstaltung an sich vorbeigehen sehen, nachdem der ehemalige AfD-Bundessprecher Jörg Meuthen im Bürgerhaus aufgetreten war. Der Betroffene erinnert sich, dass zwei der an ihm Vorbeigehenden in einen Pick-up stiegen, losfuhren und auf den Gehweg bogen. „Der Fahrer gab Vollgas und raste auf uns zu“, sagt der Betroffene.
S. soll am Steuer des 3,5 Tonnen schweren Fahrzeug gesessen haben und den Wagen auf der kurzen Distanz zu dem Betroffenen und einer weiteren Person beschleunigt haben. „Er traf uns mit der Motorhaube. Wir wurden weggeschleudert“, sagte der heute 47-Jährige. Beide erlitten Prellungen und Schürfungen am Körper. Sein Begleiter wurde zudem am Kopf verletzt. Er sah noch, wie das Auto auf dem Gehweg weiterraste und eine Frau traf.
Erinnerungen an die Tat belasten Opfer
Bis heute leidet der Betroffene an den Verletzungen. Die Schmerzen im Rücken seien so stark, dass er seit dem Angriff nicht mehr freiberuflich in der Kinder- und Jugendarbeit tätig sein kann. „Ich stehe vor der Frühverrentung“, so der Betroffene und somit vor auch „vor finanziellen Problemen“.
Die angefahrene Frau hat noch immer mit den Folgen der Tat zu kämpfen. „Ich war ein Jahr in Therapie“, sagt die 24-Jährige. „Das Letzte, was ich gesehen hatte, war das auf uns zukommende Auto“, erzählt sie. „Ich rannte, doch als ich wegspringen wollte, traf mich der Wagen.“ Kurz sei sie bewusstlos gewesen. Sie habe „von Kopf bis Fuß“ Prellungen und Hautabschürfungen erlitten, musste im Krankenhaus behandelt werden.
Ein Betroffener erinnerte auch, dass eine Polizistin vor Ort gesagt habe, dass die Frau hätte tot sein können. In der Pressemitteilung fehlte aber genau diese Darstellung eines gezielten, potenziell tödlichen Angriffs mit einem Fahrzeug. Das polizeiliche Narrativ übernahmen berichtende Medien daraufhin einfach.
Diese falsche Einordnung hätte sie getroffen, sagt die Betroffene: „Das war ein doppelter Schlag.“ Für sie sei das besonders hart gewesen, weil sie als Schwarze Frau in der weißen Mehrheitsgesellschaft sich ohnehin schon immer „doppelt so häufig beweisen musste“. Je näher der Prozess rückt, desto mehr spüre sie, wie die Tat sie noch immer psychisch belastet: „Wenn ich ‚AfD‘ lese oder höre, triggert mich das schon.“ Am Montag will sie als Nebenklägerin im Verfahren auftreten.
Das linke Bündnis „Tatort Henstedt-Ulzburg“ hat die Betroffenen in den vergangenen Jahren begleitet, Aktionen und Proteste organisiert. Lange Zeit nach der Tat beklagte es die fehlende Anklage, dann die ausbleibende Prozesseröffnung. Kurios mutet die lange Dauer zwischen Tat und Prozessauftakt schließlich an, wo doch die Polizei noch vor Ort den mutmaßlichen Täter festsetzte. Zur Tatzeit unterhielt Sch., der aus einem kleinen Dorf im Kreis Segeberg kommt, verschiedene rechtsextreme Verbindungen.
Die Verzögerung sollen durch Umstrukturierung bei der Staatsanwaltschaft und dem Gericht zustande gekommen sein. Der Rechtsbeistand von S. wechselte auch mehrmals, sagt Alexander Hoffmann, Rechtsanwalt von Nebenklägern.
Am vergangenen Samstag protestieren in der schleswig-holsteinischen Stadt etwa 200 Personen unter dem Motto „Henstedt-Ulzburg war kein Unfall“. Vom Prozess erhoffen sich die Betroffene eins ganz besonders: „Die Einordnung der Tat als rechtsextremer Angriff.“
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