Übersetzerin von Annie Ernaux: Ihre Stimme auf Deutsch

Sonja Finck ist die deutsche Übersetzerin von Annie Ernaux. Dass die Nobelpreisträgerin hier so viel gelesen wird, liegt auch an ihr. Ein Porträt.

Ein Doppelportrait Annie Ernaux und ihre deutsche Übersetzerin Sonja Finck

Annie Ernaux (r.) und ihre Übersetzerin Sonja Finck im August auf dem Literarischen Colloquium Berlin Foto: Stefan Boness/Ipon

Vom Nobelpreis für Annie Ernaux erfuhr Sonja Finck, da war sie gerade auf dem Weg, ihre Patentochter von der Schule abzuholen. Sie habe das dann natürlich trotzdem gemacht, die Patentochter aber vor die Wahl stellen müssen: Statt Spielen und Eis essen Tante Sonja bei Radiointerviews zuschauen oder lieber gleich zurück nach Hause?

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Die Patentochter entschied sich für die Radiointerviews und schaute Finck über Stunden beim Live-on-Air-Sein zu, bis sie irgendwann nüchtern feststellte, dass die ja alle das Gleiche fragten. Wie Frau Ernaux so sei, was ihre Sprache ausmache, für Finck heute noch Champagner oder Crémant? – Scharfsinnig und unprätentiös; die Nüchternheit, die Pointiertheit; Crémant!

Tatsächlich wurde es dann einfach Sekt, und zwar so gut wie alles, was sie davon in der Kreuzberger Kneipe Südblock vorrätig hatten. Dieser 6. Oktober war der Vortag ihrer Rückreise nach Kanada, sie hatte für den Abend sowieso all ihre Freun­d:in­nen eingeladen. Nun wurde es halt eine Feier Annie Ernaux und ihrer deutschen Übersetzerin zu Ehren.

Sonja Finck ist 44 Jahre alt, aufgewachsen zwischen Ruhrgebiet und holländischer Grenze, heute lebt sie die Hälfte der Zeit mit ihrer Frau, einer Dolmetscherin, in Gatineau in der Provinz Québec, die andere Hälfte in einer seit vielen Jahren in selber Besetzung bestehenden Siebener-WG in Berlin am Schlesischen Tor. Bei unserem Gespräch auf Zoom trägt sie Kapuzenpulli und braucht hin und wieder einen Fisherman’s Friend, die Stimme ist seit einer Grippe noch nicht ganz wieder da.

Auf der Zirkusschule in Toulouse

Hätte ihre Liebe zu Sprache und Literatur sie nicht immer wieder dort eingeholt, wo es sie als junge Frau so hinverschlug, wäre Sonja Finck heute wahrscheinlich Artistin in Frankreich. Nach dem Abi ließ sie sich in Toulouse an einer Zirkusschule ausbilden und verdiente viele Jahre mit Jonglage ihr Geld. In Frankreich ist Zirkus eher Theaterkunst als Rummel, das gefiel ihr. Mit dem Jonglieren finanzierte sie sich später das Übersetzungsstudium an der Uni Düsseldorf.

Das Gefühl für Rhythmus, Timing, Dramaturgie: Finck glaubt, dass es Überschneidungen gibt zwischen dem, was sie im Zirkus lernte und was es zum Übersetzen braucht. „Man denkt, das Schreiben, das Übersetzen ist nur geistige, verkopfte Arbeit, aber es hat meiner Meinung nach auch was Körperliches.“

Ihre Diplomarbeit schrieb sie über die algerische Schriftstellerin Assia Djerbar und das in der Übersetzungslehre oft anvisierte Ziel der „Unsichtbarkeit“. Finck hält das für unrealistisch und nicht gänzlich erstrebenswert: Sie sei kein leeres Gefäß, durch das ein Text durchfließe, „ich bin ein Mensch mit eigener Geschichte“, individuellem Erfahrungsschatz.

Wenn sie als deutsche Stimme Annie Ernaux’ bezeichnet wird, findet sie das nicht anmaßend oder abgedroschen, sondern zutreffend. Schließlich hat sie alles übersetzt, was zuletzt von Er­naux auf Deutsch erschien. Und gerade in „Die Jahre“ sei auch viel von Sonja Fincks sprachlicher Sozialisation, ihrer biografischen Prägung, „meinem In-der-Zeit-verankert-Sein“, eingeflossen.

„Die Jahre“, das Buch, mit dem Er­naux 2017 in Deutschland endgültig populär wurde, ist ein Panorama der französischen Gesellschaft, eine Zeitreise von den Vierzigern bis 2006, Annie Ernaux reiht politisch, kulturelle und sportliche Ereignisse aneinander, betreibt ausführliches Namedropping prägender Persönlichkeiten Frankreichs.

Dass das deutsche Publikum sich angesichts französischer Insider nicht ausgeschlossen fühlt, liegt vor allem an Sonja Finck. Elegant lässt sie hier und dort historischen Kontext und Minimalerklärungen einfließen, ohne, wie sie es sagt, „pädagogisch auszuarten“.

Auf den ersten Seiten macht Ernaux anhand der Idiome ihrer Kindheit, ihrer Herkunft, eine Welt auf, „in der man“, wie es im Buch heißt „alles wörtlich nahm“. Sprüche, „weder geistreich noch lustig, sondern irritierend flach“, die der Erzählerin heute noch manchmal rausrutschen und letztlich das einzig Übriggebliebene dieses Familienlebens von damals sind.

Die „syntaktische Ebene“

„Lebensende mit drei Buchstaben: Ehe, Einbildung ist auch eine Bildung, zum Bleistift, erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.“ Dazu: rassistische Witze, sexistisches Zeug.

Die deutsche Leserin liest an der Stelle, was Finck in den Achtzigern auf dem Schulhof so hörte, was der fiktive „betrunkene Onkel“ auf der Familienfeier von sich gegeben haben könnte, so manche noch aus den Fünfzigern stammenden Ausdrucksweisen ihrer Großmutter. Das sei natürlich hochindividuell. „Käme ich aus einer anderen Generation und wäre beispielsweise in Ostdeutschland geboren, würden allein die Schulhofwitze schon ganz anders klingen.“

Ob sie mit ihren Entsprechungen den gleichen Effekt erzielt wie auf die französische Durchschnittsleserin, recherchiert sie in ihrem Umfeld. Sonja Finck ist in ihren Übersetzungen also ganz eindeutig anwesend, versucht aber, sich bestmöglich an die Umgebung anzupassen.

Stil und Ton zu treffen sei natürlich das Allerwichtigste, aber dafür müsse es zuvorderst „auf syntaktischer Ebene stimmen“. Und die ist im Französischen nicht ganz so wie im Deutschen. Fran­zö­s:in­nen bringen die Hauptinformation des Satzes gerne in der Mitte unter, Deutsche machen das am Ende. Finck muss also immer überlegen, welchen Effekt Ernaux mit ihrem Satz erzielen wollte und wie sich das übertragen lässt.

Ernaux’ nüchterner Stil

Mit Wort für Wort, so wie viele sich Übersetzen vorstellen, habe das nichts zu tun. Die deutsche Sprache habe außerdem wenig Toleranz für Verschwommenes und Vages, das klinge dann schnell kitschig und schlimm. Ernaux’ nüchterner Stil sei, was das angeht, also nicht so herausfordernd, dafür müsse aber jedes Wort sitzen.

Sowieso arbeitet Sonja Finck mit autofiktionaler Literatur genauer. Ernaux nutzt in vielen ihrer Bücher private Fotos, mit deren Beschreibung sie ein neues Kapitel einleitet. Finck hat die meisten von ihnen in einem Ordner auf ihrem Laptop, Ernaux schickt sie ihr.

Sie müsse die Bilder mit eigenen Augen sehen, weil die Adjektive der Autorin allein oft nicht reichten. Gerade wenn Worte verschiedene Bedeutungen haben, müsse Finck für sich selbst entscheiden, ob Ernaux „matt“ oder „düster“ meine, oder ob die Mutter am Ufer der Seine auf einer Bank oder einer Picknickdecke sitze.

Der Boom des Themas Klassismus freut sie. Da bricht etwas auf, sagt Sonja Finck

Beim Übersetzen ist sie ständig über Google Street View in Lillebonne, Yvetot oder Rouen unterwegs, geht Ernaux’ Schulwege ab, schaut sich an, wie die Pflastersteine beschaffen oder die Fenster an der Fassade des Hauses ihrer Kindheit angeordnet sind. Wenn sie einen Ausdruck einfach nicht zu fassen kriegt, Ungenauigkeiten sich nicht ausräumen lassen, schickt sie Ernaux Fragelisten, die die Autorin schnell und gründlich beantwortet.

Finck und Ernaux sind sich schon oft begegnet, saßen auf Literaturfestivals und Lesungen gemeinsam auf Bühnen. 2019, als Sonja Finck für das Gesamtwerk ihrer französischen Übersetzungen mit dem Eugen-Helmlé-Preis ausgezeichnet wurde, reiste Ernaux für die Preisverleihung an. Sie wisse das Leben zu leben und man könne sich fantastisch mit ihr unterhalten, sagt Sonja Finck.

Mittlerweile übersetzt sie auch Édouard Louis, dessen literarische Auseinandersetzungen mit Armut und seinem Aufstieg ins bürgerliche Milieu denen Ernaux’ ähnelt. Finck freut, dass das Thema Klassismus in der Literatur aktuell so einen Boom erfährt, sie habe das Gefühl, da werde etwas aufgebrochen.

Dadurch, dass Finck die Hälfte der Zeit an einem Ort lebt, an dem Au­to­r:in­nen wirken, die man in Deutschland nicht unbedingt auf dem Zettel hat, ist sie Literaturvermittlerin auf mehreren Ebenen. Sie übersetzt nicht nur, sondern entdeckt immer wieder auch Werke, die den deutschen Markt ihrer Meinung nach bereichern würde. Also eine Art Literaturagentin, „aber ohne mich dafür bezahlen zu lassen“.

Lieber Rosinen rauspicken als Literaturagentin

Es sei schon vorgekommen, dass Québecer Verlage sie in dieser Funktion engagieren wollten, aber dann würde sie ja das gesamte Sortiment vertreten müssen. „Lieber picke ich mir die Rosinen raus, von denen ich dann in Deutschland wirklich authentisch begeistert berichte.“

Eine dieser Rosinen brachte sie zu Annie Ernaux: Weil es Finck gelang, eine Übersetzung der kanadischen Schriftstellerin Jocelyne Saucier bei Suhrkamp unterzubringen, kam sie für die Französin ins Gespräch.

Immer häufiger übersetzt Finck auch indigene Autor:innen, deren Literatur in Kanada aus kolonialistischen Gründen noch recht jung ist. In Kanada sei die Geschichtsaufarbeitung und der gegenwärtige gesellschaftliche Umgang mit indigenen Menschen natürlich ein Riesenthema, „in Deutschland hört man nur mal was, wenn wieder ein Massengrab an einem ehemaligen Internat gefunden wurde“.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Sie fragt sich, wie vorherrschend die Karl-May-Klischees in den Köpfen immer noch sind, und ist sicher, dass kanadische Literatur sich sehr gut anbietet, um da einige Modernisierungen vorzunehmen.

Vor ein paar Wochen hat sie „Der junge Mann“ abgeschlossen, Annie Ernaux’ im Frühjahr erscheinendes Buch über das Verhältnis einer Frau Mitte 50 mit einem jungen Studenten. Viele große Themen auf nur 47 Seiten, die laut Finck ganz besonders zeigten, dass Ernaux eine Meisterin der sprachlichen Verdichtung sei. Dass diese Verdichtung auch im Deutschen nicht erdrückt, schafft Sonja Finck.

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