Freiburger Foto-Projekt: Vielfalt der Vulva
In der Kunst taucht die Vulva immer wieder auf. Aber an realistischen Abbildungen fehlt es nach wie vor. Verschiedene Fotoprojekte wollen das ändern.
Tin* zieht ihre Unterhose aus, hebt ihren bunten Rock hoch und setzt sich breitbeinig auf den Vulva-Thron. So nennt das Kollektiv Vulvaversity – ein Wortspiel aus Vulva und Diversity – den Sessel, auf dem es die Vulven ihrer freiwilligen Modelle fotografiert. Tin heißt eigentlich anders. Sie und Fotografin Gwen Weisser sind allein im Atelier, die Fotoecke ist abgetrennt durch einen dicken blauen Vorhang.
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Tin lässt sich zum ersten Mal fotografieren. Sie hält sich die Hand vor den Mund und kichert. Sie legt ihren Rock auf den Bauch und rutscht mit dem Po nach unten, näher an die Kamera. „Wenn du willst, kannst du deine Vulvalippen noch auseinanderziehen“, schlägt Weisser der jungen Frau vor. Dann stellt sie die Kamera ein und klick, Vulva fotografiert.
Gegründet 2019 ist Vulvaversity ein Freiburger Kollektiv, welches die Vulva „aus dem politischen und kulturellen Exil holen möchte“, wie Indra Küster, eine der vier Gründerinnen, der taz erzählt. Dafür fotografieren sie Vulven und machen aus den Fotos unter anderem einen Kalender – 365 Vulven von unten, nah und anatomisch im Hochformat. Oberschenkel oder Bauch sind nicht zu sehen, so wirkt die Vulva losgelöst vom Menschen.
Lange Zeit wurde das äußere weibliche Geschlechtsorgan diffamiert und verleugnet, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal in ihrem Buch „Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“. Deshalb werde die Vulva einfach nicht dargestellt, kritisiert Küster. „Und wenn, dann beschränkt es sich auf eine vorpubertäre Vulva, ohne Haare, ohne größere innere Vulvalippen, ausgeprägter Klitorisvorhaut oder Pigmentierung. Oder sie wird sexualisiert.“ Abgesehen vom medizinischen Kontext sei es nur in der Pornografie üblich, Vulvafotos zu finden. „So werden sie schnell mit Sexualität in Verbindung gebracht, statt sie einfach als Abbildung eines Körperteils zu sehen“, meint Küster. Das will das Kollektiv ändern.
Die Vulva wird Mainstream
Mit ihrer Ausstellung „Lippenbekenntnisse“ möchte auch die Schweizer Fotografin Rahel Locher Aufmerksamkeit für die Vielfalt der Vulva schaffen. Auf den Schwarz-Weiß-Fotos sind nur die verschiedenen Lippenformen zu erkennen, der Rest ist dunkel. „Ich wollte nicht, dass man mehr Körper sieht, weil das bei den Betrachter:innen die Fantasie anregt“, erklärt die Fotografin die besondere Lichtsetzung. Anders als bei Vulvaversity geht es Locher besonders um die Ästhetik: Wenn Menschen mit Vulva aus einer von Lochers Fotosessions kommen, sollen sie sich empowert fühlen. „Sie sollen sich auf den Fotos schön finden und merken, wie einzigartig sie sind“, sagt Locher. Damit möchte sie vor allem junge Frauen erreichen.
Auch die australische Fotografin Ellie Sedgwick will zeigen, wie verschieden die Vulva sein kann. Dafür fotografiert sie Vulven aus zwei Perspektiven: von unten – wie Locher und Vulvaversity – und zusätzlich noch von vorne. So sehen sich Menschen mit Vulva auch, wenn sie stehend in den Spiegel schauen. Insbesondere in dieser Position wird erkennbar, wie unterschiedlich lang Vulvalippen wirklich sind.
Die Vulva dient feministischen Künstler:innen schon seit den 1960ern als Motiv. Heute ist sie in der Popkultur sehr präsent: als Gipsabdruck im Museum, als kämpferisches Graffiti an jeder Straßenecke, in der Netflix-Serie „Sex Education“ auf Cupcakes. Inzwischen ist die Vulva aber zum Mainstream geworden: In jeder Form und Farbe als Ohrring oder Kette, auf dem Jutebeutel oder dem T-Shirt im Etsy-Shop zu erwerben. Es sind aber symbolische Abbildungen, an realistischen fehlt es nach wie vor. Ein Grund dafür: „Fotos von der Vulva werden oft als pornografisches Material gewertet, unabhängig davon, ob die Vulva erigiert ist oder nicht“, so Küster. Deshalb gebe es beispielsweise in Schulbüchern nur Zeichnungen, medizinische Illustrationen oder Grafiken – aber keine Fotos.
In Onlineforen, auf Social Media und in Dokus berichten Frauen, dass sie sich oft gefragt hätten, ob ihre Vulva „normal“ ist. Dafür macht Locher Schönheitsideale verantwortlich, die durch Zeitschriften wie die Bravo, durch Pornos oder sexualisierter Werbung transportiert werden. Dort ist die Vulva fast kindlich dargestellt, rasiert, glatt, straff und mit kurzen Labien – fernab der Realität. Das sind ästhetische Idealvorstellungen, der nur wenige Vulven gerecht werden.
Denn Vulven sind sehr vielfältig. Das ist das Fazit der bisher größten Studie zur Anatomie der Vulva. Forscher:innen des Luzerner Kantonspitals wollten 2018 herausfinden, wie eine „normale“ Vulva aussieht. Dazu haben sie über 600 Vulven vermessen. Anatomisch waren die Vulven jedoch einfach zu unterschiedlich, um eine Normvulva zu definieren.
Diese Erkenntnis kommt spät: Seit Anfang der 2000er-Jahre boomt die Intimchirurgie. Weltweit haben intimchirurgische Eingriffe inzwischen die höchste Wachstumsrate – in Deutschland um jährlich 14 bis 17 Prozent, laut Vereinigung der deutschen ästhetisch-plastischen Chirurgen (VDÄPC), das sind im Durchschnitt jährlich knapp 2.500 Eingriffe. Dabei werden die inneren Vulvalippen gekürzt, die Klitorisvorhaut wird entfernt und sogar die Vagina gestrafft – aufgrund von Beschwerden, aber auch aus ästhetischen Gründen.
Selbstoptimierung entgegenwirken
Dass sich so viele Menschen und vor allem Frauen unter 30 für solch einen Eingriff entscheiden, war für Vulvaversity, Rahel Locher sowie für Ellie Sedgwick Auslöser für ihr Engagement. „Ich möchte mit meiner Ausstellung dieser ständigen Selbstoptimierung entgegenwirken und aufzeigen, dass es keine ‚Norm‘ in diesem Sinne gibt“, sagt Locher. Sedgwick erzählt auf ihrer Webseite, sie habe sich sogar selbst fast operieren lassen – ohne genau zu wissen, was genau sie ändern wollte. Heute kritisiert sie solche Eingriffe vehement: „[Plastische Chirurgen] profitieren von diesen Unsicherheiten“ schreibt sie in einem Instagram-Post.
Um mit Falschinformationen, Unsicherheit und Scham rund um die Vulva und die weibliche Sexualität aufzuräumen und die Selbstbestimmung von Menschen mit Vulva zu fördern, bemüht sich das Vulvaversity-Kollektiv deshalb zusätzlich um sexuelle Aufklärung. „Ärzt:innen und Sexpädagog:innen wollten für ihre Arbeit unsere Fotos nutzen, weil sie so wenig zur Verfügung haben, die sie ihren Patient:innen und Schüler:innen zeigen können“, sagt Küster.
Daraus entwickelte sich schließlich das „Vulva-Museum“, ein fächerartiger Katalog mit 60 Vulven. Rasiert oder unrasiert, operiert, menstruierend, trans, intersex oder nach einer natürlichen Geburt – jedes Fotos ist mit einer Legende versehen. „Dank dieser Symbole kann man noch mehr vergleichen und besser einordnen, was man sieht“, so Küster. So seien die Fotos besser für Aufklärungsarbeit geeignet.
Außerdem bietet das Kollektiv nun auch Aufklärungsworkshops für Jugendliche an, damit die nächste Generation mit mehr Wissen über die Vulva ins Erwachsenenleben starten kann.
Im Vulvaversity-Kalender sind Frauen über 50, nichtweiße Frauen sowie trans* oder nichtbinäre Menschen unterrepräsentiert. „Wir hätten gerne noch mehr Diversität, beziehungsweise Realität gezeigt“, meint Küster. Auch Locher bedauert, dass sie meist weiße cis Frauen porträtiert. „Dafür haben wir beim Vulva-Museum besonders auf Diversität geachtet, zum Beispiel in Bezug auf Alter und Hautfarbe“, sagt Küster. Auffallend ist jedoch, dass nur rund ein Drittel der Vulven unrasiert ist.
„Ich liebe es“, sagt Tin begeistert. Sie hält das Foto ihrer Vulva in der Hand. Zusammen mit Vulvaversity-Fotografin Gwen Weisser hat sie eins ausgesucht und gleich ausgedruckt – eine Kopie darf jedes Modell mit nach Hause nehmen. „Das hänge ich mir auf“, sagt sie. Tin habe eine enge Verbindung mit ihrer Vulva, erzählt sie. Aber das sei nicht der Fall bei allen, die sich fotografieren lassen, meint Weisser. „Die Vulva verbindet man mit vielen Geschichten. Auch mit traumatischen“, sagt sie.
Nach der Fotosession tauscht sich Tin noch mit anderen aus. Im Innenhof sitzen sechs Frauen und erzählen, was sie mit ihrer Vulva verbinden. Wie sie das Fotoshooting erlebt haben. Was sie alles schon früher gewusst hätten. „Diese Shootings sind immer so besonders, weil sich alle ihre Vulva fotografieren lassen. Das verbindet“, sagt Küster.
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