Körperverletzung im Amt: Mit anonymer Faust
Verfahren zu Polizeigewalt werden fast immer eingestellt, heißt es in einer neuen Studie. Meist, weil die Beamt*innen nicht identifizierbar waren.
Eine neue Studie kommt nun zum Schluss, dass das Dunkelfeld “mindestens fünfmal so groß ist wie das Hellfeld“. Grundlage des Zwischenberichts sind 3.375 Berichte von Betroffenen aus allen Gemeindegrößen: vom Dorf bis zur Großstadt mit über 500.000 Einwohner*innen.
Es ist die bislang größte Untersuchung zu Polizeigewalt im deutschsprachigen Raum: Seit 2018 untersucht das Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“ unter Leitung von Kriminologie-Professor Tobias Singelnstein an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) körperliche Gewalt durch Polizist*innen, die Betroffene als unverhältnismäßig bewerten.
Bereits bekannt war, dass jährlich über 2.000 Anzeigen gegen Polizist*innen eingehen. Während Staatsanwaltschaften durchschnittlich in etwa 20 Prozent aller Ermittlungen Anklage erheben, sieht es hier anders aus: Weniger als 2 Prozent der Anzeigen führen zu einer Anklage. Weniger als 1 Prozent endet mit einer Verurteilung.
Grundlos schnell eskaliert
Die RUB-Studie untersucht nun, in welchen Situationen es zu wahrgenommener Polizeigewalt kommt und welche Folgen sie für Betroffene hat. Ferner geht es darum, wieso Anzeigen meist ausbleiben und Staatsanwaltschaften fast alle Verfahren einstellen. Die Befragten beteiligten sich online: Sie sind überwiegend männlich, zur Zeit des Vorfalls durchschnittlich 26 Jahre alt und hochgebildet (Fach- oder Hochschulreife). 16 Prozent haben einen Migrationshintergrund.
Da die Auswahl der Befragten nicht zufällig erfolgte, ist die Stichprobe nicht repräsentativ. Trotzdem ließen sich Schlussfolgerungen für die Gesamtsituation ziehen, schreiben die Autor*innen. “Die Befragten schilderten sehr vielfältige Situationen […] Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass rechtswidrige polizeiliche Gewaltausübungen prinzipiell in allen Einsatzsituationen vorkommen können.“
Drei Situationen nennen Befragte besonders häufig: Demonstrationen und politische Aktionen (55 Prozent), Fußballspiele und andere Großveranstaltungen (25 Prozent) sowie Einsätze außerhalb von Großveranstaltungen (20 Prozent), beispielsweise Verkehrskontrollen. Ein erheblicher Anteil der Befragten sei zunächst unbeteiligt gewesen, habe den Polizeieinsatz ursprünglich nur beobachtet.
Etwa ein Drittel der Betroffenen schildert, für sie sei kein Grund ersichtlich gewesen, warum sich Handlungen der Polizei überhaupt gegen sie richteten. Über die Hälfte berichtet schnelle Eskalation: dass keine zwei Minuten vergingen zwischen dem ersten Kontakt bis zur Gewaltanwendung.
Ohnmachtsgefühle
Bei den körperlichen Folgen dominieren leichtere bis mittelschwere Verletzungen, wie Prellungen und Blutergüsse. Knapp 20 Prozent der Befragten geben an, schwere Verletzungen erlitten zu haben, wie Knochenbrüche, schwere Kopf- und innere Verletzungen. Manche berichten von bleibenden Schäden (4 Prozent).
Von psychischen Folgen berichten über 80 Prozent, insbesondere “Wut, Angst oder Unwohlsein beim Anblick der Polizei“. Über die Hälfte sagt, sie meide ähnliche Situationen. Auch von größerer Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, Schlafstörungen und Freudlosigkeit berichten Betroffene. Etwa ein Drittel hätte aufgrund körperlicher Folgen ärztliche Hilfe aufgesucht, von psychologischer Hilfe berichten knapp 10 Prozent.
Anzeige erstatteten nur 9 Prozent. Viele von ihnen sagen, dass sie weitere Fälle unrechtmäßiger Gewalt verhindern wollten. Betroffene, die nicht anzeigten, begründeten das dagegen mit dem Gefühl, eh keine Chance zu haben. “Viele nennen Angst vor einer Gegenanzeige, das Gefühl, dass ihnen niemand glaubt, und die Nichtidenzifizierbarkeit der Beamt*innen“, sagt Singelnstein der taz.
Tobias Singelnstein, Kriminologe
Tatsächlich hätten Staatsanwaltschaften fast alle abgeschlossenen Verfahren der Betroffenen ohne Anklage eingestellt (93 Prozent). Häufiger Grund auch hier: Nichtidentifizierbarkeit. Dass die ein derart zentrales Problem sei, habe er nicht erwartet, sagt Singelnstein. Aber: „Es ließe sich einfach lösen, durch Kennzeichnungspflicht. Flächendeckend, nicht nur in einigen Bundesländern.“
Auch brauche es eine separate Stelle, an die Betroffene sich wenden können. “Die Polizei wird solche Probleme haben, solange Gewalteinsatz zu ihren Aufgaben gehört. Sie ist eine Institution mit über 200.000 Menschen: Natürlich gibt es Beamt*innen, die ihre Autorität für Misshandlungen missbrauchen. Die Frage ist vor allem, wie die Polizei mit diesem Problem umgeht.“ Das Forschungsprojekt arbeitet auch mit Polizist*innen und ist bis 2020 geplant.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier