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Debatte um Paragraf 218Bis zur Geburt oder gar nicht

Eiken Bruhn
Kommentar von Eiken Bruhn

Wer sachlich auf die Debatte guckt, kommt zum Schluss: Abtreibungen auf Wunsch der Schwangeren müssen ganz verboten – oder komplett erlaubt werden.

Der Paragraph 218 bisher zwischen zwischen Abbrüchen vor und nach der 12. Woche Foto: Heike Lyding/imago

D er Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt, soll abgeschafft werden. Das wollen SPD und Grüne, die FDP ist strikt dagegen. Einigen konnte sich die Ampel deshalb nur auf eine Kommission, die eine Regelung außerhalb des Strafgesetzes prüfen soll. Vor Ostern, das hat Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) am Freitag gesagt, werde diese ihre Arbeit aufnehmen.

Diese Kommission muss sich nun auch mit einem Thema beschäftigen, das im öffentlichen Diskurs bislang fehlt. Denn darin geht es nur um Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche nach Empfängnis*, die 96,7 Prozent aller Abbrüche ausmachen. Dabei sind die vom Paragrafen 218 verursachten Versorgungslücken nach diesem Zeitpunkt sehr viel größer.

Geg­ne­r:in­nen eines liberalen Abtreibungsrechts werfen SPD und Grünen zwar vor, die Entscheidung über Schwangerschaftsabbrüche „bis zum letzten Tag“ vor der Geburt Frauen selbst überlassen zu wollen. So die rechtspolitische Sprecherin der FDP, Katrin Helling-Plahr, in einer Bundestagsdebatte im März 2021 zu einem Antrag der Linken, der von SPD und Grünen unterstützt worden war. Darin geht es aber lediglich um die Entkriminalisierung von Abtreibungen. Zu späten Abbrüchen äußern sich die beiden Parteien nicht. Erst recht nicht über die nach der 21. Woche, wenn die Föten mit medizinischer Hilfe außerhalb des Mutterleibs überlebensfähig wären und deshalb vor der Geburt mit einer Kaliumchloridspritze ins Herz getötet werden.

Über solche Fetozide redet niemand gern, Wahlen gewinnt man damit nicht. Als 2009 das Gesetz zu Spätabbrüchen verschärft wurde, geschah dies mit Stimmen von SPD und Grünen. Selbst die taz fragte in einem Leitartikel vor zwei Jahren, ob man nicht „zwischen Abbrüchen im Frühstadium und Spätabbrüchen“ unterscheiden müsse.

Eine willkürliche Frist?

Eine schlüssige Begründung fehlt sowohl in dem Text als auch in der Argumentation derjenigen, die den Paragrafen 218 verteidigen – der bereits zwischen Abbrüchen vor und nach der 12. Woche unterscheidet. Es ist eine willkürliche Frist, der Unterschied ein gefühlter. Wer sich sachlich mit dem Thema auseinandersetzt, kommt zu dem Schluss: Abtreibungen auf Wunsch der Schwangeren müssen ganz verboten – oder ganz erlaubt werden, so wie es in Kanada seit 1988 der Fall ist.

Es ist wahrscheinlich, dass die Zahlen dann leicht ansteigen – allein, weil nicht mehr jährlich 1.200 Deutsche in die Niederlande fahren müssen, wo nach taz-Recherchen jede dritte bis vierte Schwangerschaft zwischen der 12. und 22. Woche abgebrochen wird. Aber Frauen werden die Entscheidung wie bisher nicht leichtfertig treffen und Me­di­zi­ne­r:in­nen werden weiter verantwortungsvoll handeln. Dafür spricht: In Kanada liegt seit 2007 die Zahl der dokumentierten Abtreibungen nach der 19. Woche stabil zwischen 500 und 700 Fällen im Jahr. 2021 waren es in Deutschland 728 nach der 22. Woche, Tendenz stetig steigend.

Abbrüche nach der 22. Woche geschehen so gut wie immer aufgrund einer schweren Behinderung des Fötus

Wie viele Schwangerschaften im letzten Trimenon abgebrochen werden, lässt sich aus den offiziellen Statistiken beider Länder nicht erkennen. Nach Untersuchungen der Universitätskliniken Gießen und Leipzig handelt es sich um Einzelfälle. Sie zeigen auch, dass Abbrüche nach der 22. Woche so gut wie immer aufgrund einer schweren Behinderung des Fötus geschehen. Das ist der Grund, warum selbst Fe­mi­nis­t:in­nen das Selbstbestimmungsrecht der Frau einschränken wollen, wenn es um späte Abbrüche geht. Alles andere wäre behindertenfeindlich, in Deutschland nach der NS-Euthanasie ein No-Go, sagen sie.

Nur: Deutschland wird immer behindertenfreundlicher – und trotzdem trauen sich weniger Frauen die Pflege eines schwerstbehinderten Kindes zu. Soll man sie zwingen, die Kinder zu bekommen, so wie es „Lebensschützer:innen“ fordern? Treibt das die Inklusion voran? Wie? Eignen sich aus feministischer Perspektive Frauenkörper wirklich als anti-ableistische Barriere?

Zudem sind weitere medizinische Fortschritte bei der Versorgung von Frühgeborenen nicht ausgeschlossen. Was passiert, wenn die Grenze zur Überlebensfähigkeit außerhalb des Uterus nicht mehr bei 21, sondern bei 16 oder 10 Wochen liegt? Und warum sollte es akzeptabel sein, wenn ein Fötus stirbt, weil er aus der Gebärmutter entfernt wird, nicht aber, wenn er darin getötet wird? Wer dem Fötus nach der 21. Woche Rechte zuspricht, bestätigt letztlich die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts. Das hatte vor 30 Jahren die Rechte von Frau und Fötus für gleichwertig erklärt.

Es braucht eine offene Diskussion

Be­für­wor­te­r:in­nen eines liberalen Abtreibungsrechts betonen, dass Frauen, die eine Schwangerschaft nicht wollen, sie außerhalb des medizinischen Systems abbrechen – unter lebensgefährlichen Umständen. Ist diese Gefahr zumutbar, wenn der Abbruch im zweiten oder dritten Trimenon stattfindet und das Komplikationsrisiko um ein Vielfaches höher ist?

Das sind alles keine einfachen Fragen. Aber sie müssen offen diskutiert werden. Sonst lässt man die Menschen alleine, die solch existenzielle Lebenserfahrungen machen und lädt das Problem bei den wenigen Ärz­t:in­nen ab, die ihnen helfen.

Denn, das hat eine weitere taz-Recherche gezeigt, wer derzeit in Deutschland nach der 12. Woche eine Schwangerschaft abbrechen will, trifft auf intransparente Strukturen, willkürliche Entscheidungen von Mediziner:innen, muss oft weite Reisen in Kauf nehmen, sich vor Fremden rechtfertigen, wochenlang auf einen Termin ­warten.

In Extremfällen verweigern Kliniken in Deutschland Frauen mit totem Fötus im Bauch eine Geburt. Dabei bleibt die vom Grundgesetz geschützte Menschenwürde auf der Strecke. Letztlich auch die des Fötus.

* In diesem Artikel wird die Schwangerschaftsdauer – wie im Gesetz – ab der Empfängnis gezählt – nicht ab der letzten Menstruation.

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Eiken Bruhn
Redakteurin
Seit 2003 bei der taz als Redakteurin. Themenschwerpunkte: Soziales, Gender, Gesundheit. M.A. Kulturwissenschaft (Univ. Bremen), MSc Women's Studies (Univ. of Bristol); Alumna Heinrich-Böll-Stiftung; Ausbildung an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin; Lehrbeauftragte an der Univ. Bremen; in Weiterbildung zur systemischen Beraterin.
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20 Kommentare

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  • Können wir bitte nicht auf das schwarz-weiß-Denken der Amis zurückfallen?

    Ein Foetus in Woche 10 ist ein Zellklumpen, der langsam menschliches Aussehen entwickelt, aber bei dem noch niemand zuhause ist, der Rechte hat, die geschützen werden müssen, und deswegen ist der Abbruch mit niedrigen Hürden und grundlos möglich, und es wird darauf gepocht, ihn wenn dann eben auch dann durchzuführen.



    In Monat 5 dagegen ist das ein kleines und ungeborenes, aber leidensfähiges Kind, und somit ein schwerer moralischer Konflikt. Es gibt trotzdem Situationen, wo immer noch abgetrieben wird, etwa weil das Kind eine tödliche unheilbare leidensvolle Krankheit hat, die Schwangerschaft für die Mutter lebensgefährlich ist, sie ein suizidales Vergewaltigungsopfer ist, das früher nicht abtreiben konnte; sprich sich etwas grundlegend geändert hat, die Schwangerschaft unmöglich ist, oder eine Abtreibung dringend notwendig aber vorher unmöglich war. Dann wird da immer noch ein Kind getötet, aber die Alternative ist noch schlimmer, und deswegen machen Ärzte das schweren Herzens. Es sollte nicht leichtfertig geschehen, es sollte nicht grundlos geschehen, und es sollte wenn irgendwie möglich durch frühere Abtreibungen verhindert werden.



    Und bis in Monat 9? Das ist Wahnsinn. Es ist eine Sache zu sagen, die Mutter hat ein Recht auf ihren Körper, inkls. das Recht, den Gebrauch ihres Körpers einem Menschen zu entziehen, der ohne diesen stirbt. Es ist ihr Körper, sie hat dieses Recht, auch wenn ich es schwer verwerflich finde, dieses Recht unnötig spät zu nutzen, und Ärzt*innen verstehe, die das nicht über das Herz bringen. Aber sie hat kein Recht das Kind in ihrem Körper aktiv und grundlos zu töten. Das wird bei Abtreibung tödlich kranker Kinder gemacht, um denen leidensvolle Stunden zu ersparen, als aktive Sterbehilfe. Aber ein gesundes Kind kannst du weder drinnen noch draußen töten. Wieso auch? Eine so späte Abtreibung ist eine Geburtseinleitung, und Kinder zur Adoption werden gesucht.

  • Wenn eine Frau es schon irgendwie geschafft hat, einen Fetus bis zur 20. oder 25. Woche zu tragen, und die Spätabtreibung einer Geburt eh nicht unähnlich ist, dann sollte man annehmen, dass sie das Kind auch lebending gebären kann.



    Was sie danach macht, kann sie ja immer noch entscheiden - Adoption oder was weiss ich.

    Ein lebendiges, lebensfähiges "Kind" totspritzen kann es jedenfalls nicht sein, selbst wenn es schwerstbehindert ist - dann muss sich notfalls der Staat drum kümmern, wenn die Eltern das verständlicherweise nicht können oder wollen. Das wäre ja wieder Euthanasie, und die haben die Nazis nun mal indiskutabel gemacht.



    Da muss man die pränatale Diagnostik verbessern, um so was früher feststellen zu können.

  • „In Kanada liegt seit 2007 die Zahl der dokumentierten Abtreibungen nach der 19. Woche stabil zwischen 500 und 700 Fällen im Jahr. 2021 waren es in Deutschland 728 nach der 22. Woche, Tendenz stetig steigend.“



    Das ist plumpe und suggestive Augenwischerei. Durch diese ganz oder gar nicht Freiheit würde sich in DLand ma gar nichts abschwächen. Wie auch, wenn Anstiege zu verzeichnen sind. Und aus eben diesem Grund sind Fetozide kategorisch auszuschließen.

  • Letztlich läuft die Debatte auf eine zentrale Frage hinaus:

    Ist ein ungeborenes Kind ein Mensch oder nicht?

    Die allermeisten Menschen würden diese Frage bei einem Kind kurz vor der Geburt wohl bejahen.

    Wenn ein Kind am Ende der Schwangerschaft jedoch schon ein Mensch ist, ab welchem Punkt der Schwangerschaft beginnt dann die Menschwerdung?

    Aus dieser nicht zu beantwortenden Frage ergeben sich zwangsläufig ethische Überlegungen, auch im Hinblick darauf ob ein Menschenleben weniger wert ist, nur weil dieser Mensch sich nicht artikulieren, und sich nicht wehren kann.

    Bei allem wissenschaftlichen Fortschritt kann der Mensch seinen eigentlichen Ursprung nicht ergründen.

  • Wir sind kulturell so geprägt, dass wir bei solchen Fragen 100% objektiv-universelle Kriterien erwarten, was richtig ist. Menschen, die eine andere Sicht haben sind dann Menschenfeinde. Das macht politisch die Dinge klarer, hat aber wenig mit der Realität zu tun, in der keine eindeutigen Regeln vorliegen. In ganz weitem Maß sind das gesellschaftliche Entscheidungen, die man so oder so treffen kann.

    Können Schwangerschaftsabbrüche bis zur Geburt gerechtfertigt sein? Auch die Geburt ist als universell klare Zäsur anzweifelbar. Sie fokusiert auf die physischen Aspekte der Zumutungen für die Mütter. Mit dem Akt der Geburt kippt das dann 100% auf Kindesschutz, auch mit harten Strafen bei Fehlverhalten. Auch das scheint mehr gesellschaftlich gelernt, als dass es ganz klare Fakten zwingend so vorschrieben. Man könnte seelische Belastungen höher werten, die sich nicht schlagartig mit dem Vorgang der Geburt ändern. Es gibt auch historisch Gesellschaften, in der die "Verfügungsgewalt" über die Kinder, auch das Leben der Kinder, auch nach der Geburt bestehen blieb. Es scheint eine ziemlich große Bandbreite zu geben, für was sich Gesellschaften entscheiden können und schon entschieden haben.

  • "Wahlen gewinnt man damit nicht..." - Ist das Thema nicht auch ethisch viel zu wichtig, um damit von Wahl zu Wahl zu hecheln? Die Art und Weise, wie damit z.B. in den USA damit im Wahlkampfgetöse umgegangen wird, ist unerträglich, sowohl seitens der Republikaner als auch seitens der Demokraten. In Deutschland haben wir als oberstes Gebot der Verfassung die Achtung der Menschenwürde (GG Art 1). Es ist keine Kleinigkeit, darüber zu entscheiden, ab wann genau ein menschliches Wesen diese Menschenwürde besitzt. Eine willkürliche Frist ohne sachliche Begründung (etwa über ein bestimmtes Entwicklungsstadiums des Ungeborenen) erscheint da doch sehr... willkürlich.

    Eine schlüssige Begründung muss in einer breiten gesellschaftlichen Debatte erarbeitet und verfassungsgemäß in Gesetze gegossen werden. Ob das im StGB oder in einem anderen Gesetz geregelt wird, ist letztlich zweitrangig.

    Ich hoffe sehr, dass die neue Kommission in diesem Spirit ihre Arbeit aufnimmt und bei dem Thema die Rechte (und Pflichten) aller Beteiligten von allen Seiten beleuchtet und würdigt. Ja: Es geht auch um Pflichten. Übrigens nicht nur für Ärzte und werdende Mütter, sondern auch für werdende Väter, die ja zur Erzeugung ihren Teil beigetragen haben und deshalb ebenfalls in der Verantwortung stehen. Jedes menschliche Handeln hat Konsequenzen.

  • Diesen Artikel finde ich, im Gegensatz zu den vielen früheren Veröffentlichungen insbesondere von den Autoren Hierse und Stokowski endlich mal schonungslos.

    Allein mir fehlt doch ein deutlicher Fingerzeig auf die moralische Wirkung dieses Unterfangens.

    Wer in einer Spätabtreibung und einer Kindstötung nicht den, unter Moralaspekten, selben Vorgang erkennt, sollte aus meiner Sicht nicht an der Gesetzgebung teilnehmen. Deren Aufgabe es ja nunmal ist Moralvorstellungen abzubilden und moralische Konflikte nachvollziehbar(!) und vorausschaubar einzufangen.

    Unter dem Aspekt der Nachvollziehbarkeit sieht die Arbitrierung mit den 12 Wochen dann gleich gar nicht mehr so unüberlegt aus, wenn sie auch, wie der Artikel herausarbeitet, doch nur ein fauler Kompromiss ist.

  • verstehe gar nicht, wie Männer da mitreden wollen, sollen oder können.

    Das wäre ein Traum: diese Debatte nur von Frauen führen, leiten und bestimmen zu lassen.

    Käme sicher mal was anderes als Hass, Drohungen, Bestrafung, Krieg oder Arme-Leute-bashing raus.

    • @Klaus Witzmann:

      Als NICHT-abgetriebenes Überraschungskind, das sich seines Lebens freut und dieses zutiefst zu schätzen weiß - und nebenbei stolzer Vater eines ebensolchen - fühle ich schon eine gewisse persönliche Betroffenheit durch diese Diskussion. Es geht eben nicht NUR um die Rechte und (damit die subjektive Perspektive der betroffenen Frauen), sondern um eine Abwägung zwischen ZWEI Rechtssphären, deren eine statistisch zu etwa 50% männliche Rechtssubjekte hat.

    • @Klaus Witzmann:

      "Verstehe gar nicht, wie Männer da mitreden wollen, sollen oder können."



      Solange Männer in diesem Prozess in irgendeiner Form beteiligt sind, wäre es reinster Sexismus, sie nicht an der Debatte teilhaben zu lassen. So einfach ist das.

  • Das ist mir zu wenig pluralistisch gedacht.

    So ganz aus der Luft gegriffen ist die Grenze "12. Woche" ja nicht. Sie stellt wohl in der Regel ein Stadium in der Fötenentwicklung dar, wo sich Organe, Hirnströme etc, in einem Maße entwickeln, dass man bei dem Organismus nachher ein sehr deutliches Stück eher von "menschlichem Leben" reden kann als vorher. Und DARAUF kommt es eben an, wenn man abgrenzen will, wer oder was Grundrechte besitzen kann und wie der im Verhältnis Mutter-Fötus unter welchen Bedingungen in die unveräußerlichsten aller Grundrechte des jeweils anderen eingreifen darf.

    Aber ja, natürlich ist die Grenze IMMER irgendwie willkürlich, weil die Begriffe "Mensch" und "Leben" letztlich an ihren Grenzbereichen dann doch nicht die Trennschärfe aufweisen, die man sich bei ihrer monumentlaen Bedeutung für unser Wertesystem wünschen würde. Von der katholischen Kirche, die Alles im Lichte des Willens Gottes sieht und jede Empfängnis schon als schützenswerten Akt betrachtet, bis zu jenen Radikalliberalisierern, die aus ähnlich unerfindlichen Gründen meinen, ein voll ausgebildetes Kind mit allen überlebensnotwendigen Körperfunktionen, Bewusstsein etc. sei kein Mensch im Sinne des Art. 1 GG, wenn sich um ihn herum noch der Mutterleib befinde, sind alle Spielarten denk- und aus der jeweiligen Warte auch ganz gut ethisch vertretbar.

    Die goldene Mitte wird man in so einem Schwarz-Weiß-Szenario ("Menschliches Leben - ja oder nein?") schwer festlegen können, ohne das alle Andersdenkenden wüst dagegen sturmlaufen. ABER - und das halte ich für zentral: Das kann nicht heißen, dass man es dann nur den Vertretern einer Radikalposition rechtmachen sollte, indem man sagt "Ganz oder Garnicht!". Das wäre angesichts der ethischen/ methaphysischen/ biologischen Unschärfe, der wir hier begegnen, deutlich zu kurz gesprungen und würde letzlich zur Übernahme einer - ebenfalls willkürlichen - Position führen, auf die sich noch die allerwenigsten einigen können.

    • @Normalo:

      Sehr gut aufgedröselt, danke dafür!



      Dem stimme ich 100% zu.

      • @Annette Thomas:

        Na Servus

        Dann ist ja noch Hoffnung

  • Ja wie? “Debatte um Paragraf 218: Bis zur Geburt oder gar nicht“

    kurz - hoffe doch sehr!



    Daß bekannt ist - was eine juristische Sekunde ist?!

    unterm—— servíce



    “Die juristische Sekunde oder logische Sekunde ist eine aus dem römischen Recht stammende Erklärungsfigur in der Rechtswissenschaft. Sie bezeichnet einen fiktiven Zeitraum, der zur Veranschaulichung zwischen zwei als aufeinanderfolgend vorgestellte Rechtswirkungen desselben physischen Ereignisses eingeschoben wird.“



    de.wikipedia.org/w...uristische_Sekunde



    “…1962 schlug Franz Wieacker für die „logische Sekunde“ die Benennung „juristische Sekunde“ vor.[2] Beide Benennungen sind in der Rechtswissenschaft in Gebrauch.

    Die juristische Sekunde ist eine Rechtsfigur für einen kurzen, gedachten Augenblick im Sinne eines fiktiven, infinitesimalen Zeitpunkts und keine Sekunde im Sinne einer Zeiteinheit. Die zeitliche Ausdehnung einer juristischen Sekunde ist mithin exakt null. Mit der „logischen Sekunde“ hat sich vor allem der römische Rechtsgelehrte Gnaeus Arulenus Caelius Sabinus (um 69 n. Chr.) auseinandergesetzt, der die Denkform der logischen Sekunde auch in Sonderfällen der Schenkung unter Ehegatten verwendet hatte.[3] Auch das Reichsgericht sprach noch in einem Urteil vom 4. April 1933 beim Erwerb eines Anwartschaftsrechts von der logischen Sekunde.…“

    kurz2 - Straffrei bis zur Geburt - 1sec - Mord -

    Na Mahlzeit

    • @Lowandorder:

      Umso schwieriger, als eine Geburt nunmal alles andere als "1 Sekunde" dauert. Wo wäre nun der Schnitt zwischen vorher und nachher - beim Einsetzen der 1. Wehe? Oder mit dem endgültigen Verlassen des Geburtskanals? Was ist bei einem Geburtsstillstand (für den extremer emotionaler Stress übrigens das Risiko immens verstärkt)? Wie sieht es bei einem Kaiserschnitt aus?



      Wie genau ist ein Schwangerschaftsabbruch eigentlich durchzuführen, wenn die Ausschabung längst nicht mehr möglich ist? Wie unterscheidet er sich im 9. Monat von einem Kaiserschnitt?

      Das Eis ist zu dünn. Diese Willkür bei der 12. Woche ist nicht willkürlicher als "der Moment der Geburt".

      • @Annette Thomas:

        Rechtswissenschaft ist (wie zB Nationalwissenschaften) - eine Wertungswissenschaft! Get it? Fein



        &



        Wennse ihr Fallgeschwurbel bitte weglassen wollen. Danke.



        Dann könnte es auch Ihnen einleuchten:



        Die Diskrepanz - vor via nach der juristischen Sekunde - ist derart riesig (von den biologischen Implikationen mal noch ganz ab) - daß das so simpel wie sich’s die Autorin & scheint’s auch Sie sich machen! Ganz offensichtlich nicht geht!

  • "Das ist der Grund, warum selbst Fe­mi­nis­t:in­nen das Selbstbestimmungsrecht der Frau einschränken wollen, wenn es um späte Abbrüche geht. Alles andere wäre behindertenfeindlich, in Deutschland nach der NS-Euthanasie ein No-Go, sagen sie."

    Es wird immer absurder.



    Wenn Frauen - aus welchen Gründen auch immer - kein Kind will, ist ein Abruch legitim. Wenn die gleiche Frau kein behindertes Kind will, ist der Abbruch plötzlich die Wiederkehr der NS-Zeit.



    Und mit welcher Logik ist die Tötung eines Kindes direkt nach der Geburt Mord, während die Tötung des gleichen Kindes unmittelbar vor der Geburt eine erlaubte Abtreibung ist ?

  • Es wird immer eine Art "willkürliche Frist" geben. Wenn Abtreibungen vollumfänglich erlaubt würden, wäre diese Frist die Geburt. Auch das wäre in gewisser Weise "willkürlich", denn aus biologischer Sicht dürfte sich ein Fötus unmittelbar vor der Geburt kaum von einem Kind unmittelbar nach der Geburt unterscheiden.

    Die Alternative Abtreibungen gänzlich zu verbieten ist auch keine Lösung. Deshalb ist es Aufgabe des öffentlichen Diskurses zu diskutieren wo unsere "willkürliche Grenze" liegen soll. Und aktuell sind es nun mal die genannten 12 Wochen.

  • Keine Ahnung, was hier schlussendlich das Richtige ist. Dass der Staat für die Schutzbedürftigen eintritt, finde ich grundsätzlich richtig und es wird an anderer Stelle in dieser Gesellschaft beständig gefordert. Eine generelle, allgemeingültige Regelung scheint mir kaum machbar.

    Dass man einen gesunden Menschen, welcher mit technischen Mitteln ab der 21. Woche außerhalb der Mutter am Leben erhalten werden kann, noch abtreibt, halte ich jedenfalls dem gesunden Menschenverstand nach für unethisch.

    Eine Frau zu zwingen ein Kind auszutragen, für das diese aufgrund einer Behinderung lebenslang sorgen muss, erscheint mir aber ebenso fragwürdig.

  • Die Lebenschützer kann ich ernstnehmen, wenn sie mehrere schwerst mehrfach behinderte Pflegefälle adoptiert haben und im Stundentakt Schleim aus den Lungen saugen, durchgehend in Schichtwechsel wachen um bei den diversen Krampfanfällen und Epilepsien Krampflöser zu geben, einen Block zwischen die Zähne bringen, damit die Zunge nicht abgebissen wird und dann starke Schmerzmittel geben wegen der Muskelschmerzen durch die ständige Krämpfe, täglich zweimal die Magensonden und Darmausgänge reinigen etc. So sieht nämlich das Leben aus, das oft angetrieben wird. Falls sie das alles zu belastend finden, ein Leben in n 24 Stunden Schichten durch x Maschinen zu erhalten, wie die werdenden Eltern oft auch, dann können sie das brav geborene Kind auch einfach im Arm halten bis es erstickt ist. Das ist die Alternative, gleich nach der Geburt, wobei viele dieser Kinder trotz aller Technik letztendlich ohnehin im Grunde ersticken.... All das erscheint den werdenden Eltern zu unerträglich, da lassen sie lieber antreiben. Wegen der extremen Belastungen sind viele im Heim, schon allein weil sie oft auf Intensivpflege inkl aller Technik angewiesen sind. Aber wie gesagt, die Lebenschützer könnten sie ja adoptieren, wenn sie ihnen wirklich so sehr am Herzen liegen...