Literaturnobelpreis für Annie Ernaux: Die Sezierende
Annie Ernaux hat viel dazu beigetragen, dass sogenannte Frauenthemen ins Zentrum der Literatur rücken. Der Nobelpreis für sie ist auch eine literarische Richtungsentscheidung.
In einem Essay erinnert sich Annie Ernaux an zwei Sätze, die ihr Vater in ihrer Kindheit zu ihr gesagt hat. „Bücher, das ist was für dich. Ich brauche sie nicht, um zu leben.“ Ihr Vater war Kneipenwirt, mit zwölf hat er auf einem Bauernhof gearbeitet. „Diese Worte“, schreibt Ernaux, „haben die Zeit überdauert, sie stecken tief in mir. Wie ein Schmerz oder eine unerträgliche Wirklichkeit.“
In dieser kleinen Szene steckt viel von dem Verfahren, mit dem diese Autorin zuletzt tiefen Eindruck bei vielen Leser*innen hinterlassen und darüber hinaus bei vielen Schriftsteller*innen so etwas wie zumindest eine Verschiebung, wenn nicht sogar eine untergründige Revolution ausgelöst oder wenigstens bestärkt hat. Anders als noch bei ihrem Vater sind die Sphären „Bücher“ und „Leben“ in ihrem Werk eben nicht getrennt.
Dem, was „tief in ihr steckt“, geht Annie Ernaux schreibend nach. Und das sind nicht nur Worte. Es sind auch Ereignisse wie eine Abtreibung oder ein Wutausbruch des Vaters am Essenstisch. Und es sind die Gedanken und Gefühle, die man hat, wenn man in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts als Frau und Bildungsaufsteigerin in der französischen Gesellschaft aufwächst.
Als „Ethnologie ihrer selbst“ hat das Annie Ernaux einmal bezeichnet, an anderer Stelle auch als „Archäologie in eigenen Sachen“. Die unterschwellige Revolution im Schreiben, die sie damit ausgelöst hat, trägt seit einigen Jahren einen Namen: „Autofiktion“. Viele sagen dazu inzwischen Knausgård und schlagen die Hände über dem Kopf zusammen: Das sei doch nur Ich-Spiegelei. Bei Annie Ernaux aber kann man sehen, was zentral und wichtig an diesem Trend ist.
Starke Werkzeuge zum Verstehen
Die Themen, über die sie schreibt, wären noch vor wenigen Jahren als „Gedöns“ oder „Frauenthemen“ gelabelt worden, doch Annie Ernaux hat entscheidend dazu beigetragen, sie ins Zentrum der Literatur zu rücken. Es sind Frauenthemen, ja, und zugleich zeigt sich in der Genauigkeit, mit der Annie Ernaux sie beschreibt, wie vielschichtig, funkelnd und auch traurig so ein individuelles Leben sein kann. Was die Literaturwissenschaftlerin Hanna Engelmeier in der taz geschrieben hat, gilt: „Annie Ernaux’ kollektive Autobiografien sind unendlich starke Werkzeuge dafür, individuelle Leben zu verstehen.“
„Erinnerungen eines Mädchens“, „Die Scham“, „Die Jahre“, „Das Ereignis“, so heißen diese Bücher, die so etwas wie der Maßstab geworden sind, an dem sich ein gesellschaftsbewusstes literarisches Schreiben orientieren kann. Aus dem Abstand, den das Leben mit sich bringt, erinnert sich diese Autorin ganz konkret und ganz kleinteilig an einschneidende Ereignisse ihrer frühen Jahre und bemüht sich dabei, sowohl ihrem damaligen Erleben, auch wenn es schambesetzt ist, gerecht zu werden als auch dem Abstand, den die inzwischen 82-jährige Autorin von ihr trennt. Dabei geht es ganz direkt um die konkreten Wörter, die gefallen sind, die Gerüche, die da waren, und die damit verbundenen Gefühle.
Dass Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird, lässt sich dabei auch als literarische Richtungsentscheidung verstehen. Ausgezeichnet werden hier keine grandiosen historischen Romanpaläste, sondern die Ernsthaftigkeit des Nachspürens von konkretem, individuellem Leben. Verbunden ist das mit einer Auszeichnung einer besonderen literarischen Sprache – Ernaux’ Sprache ist unsentimental, sezierend, genau. Und es ist durchaus auch eine politische Entscheidung, mindestens in dem Sinn, dass das Private – altes Wissen der gesellschaftlichen Bewegungen – immer auch politisch ist.
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