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Winter der Entscheidung

Deutschland und sein Wirtschaftsminister müssen sich warm anziehen: Wenn die Temperaturen sinken, wird die Debatte hitziger. Robert Habeck ist nach der Pleite mit der Gasumlage unter Druck. Er hofft auf milde Witterung und den Triumph der grünen Energie

Ob Ursula von der Leyen und Robert Habeck am Montagabend bereits Thermounterwäsche trugen, ist nicht überliefert Foto: Britta Pedersen/dpa/picture alliance

Von Bernhard Pötter

Ein Sommerabend in Berlin: Im Innenhof seines Ministeriums begrüßt Wirtschaftsminister Robert Habeck am Montagabend auf einer Bühne vor Gästen die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen. Es ist der Auftakt zu den „Gesprächen zur Transformation“ des grün geführten Ministeriums über die Zukunft von Wirtschaft und Klimaschutz. Offizielle Frage des Abends: „Wie gelingt das klimagerechte Europa?“ Habeck und von der Leyen reden über Versorgungskrise, Strommarkt und Gasumlage – über eine Transformation, die in ihrer Wucht und Schnelligkeit so nicht geplant war. Und über allem schwebt die Frage: Wie kommt Deutschland durch den nächsten Winter?

Je später es bei einbrechender Dunkelheit wird, desto kälter wird es im idyllischen Innenhof des Ministeriums. Die Zuschauer hüllen sich in Jacken und Pullover. Und rund um die Veranstaltung wird klar: Deutschland muss sich vor allem für das nächste halbe Jahr warm anziehen. Vor dem Land und seinem Wirtschaftsminister liegt ein Winter der Entscheidung: Wenn es gut geht, spart das Land gewaltig Energie, zügelt die explodierenden Kosten für Wärme und Strom, verteilt die Kosten dafür halbwegs solidarisch und macht einen großen Schritt dabei, Geld und Energie zu sparen und das Klima zu schonen.

Wenn es allerdings schlecht läuft, sinkt bei den Menschen mit den Temperaturen auch die Bereitschaft, sich einzuschränken, müssen wichtige Branchen der Industrie die Produktion einstellen und zerfleischt sich die Ampelkoalition in internem Streit.

Der hat bereits begonnen. Die Gas­um­lage, mit der Habeck für die sichere Versorgung Energiekonzerne retten will, ist im ersten Anlauf misslungen: Von den knapp 34 Milliarden Euro, die alle Gaskunden jährlich zahlen sollen, würden auch knapp 10 Prozent an Konzerne gehen, die nicht bedroht sind. Neben der Opposition empörten sich auch Habecks Koalitionspartner: „Handwerkliche Fehler“, hieß es von der SPD, die FDP verlangte Korrekturen. Habeck hat Fehler eingeräumt und will die Umlage so verändern, dass „Trittbrettfahrer“ ausgeschlossen werden.

Die Debatte kocht auch deshalb so hoch, weil SPD und FDP nach Monaten des grünen Höhenflugs einen Schwachpunkt bei Habeck finden. Die Grünen stehen in Wahlen und Umfragen gut da. Vizekanzler Habeck überstrahlt den Kanzler bei vielen Gelegenheiten. Vielleicht lobte er deshalb bei der Kabinettsklausur in Meseberg demonstrativ, „wie gut es ist, dass Olaf Scholz diese Regierung führt“. Und die Hauptstadtmedien springen lustvoll auf den politischen Schlagabtausch in der Regierung an. Das ist ja auch einfacher, als den Mechanismus der „Merit Order“ zu erklären, der den Strompreis bei exorbitanten Gaspreisen in die Höhe treibt.

Habeck selbst trägt zur Verwirrung bei: Zusammen mit von der Leyen redet er am Montagabend von neuen Regeln auf dem EU-Strommarkt, bleibt aber wolkig. Die Kommissionspräsidentin verspricht einen aktuellen „Eingriff“ in die Preise und eine „grundsätzliche Reform des Strommarkts“, ein paar Tage später kommt ein Vorschlag dazu aus Brüssel. Beide machen aber keine konkreten Angaben, wie ein anderer europäischer Strommarkt aussehen könnte. Im Publikum schütteln darüber selbst grüne Energieexperten die Köpfe.

Diese Debatten verschleiern andere, konkrete Sorgen: Die deutsche Energieversorgung wird in den kommenden zwei Wintern eine Gratwanderung. Es brauche „höchste Anspannung“, so Habeck, es gebe keine Entwarnung, auch wenn die Gasspeicher inzwischen zu etwa 84 Prozent voll sind.

Aber um problemlos über den Winter zu kommen, muss vieles zusammenkommen: Deutschland muss nach Ansicht von Experten 20 bis 25 Prozent beim Gasverbrauch einsparen; die ersten beiden schwimmenden Gasterminals (FSRU) müssen rechtzeitig zum Jahresende bereit sein; staatliche Hilfsprogramme gegen exorbitante Gas- und Stromrechnungen müssen die Menschen beruhigen; die Industrie muss energieintensive Produkte wie Dünger und Aluminium nicht mehr hier produzieren, sondern importieren; der Winter darf nicht zu kalt und zu lang werden; Frankreich muss seine stillgelegten Atomkraftwerke wieder ans Netz bekommen; auf dem Nordatlantik muss das Wetter ruhig bleiben, damit die LNG-Tanker nach Europa gelangen. Ziemlich viele Unwägbarkeiten.

Habeck sitzt gleich mehrfach in der Klemme: Am einfachsten für eine Entlastung der Bevölkerung wäre eine Abschöpfung der Konzerngewinne oder höhere Steuern – beides verhindert FDP-Finanzminister Christian Lindner. Eine geplante Korrektur des Strommarkts dauert lange und birgt Risiken von Klagen und Verzerrungen am Markt. Eine in seinem Ministerium debattierte Deckelung der Strompreise wiederum würde vor allem die Gewinne der Erneuerbaren treffen – die die Regierung aber stark ausbauen will.

Nächstes Dilemma: Die längeren Laufzeiten für die letzten drei AKWs. Das Ergebnis des von Habeck in Auftrag gegebenen „Stresstest“ für das Stromnetz ist zwar noch nicht öffentlich, soll aber ergeben haben, dass zwei der Meiler länger laufen müssen, erfuhr das Handelsblatt aus Branchenkreisen. Denn die Pumpspeicherwerke sind durch die Dürre nicht voll einsatzfähig, Kohlekraftwerke warten wegen Niedrigwassers auf Brennstoff, in Frankreich liegt die halbe AKW-Kapazität still. Der bayerische CSU-Ministerpräsident Markus Söder trommelt für einen Weiterbetrieb der deutschen AKWs, weil er weiß, wie unpopulär das bei Habecks Partei und Wählern ist. Es stört ihn nicht, dass Bayern durch fehlende Windkraft einen Teil des Problems verursacht hat. Und er will längere AKW-Betriebszeiten, obwohl er kategorisch ausschließt, dass Atommüll in Bayern gelagert wird. „Ökologischer Patriotismus“, den Habeck im Frühjahr bei Söder anmahnte, sieht anders aus.

Alles muss passen: Sparen, Energiegeld, Frankreichs AKWs, Industrie-Umbau, ein warmer Winter

Die grüne Basis und die Umweltverbände machen mobil gegen einen möglichen „Streckbetrieb“. Martin Kaiser, Geschäftsführender Vorstand von Greenpeace, warnt: „Die Meiler dürfen über das Ende 2022 keinen Tag länger laufen, denn ansonsten wäre die Forderung nach einem Weiterbetrieb nicht mehr aufzuhalten.“ Andererseits: Hält Habeck sich an geltendes Recht und lässt die AKWs zum Jahresende stilllegen – wie groß wäre dann der ökonomische und politische Schaden, wenn ein kalter Winter und zu wenig Wind und Sonne das Land in einen kalten und dunklen Blackout stürzen?

Es könnte aber auch gut gehen – und sogar besser werden: Die kommenden beiden Winter könnten zu einem echten Wendepunkt werden, sagt Frank Peter, Direktor für Industriepolitik beim Thinktank Agora Industrie: Die Industrie sei auf gutem Weg, 20 Prozent und mehr Gas zu sparen, ähnliche Einsparungen brauche es auch bei Privathaushalten und bei Gewerbeimmobilien. „Wenn die Politik jetzt einen klugen Instrumentenmix auf den Weg bringt, der etwa Klimaschutzverträge und Sonderabschreibungen für Effizienzinvestitionen umfasst und den Ausbau der Erneuerbaren zügig voranbringt, wäre das ein starker Impuls für die Transformation“, sagt Peter. Schon jetzt würden Firmen Energie sparen und Alternativen zum Gas suchen. „Was wir bisher beim Energiesparen nur in Sonntagsreden gehört haben, wird bei vierfachen Preisen Realität“, sagt Peter. Der Winter 2022 könnte wie die Ölkrise 1973 schockartig den Verbrauch und dann auch die Preise senken – „und uns auf ein deutlich niedrigeres Niveau bei Gasverbrauch und Ausgaben bringen“.

Auch Robert Habeck spricht beim Talk zur „Transformation“ von Hoffnungszeichen. Der Umstieg der Industrie auf grünen Wasserstoff sei noch vor einem Jahr ein Wunsch der Politik gewesen. „Heute ist das marktgetrieben“, sagt er, „jede Kilowattstunde grünen Wasserstoffs ist billiger als Gas.“ Unter der Oberfläche von mehr Gas und Kohle gebe es in Europa „einen Hochlauf von klimaneutraler Technik und erneuerbaren Energien und Wasserstoff, wie wir ihn vor neun Monaten nicht hätten voraussehen können“. Wenn wir „klimapolitisch diesen und nächsten Winter überstehen“, werde die Energielandschaft deutlich verändert sein, schneller als eigentlich erwartbar.

Habeck zitiert noch den Ökonomen Joseph Schumpeter, der von „schöpferischer Zerstörung“ spricht, die bei grundlegenden Veränderungen das Alte abstreift und dafür Neues schafft. Unklar bleibt, wen Habeck damit meint: Die ganze Gesellschaft – oder auch seine Regierungskoalition.

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