Studie zu Polizeigewalt: Weshalb Fälle ungeklärt bleiben

Noch immer gibt es kaum Zahlen zur Polizeigewalt. Ein Team um den Kriminologen Singelnstein forschte dazu seit 2018 und legt nun einen Bericht vor.

Ein Teilnehmer einer Kundgebung des Bündnis Köln gegen Rechts gegen Polizeigewalt trägt ein Plakat mit der Aufschrift "Wer/was kontrolliert die Polizei"

Ein Teilnehmer einer Kundgebung in Köln gegen Polizeigewalt trägt ein Plakat mit der Aufschrift „Wer/was kontrolliert die Polizei“ Foto: Henning Kaiser/dpa

BERLIN taz | Es bleibt ein Feld, das von erhitzten Debatten bestimmt wird – und von wenig Empirie: Gewalt von Polizist:innen. Nun legte ein unabhängiges For­sche­r:in­nen­team um den Frankfurter Kriminologen Tobias Singelnstein dazu umfassende Zahlen vor: Demnach herrscht weiterhin ein großes Dunkelfeld bei Polizeigewalt. Und die strafrechtlichen Konsequenzen bleiben minimal.

Bereits seit 2018 untersucht das Team um Singelnstein in einem Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“. Zweimal wurden dazu bereits Zwischenberichte vorgelegt. Nun folgen die finalen Befunde in einem 500 Seiten starken Buch: „Gewalt im Amt“.

Basis ist eine Onlinebefragung von mehr als 3.300 Personen, die angaben, Polizeigewalt erfahren zu haben. Dazu kamen 60 qualitative Interviews mit Polizist:innen, Richter:innen, Staatsanwält:innen, Rechts­an­wäl­t:in­nen und Opferberatungsstellen. Die Studie definiert Polizeigewalt als Handlungen, „die aus der Perspektive der sie bewertenden Personen die Grenzen des Akzeptablen überschritten“ – was nicht zwingend rechtswidrige Gewalt bedeuten muss.

Die meisten Betroffenen – 55 Prozent – berichteten, Polizeigewalt bei Demonstrationen erlebt zu haben, ein Viertel bei Fußballspielen. Die anderen Fälle fanden etwa bei Personen- oder Verkehrskontrollen statt. Am häufigsten wurden nach eigener Auskunft junge Männer Opfer von Polizeigewalt – im Schnitt 25,9 Jahre alt. Laut Studie unterliegen dabei marginalisierte Gruppen wie „rassifizierte Personen“ oder Wohnungslose einem „besonderen Diskriminierungsrisiko“.

Unterschiedliche Maßstäbe für Polizeigewalt

19 Prozent der Betroffenen berichteten von schweren Verletzungen wie Knochenbrüchen. Bei den psychischen Folgen wurden „Wut und Angst vor der Polizei“ benannt oder das Meiden bestimmter Orte, nachdem es zu der Polizeigewalt gekommen war.

Zur Ursache der Gewalt erklärte ein knappes Fünftel der Betroffenen, dass das Nichtbefolgen von Anweisungen zur Eskalation geführt habe – was teils auch bloß das Nachfragen nach einem Dienstausweis oder nach der Rechtsgrundlage der Maßnahme bedeutet habe. Insgesamt beklagten viele Betroffene, für sie seien die Polizeimaßnahmen nicht transparent und nachvollziehbar gewesen, bevor es zur Gewalt kam.

Befragte Po­li­zis­t:in­nen erklärten ihre Gewaltanwendung dagegen vielfach damit, einen Kontrollverlust vermeiden zu wollen. Auch Zeitdruck oder mangelndes Personal, woraus Überforderung folge, seien Gründe gewesen.

Die Studie spricht von verschiedenen normativen Maßstäben, die an Polizeigewalt angelegt werden. Für die Betroffenen seien neben der Rechtsmäßigkeit die Legitimität der Gewalt zentral. Nur ein Fünftel der Befragten kritisierte den ursprünglichen Polizeieinsatz an sich. Für die Polizei dagegen zählten bei der Gewaltanwendung, die ihnen in bestimmten Situationen als „unmittelbarer Zwang“ erlaubt ist, die Effizienz ihrer Maßnahmen.

Der Großteil der Fälle von Polizeigewalt bleibt derweil offenbar öffentlich unbekannt. So gab es laut Statistischem Bundesamt 2021 insgesamt 2.790 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen rechtswidriger Gewaltanwendung. Nur in 80 Fällen erfolgten dabei auch Anklagen wegen Körperverletzung im Amt – in zwei Prozent der Fälle also. Zum Vergleich: Durchschnittlich wird bei 22 Prozent aller Ermittlungsverfahren Anklage erhoben. 27 der 80 angeklagten Körperverletzungen im Amt endeten mit Verurteilungen, 25 mit Freisprüchen – beim Rest wurden die Verfahren eingestellt, mit oder ohne Geldstrafe.

Die Studie gibt auch für die geringe strafrechtliche Aufklärung Gründe an. So könnten vielfach übergriffige Po­li­zis­t:in­nen nicht identifiziert werden. Auch würden Po­li­zis­t:in­nen sehr selten ihre Kol­le­g:in­nen beschuldigen und zugleich vor Gericht als besonders glaubwürdig gelten. Zudem herrsche, wegen der alltäglichen Kooperation, zwischen Justiz und Polizei ein „institutionelles Näheverhältnis“, das einen unvoreingenommenen Blick erschwere.

Große Definitionsmacht der Polizei

Auch von den befragten Betroffenen in der Studie erklärten nur 14 Prozent, dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe. Nur knapp jede zehnte betroffene Person stellte von sich aus eine Anzeige. Die anderen verwiesen auf mangelnde Erfolgsaussichten einer solchen Anzeige, fehlende Beweismittel oder die Sorge vor einer Gegenanzeige. Auf Polizeiseite wiederum konstatiert die Studie hohe Hürden, dass Polizeibeamte Gewalt von Kol­le­g:in­nen zu einer Anzeige bringen. Die For­sche­r:in­nen gehen deshalb von einem „erheblichen Dunkelfeld“ aus.

Die Studie zeigt, dass die Polizei nach den Gewaltvorfällen eine privilegierte Definitionsmacht hat. Dadurch, dass der Polizei allgemein eine hohe Glaubwürdigkeit attestiert werde, bestimme sie über Pressemeldungen nach den Vorfällen über deren öffentliche Deutung. Polizeigewalt werde damit, so die Studie, „strukturell einer Infragestellung entzogen“ – und Betroffene der Gewalt kämen damit kaum zu ihrem Recht.

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