Jens Bisky über die Wahlen in Berlin: Die Neunziger sind vorbei

Berlin-Bashing ist langweilig, aber Giffeys Wohlfühlrhetorik hilft der Stadt auch nicht weiter. Ein Gastbeitrag von einem Biografen Berlins.

Blick aus einem Fenster, vor dem ein schwarzer Vorhang das halbe Fenster verdeckt - zu sehen ist der Platz der Vereinten Nationen, im Hintergrund der Fernsehturm

Blick auf den Fernsehturm aus einer Plattenbau-Wohnung am Platz der Vereinten Nationen, 2011 Foto: Andreas Pein/laif

Ausgerechnet den einen verstaubten Karl-Scheffler-Satz hat Franziska Giffey Monate nach der Pannenwahl in ihrer Regierungserklärung bemüht. Die Floskel, dass Berlin dazu verdammt sei, immer zu werden, niemals zu sein, klang schon 1910 nichtssagend und feierlich raunend zugleich. Im Januar 2022 übersetzte die Regierende Bürgermeisterin sie in ihre Sprache: In Berlin werde „gestern wie heute Zukunft gemacht“. Rhetorisch und inhaltlich anspruchsloser lässt sich kaum ausdrücken, dass man Aufbruch will, aber bloß nicht zu sehr.

Eine aktuelle Forsa-Umfrage für die Berliner Zeitung hat ergeben, dass drei Viertel der Befragten mit der Arbeit der Landesregierung unzufrieden sind, dass lediglich 66 Prozent gern in der Stadt leben, unter den nach 1990 Zugezogenen ist die Zahl noch geringer. Die skandalös gescheiterte Wahl vom September 2021 und der nicht weniger skandalöse, politisch ausweichende Umgang damit haben das Vertrauen, Berlin-Politik könne die Probleme der Stadt erfolgreich bearbeiten, bei vielen grundsätzlich erschüttert. „Ich weiß wirklich nicht, wen ich wählen soll“ – diesen Satz hört man derzeit oft.

Gegen die Ratlosigkeit hilft auch das langweilig gewordene Berlin-Bashing nicht, die hämische Kritik, die zwischen Pech, kleinen Ärgernissen, wichtigem Streit und großen Problemen kaum unterscheidet. Sie dient der Selbstbestätigung. Die Wirklichkeit der Stadtgesellschaft verfehlt sie ebenso wie die zum Klischee geronnenen Zuschreibungen. Verdammt zum Werden? Bleibt hier nicht zu vieles zu lange beim Alten?

Berlin ist langsam. Es geht mit und in der Stadt keineswegs schneller voran als andernorts. Modernisierung ist, im Gegensatz zu dem, was Scheffler und seine Zeitgenossen glaubten, kein alles mit sich reißender Malstrom, vielmehr ein mühsames Geschäft. In der Zeit, die es heute braucht, eine U-Bahnstation zu sanieren, wurden vor über 100 Jahren ganze Bahnlinien fertiggestellt.

Jens Bisky ist leitender Redakteur der Zeitschrift Mittelweg 36 und Autor von „Berlin. Biografie einer großen Stadt“

Und nicht Tempo und Entschlossenheit bestimmen heute den Alltag, vieles bleibt zäh, die Beharrungskräfte sind stark. Auch Avantgardisten der Stadt erfinden sich nicht ständig neu, sondern suchen gern eine Nische. Das macht das Leben hier angenehm, aber oft auch zäh, nervend, zeitaufwändig und enttäuschend vorhersehbar. Die Symphonie der Großstadt ist ein sehr langsamer, immer wieder unterbrochener, schief intonierter Kiezschlager geworden.

Eine Stadt im Wachstumsstress

Immer im Werden? Wer auf die Stadtpolitik schaut, entdeckt in erster Linie Kontinuitäten: Seit 1989 hat es keinen Senat ohne Beteiligung der SPD gegeben, seit 21 Jahren stellen die Sozialdemokraten den Regierenden oder die Regierende. Die großen Probleme sind geblieben: Wohnen, Verkehr, Verwaltung. Die Infrastruktur verlangt von den einzelnen eine Menge an Kompensationsleistungen – und immer wieder Geduld, Gelassenheit, Improvisationstalent. Soziale, politische und kulturelle Dynamik zeigt Berlin noch im Schaufenster, hat sie aber nur noch in Einzelfällen im Angebot.

Das hat viele Gründe. Einer davon ist das Erbe der Neunziger Jahre, als in der glücklich zusammenwachsenden Stadt viele, allen voran die Diepgen-­Lan­dow­sky-CDU, das große Rad drehen wollten, bis der Bankenskandal offenlegte, dass die Stadt vor allem eines war: pleite.

Bis in die jüngste Zeit haben die damals geplanten Großprojekte die Stadt und das Reden über sie ebenso geprägt wie das unumgängliche Sparen unter Wowereit: das Humboldt-Forum, der Flughafen, die Kanzler-U-Bahn. Die Geschichte der A-100 reicht bis in das alte Westberlin zurück. Stadtpolitisch lässt sich aus der Geschichte dieser Groß­vorhaben lernen, dass sie in neunzig von hundert Fällen die mit ihnen anfangs verbundenen Hoffnungen nicht einlösen. Also braucht es gescheite Verfahren, die Pläne zu korrigieren.

Berlin leidet seit 2010 am Wachstumsstress

Gegen Ende der in Berlin sehr langen Neunziger entstand auch die bis heute überzeugendste Selbstbeschreibung der vereinigten Stadt als Bühne der Generation Berlin, jener unternehmerischen Einzelnen, die hier sich und ihre Projekte verwirklichen können, weil die Stadtgesellschaft liberal ist und das Leben nicht zu teuer, weil Räume für Experimente zur Verfügung stehen.

Der Wachstumsstress, unter dem die Stadt seit spätestens 2010 leidet, hängt wesentlich mit dem Erfolg dieser Künstler, Projektemacher, Lebens­stil­unternehmer zusammen, einem Erfolg, der seine Voraussetzungen zerstörte. Ihm verdankt Berlin den Ruf, der bis heute Zehntausende von überall anzieht, und auch wirtschaftliches Wachstum.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Die Erinnerung an jene Jahre prägt bis heute die Atmosphäre und stärkt die Kultur des Individualismus. Doch die Nostalgie gilt einer unvollständig vergegenwärtigten Vergangenheit. Deindustrialisierung, die harten Ver­eini­gungs­konflikte, nationalistisch befeuerte Ausgrenzungsroutinen werden im Rückblick gern vergessen.

Viele planen einen frühen Ruhestand

Inzwischen plant die Generation Berlin den Ruhestand. Gar nicht so wenige, die dann doch in anderen Städten Karriere gemacht haben, spielen mit dem Gedanken, bei ihrem Renteneintritt in die Hauptstadt zu ziehen. Wenn der Eindruck nicht täuscht, könnten Teile Berlins zu einer Art Florida der alten Bundesrepublik werden. Alle werden dann beobachten können, wie für die Neunziger Jahre entscheidenden Vorstellungen von Selbstentfaltung, Emanzipation, Individualisierung in Gegensatz zur Logik der Selbsterhaltung treten.

Der in Berlin forschende Soziologe Philipp Staab hat in seinem Buch „Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft“ verstörend klug und mit Blick auf das gesamte Land analysiert, welche Folgen es hat, wenn „Selbstverwirklichungsfantasien und Politiken der individuellen Freiheit“ zurücktreten hinter „Strategien des Schutzes von Leben sowie der Betonung gesellschaftlicher Vernetzung und Abhängigkeit“. Die Pandemie hat es allen vor Augen geführt, der Angriffskrieg gegen die ­Ukraine, der Klimawandel zeigen, wie wichtig Strategien der Selbsterhaltung sind. Man kann das Thema nicht abwählen.

Streit muss erzwungen werden

Wahrscheinlich hat Franziska Giffey 2021 auch deshalb die Wahlen gewonnen, weil sie das Versprechen verkörpert, die Stadt zu managen, sich um alle zu kümmern, ohne den Bewohnern allzu viel Ungewohntes, Neues abzuverlangen. Sie macht halt gestern wie heute Zukunft. „Zukunft“ – eine dieser entpolitisierenden Wohlfühlvokabeln wie „urban“ oder „Metropole“. Sie verschleiern die Verteilungskonflikte, die notwendig zum Großstadtleben gehören, den ständigen Kampf um Zeit, Raum, Aufmerksamkeit.

Was zu tun wäre, um diese Konflikte im Sinne einer „Stadt für alle“ zu bearbeiten, ist bekannt: Es braucht funktionierende öffentliche Infrastrukturen. Dem wird kaum widersprochen, aber meist ist damit die Vorstellung von einer Normalität verbunden, die sich ebenso als Illusion erweisen dürfte, wie der Rückgriff auf historische Modernisierungsfloskeln.

Berlin ist weder so überwältigend wie die explosionsartig entstehende Stadt um 1900, noch so programmatisch modern wie die Stadt der Zwanzigerjahre. Verzagtheit herrscht vor, wie jeder feststellen kann, der aus dem Hauptbahnhof tritt, jüngst fertiggestellte Wohnhäuser betrachtet, rings ums Neubauschloss geht oder landespolitische Debatten verfolgt. Man will schon besonders sein, aber dabei nicht aus dem Rahmen fallen. Deswegen wirkt vieles so nett, aber unerfreulich, weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibend.

Politisieren entscheidende Fragen

Zwei der am meisten angefeindeten Berliner Vorhaben weisen wenigstens in die richtige Richtung, weil sie weder Wohlfühlrhetorik bemühen noch verzagt sind. Der erfolgreiche Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co. enteignen und die auf den ersten Blick bloß niedlich scheinende Sperrung von 500 Metern Friedrichstraße für den Auto­verkehr politisieren entscheidende Fragen.

In beiden Fällen ist nicht alles überzeugend, werden die praktischen Wirkungen sehr wahrscheinlich weniger revolutionär sein als erhofft oder befürchtet. Aber sie erschweren das Ausweichen, das Weiterwursteln, ermöglichen, ja erzwingen politischen Streit, in dem dann Mehrheiten gewonnen werden müssen. Die Stadt soll entscheidender Akteur auf dem Wohnungsmarkt werden und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass man auf Autos verzichten kann.

Nach all den Pannen und angesichts der Kaskade von Krisen ist die Sehnsucht nach bloß technokratischen Lösungen in Berlin verständlicherweise groß. Und diese vertragen sich bestens mit der Semantik der Modernisierung und den Klischees von Tempo, Wandel, Veränderungsversessenheit. Interessant wird die Stadt, wenn sie den Widerstreit zwischen Selbstentfaltung und Selbsterhaltung als Konflikt gestaltet, in dem die richtige, die einfache Lösung erst noch gefunden, erprobt werden muss, will Berlin nicht verdammt sein, ängstlich auf die nächste Panne zu warten.

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