Ein Soldat berichtet von der Front: „Drei Autostunden bis zur Hölle“
Andrej Ischtschenko hat sich als Freiwilliger an die ukrainische Front gemeldet. Nun ist er zurück und hat sich mit der taz getroffen.
Fußball interessiert ihn nicht. Er bezahlt sein Essen in bar – Kreditkarten funktionieren wegen fehlender Verbindung zum Bankserver aktuell nicht – und macht sich auf den Weg. „Kommen Sie in drei Stunden wieder“, sagt die Kellnerin. „Wir haben heute Live-Musik.“
Ischtschenko bleibt eine Weile vor der Tür im ersten Stock stehen, raucht und schaut auf den Hof hinunter, wo Menschen geschäftig gehen, Kinder spielen. „Von hier bis zur Hölle sind es genau drei Autostunden“, sagt er. „Ich war fast neun Monate nicht zu Hause, habe nicht in einem Bett geschlafen.“
Ischtschenko kommt von der Front, hat noch vor zwei Tagen gegen die russische Armee gekämpft. „Hier in Odesa ist es ja schön warm, fast immer Temperaturen über null. In Cherson und bei Donezk, wo ich gekämpft habe, waren es oft minus 10 Grad.“
Vom eigenen Panzer niedergewalzt
In Odessa lebe man noch relativ unbekümmert: „Es gibt Arbeit. In Mykolajiw, zwei Stunden von hier entfernt, kommt immer ein Schwarm bettelnder Kinder auf dich zu, wenn du aus dem Auto steigst. Und wenn man noch eine Stunde weiterfährt, nehmen auch die Probleme zu“, berichtet er. Bei Cherson habe er Menschen gesehen, die noch vor einem Jahr reich waren, einen landwirtschaftlichen Betrieb mit vielen Tieren besaßen. Jetzt erinnere nur noch ein Steinhaufen an ihren ehemals prächtigen Bau.
Verdient habe er ja nicht schlecht beim Militär, fast 3.000 Euro im Monat. In Odessa, also nicht an der Front, hätte er nur rund 1.000 Euro bekommen. „Aber es ist Dauerstress, ständig mit dem Gefühl zu leben, dass man dich töten will. Jeden Tag riskierst du dein Leben.“
„An der Front bekommt man eine andere Einstellung zum Leben. Wenn gestern 20 Kameraden getötet worden sind, nimmt man das einfach so zur Kenntnis.“ Einmal seien aus Versehen fünf Soldaten von einem eigenen Panzer niedergewalzt worden.
Ein anderes Mal sei er in einen Hinterhalt geraten. Seine Gruppe habe sich zerstreut. Manche seien getötet worden, andere in Gefangenschaft geraten. Wieder andere, wie er, hätten sich einzeln durchgeschlagen. Und so habe er sich sieben Tage im Wald versteckt, habe den russischen Soldaten, die nur wenige Meter von ihm entfernt patrouilliert hatten, bei deren Gesprächen zugehört.
„Der Preis ist sehr hoch“
„Ich habe mit dem Helm das Regenwasser aufgefangen, um es zu trinken“, erzählt Ischtschenko. Gerettet hat ihn seine Powerbank. „Wenn man auf die eigenen Leute zugeht, kann es ja sein, dass die einen für einen Angreifer halten und schießen.“ So aber habe er per Handy seine Rückkehr ankündigen können.
Jetzt ist Ischtschenko erst einmal in Odesa, Zivilist. „Die ukrainische Armee kämpft mit nackten Händen gegen einen imperialistischen Aggressor“, sagt er. „Die Waffen sind zu 95 Prozent sowjetisch. Die Waffenlieferungen aus dem Westen sind eher PR“, so Ischtschenko. „Gleichwohl erringt die ukrainische Armee in dieser Situation Erfolge.“
„Aber der Preis ist sehr hoch: Es sind die Leben von Hunderten und Tausenden ukrainischer Soldaten. Trotz aller Erfolge – alle Probleme, die die sowjetische Armee hatte, hat auch die ukrainische Armee. Und zwar in verschärfter Form, wegen des Krieges und der sich ständig ändernden Frontlinie. In der Armee herrschen noch Regeln und Sitten aus der Sowjetzeit, es kommt mitunter zu Konflikten zwischen Soldaten und Kommandeuren, die entgegen militärischem Wissen handeln. Sie versuchen die Probleme der fehlenden Militärtechnik zu kompensieren, durch extremen und riskanten Einsatz von Menschen, gegen eine gut ausgerüstete russische Armee.“
Häufig, so Ischtschenko, stehen ukrainische Soldaten der russischen Kriegstechnik nur mit Sturmgewehren in der Hand gegenüber. „Sie verteidigen heldenhaft ihr Land gegen einen bewaffneten Aggressor.“
Der Text wurde von Andrej Ischtschenko gegengelesen. Passagen, die ihm oder der Armee schaden könnten, wurden gestrichen. Ischtschenko hatte früher mehrfach bei taz-Reisen in die Ukraine über seine Gewerkschaftsarbeit referiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung