„Wir haben eine Verantwortung“

Daniela Cavallo ist als VW-Betriebsratschefin eine der mächtigsten Frauen in der Autoindustrie. Neben dem Umstieg auf die E-Mobilität beschäftigen sie die Menschenrechte an Produktionsstandorten – und der Ukrainekrieg

Foto: Mark Mühlhaus/attenzione

Interview Anja Krüger
und Pascal Beucker

taz am wochenende: Frau Cavallo, vor rund einem Jahr haben Sie den Betriebsratsvorsitz bei Volkswagen von Ihrem Vorgänger Bernd Osterloh übernommen. Was war bisher Ihr härtester Kampf?

Daniela Cavallo: Das kann ich so gar nicht sagen. Wir kommen hier bei Volkswagen von einer Krise zur anderen, angefangen mit der Coronapandemie bis hin zum Ukrainekrieg, der erst mal per se uns alle tief bewegt. Hinzu kommt als Dauerthema die Transformation Richtung Elektromobilität und Digitalisierung.

Was für Auswirkungen hat der Ukrainekrieg auf Volkswagen?

Ich möchte etwas Positives vorwegstellen: In der Belegschaft gibt es eine riesige Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Die Kolleginnen und Kollegen haben mittlerweile über 1,6 Millionen Euro an die UNO-Flüchtlingshilfe gespendet – so viel wie nie zuvor in der Unternehmensgeschichte. Das finde ich echt überwältigend. Es gibt viele weitere Initiativen. Wir haben zum Beispiel über die Logistik organisiert, dass Lkw, die Teile herbringen, auf der Rückfahrt Hilfsgüter mitnehmen.

Und wie sind die Auswirkungen auf die Produktion?

Wir haben in der Westukraine eine Konzentration von Lieferanten, die Kabelstränge für den Volkswagenkonzern herstellen. Die können erst mal nicht wie gewohnt voll produzieren. Deshalb hatten wir Produktionsausfälle und mussten wie in der Coronapandemie in Kurzarbeit gehen. Da mussten schnell Ideen in der zuständigen Task Force und im Einkauf entwickelt werden. Kabelbäume werden jetzt zum Beispiel verstärkt in Nordafrika hergestellt. Man muss dazu aber auch sagen, dass die Halbleiterkrise anhält, die wir ja schon vor dem Krieg in der Ukraine hatten. Die Kabelstrangproblematik überdeckte das ein Stück weit. Entgegen der Annahme, dass wir jetzt durch sind mit dieser ganzen Geschichte, müssen wir doch wieder über Produktionsausfallzeiten sprechen.

Zu einem anderen Problemfall: Zum ersten Mal hat die Bundesregierung jetzt eine Bürgschaft für Chinageschäfte von VW abgelehnt, mit dem Hinweis auf den Umgang mit der muslimischen Bevölkerungsgruppe der Uiguren. Ist das gerechtfertigt in Ihren Augen?

Ich will mir nicht anmaßen zu bewerten, ob die Bundesregierung richtig reagiert hat. Aber feststeht: Mich erschüttern diese Berichte über Menschenrechtsverletzungen sehr. In Xinjiang geschieht Unrecht und die Weltgemeinschaft weiß das. Wir haben als Volkswagen eine Verantwortung. Der versuchen wir nachzukommen, indem wir uns seit Jahrzehnten als Betriebsrat dafür eingesetzt haben, dass VW Standards definiert – etwa die Sozialcharta als unsere Grundsatzerklärung zu Menschenrechten und Wirtschaft. Aber auch die von uns vorangetriebenen Regelungen zu Leiharbeit, Lieferantenbeziehungen und Nachhaltigkeit in der Lieferkette. Menschenrechte sind da integraler Bestandteil. Dazu hat sich auch das Unternehmen bekannt. Und dazu stehen wir als Betriebsrat, weltweit. In der Vergangenheit war es so, dass wir regelmäßig an andere Standorte gefahren sind und uns mit den Arbeitnehmervertretungen sowie dem Management dort ausgetauscht haben. Das ist mit der Pandemie momentan allerdings schwierig.

War der Betriebsrat auch in China?

Ja klar. Wir haben einen Verbindungs- und Koordinationsausschuss gegründet mit den chinesischen Gewerkschaftsvertretungen, die in den verschiedenen Standorten aktiv sind. Vieles ist dort mit der allgegenwärtigen KP ja anders als in Europa, wo es innerbetriebliche Mitbestimmung gibt im engen Schulterschluss mit gewerkschaftlicher Mitbestimmung und darüber hinaus die Parteienlandschaft. Die Standorte in China gehören auch nicht zu hundert Prozent Volkswagen, sondern sind immer Gemeinschaftsunternehmen mit chinesischen Partnern. Das macht es für uns natürlich komplizierter. Aber wir haben einen Austausch und damit eine Basis, auf der wir zusammenarbeiten.

Wie muss man sich das vorstellen?

Es hat zum Beispiel eine Delegation gegeben, bei der sich meine Kolleginnen und Kollegen ein Bild gemacht haben, wie die Situation vor Ort ist. Ich selbst war das erste Mal mit der IG Metall 2002 in China. Bisher haben wir keine Anhaltspunkte, dass in unseren Standorten irgendwas passiert, was nicht mit unserer Charta in Einklang zu bringen ist. Damit ich nicht missverstanden werde: Wir als Betriebsrat machen kein Menschenrechts-Audit, schon gar nicht über den Werkszaun hinaus. Aber wir wirken durchaus vor Ort, und das auch mit unseren global gültigen Werten, die für uns in China keine anderen sind.

Gilt das auch für das Werk in der Uigurenprovinz Xinjiang?

Das ist genau das Werk, wo die von mir erwähnte Delegation hingefahren ist. Über den Verbindungs- und Koordinationsausschuss bestehen auch dorthin Kontakte. Aber seit Pandemiebeginn gibt es keinen Vor-Ort-Austausch mehr. Ich hoffe, dass sich das bald wieder ändern wird. Wir vertreten unsere Belegschaft weltweit so gut es geht. Das gilt für das kleine Werk in Urumqi in Xinjiang genauso wie für die große VW-Fabrik in Chattanooga in den USA, wo es keine Belegschaftsvertretung gibt, weil der Versuch der Gewerkschaft UAW, das Werk zu organisieren, mehrmals gescheitert ist. Auch durch Union Busting.

Daniela Cavallo,

geboren 1975, ist seit Mai 2021 ­Vorsitzende des Konzern­betriebsrats von VW. Mit der gelernten ­Bürokauffrau und studierten Betriebswirtin an der Spitze gewann die IG-Metall-Liste die Betriebsratswahlen im März im Wolfsburger Stammwerk mit 85,5 Prozent.

In die Schlagzeilen geraten sind auch wieder die Geschäfte von VW in Brasilien zur Zeit der Militärdiktatur. Wie ist die Haltung des Betriebsrats?

Das ist ein dunkles Kapitel, VW hat sich aus gutem Grund vor zwei Jahren zu Entschädigungszahlungen verpflichtet. Wir wollen, dass Menschenrechte geachtet werden, dass Belegschaften auch im Ausland das Recht gegeben wird, sich zu organisieren. Deswegen sind das Themen, die wir mit dem Vorstand sehr ernsthaft diskutieren. Das haben wir im Übrigen schon immer gemacht, auch als es darum ging, die Geschichte der Zwangsarbeit hier in Wolfsburg im Zweiten Weltkrieg aufzuklären. Da gab es lange, lange Jahre Widerstände vonseiten des Unternehmens. Aber der Betriebsrat hat sich durchgesetzt und maßgeblich dazu beigetragen, dass Volkswagen in den 1980er und 1990er Jahren zum Vorreiter und Vorbild im Umgang mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte wurde.

Die Autobranche ist im Umbruch. Das Ende des Verbrennerautos ist absehbar. Wie läuft der Transformationsprozess hin zu E-Mobilität aus der Sicht der Beschäftigten?

Wir wissen, dass durch Elektromobilität und Digitalisierung definitiv Arbeitsplätze entfallen werden. Da gibt es verständlicherweise Ängste. Weniger vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, denn es werden auch neue entstehen. Außerdem haben wir eine Beschäftigungssicherung bis 2029 vereinbart, das ist für uns ein hohes Gut. Und es gibt ein hohes Vertrauen in die IG Metall und in den Betriebsrat, dass wir auch für die Zeit danach dafür sorgen, dass es keine betriebsbedingten Entlassungen geben wird. Doch viele besorgt die Frage, wie sich ihr Arbeitsplatz und ihr Arbeitsumfeld wandeln werden.

Was heißt das konkret?

Wir haben zum Beispiel in Salzgitter die Motorenproduktion. Wir haben es geschafft, eine Batteriezellfabrik dort hinzubekommen. Das war ein riesiger Kraftakt, weil noch vor einigen Jahren der Vorstand der Meinung war, das sei auf gar keinen Fall etwas, was wir in unser Kerngeschäft übernehmen werden, sondern zuliefern lassen. Der Betriebsrat und die IG Metall haben es aber geschafft, den Bau durchzusetzen. Unsere erste Forderung dazu war im Jahr 2010. Mittlerweile ist die Konzernstrategie, in Europa sechs Batteriezellwerke aufzubauen. Das ist zwar eine Supernachricht, aber für jemanden, der bislang an Motoren geschraubt hat, werden das Arbeitsumfeld und die Arbeitsbedingungen ganz anders, wenn er oder sie künftig Batteriezellen produziert. Ich habe mir die Pilotfertigung dort angeschaut. Das sind klinisch reine Räume, die Beschäftigten tragen teilweise Ganzkörperanzüge. Das ist schon etwas, wo die Belegschaft dann Ängste entwickelt. Und die müssen natürlich ernst genommen werden.

Vorstandschef Herbert Diess hat den Betriebsrat im Herbst brüskiert. Er verkündete, es gäbe 30.000 Arbeitsplätze zu viel bei VW und wollte nicht zur Betriebsversammlung kommen. Wie verstehen Sie sich mit ihm?

Er war ja dann schließlich doch auf der Versammlung. Wir haben einen Weg gefunden, wie wir weiterarbeiten können.

Aber das war doch ein Machtkampf.

Es ging mir nicht darum, einen Machtkampf auszutragen, sondern um Respekt und Wertschätzung gegenüber der Belegschaft. Es war es ein No-Go, dass er bei der Betriebsversammlung nicht dabei sein wollte. Wenn so eine Versammlung stattfindet, hat der CEO da zu sein. Das ist VW-Kultur. Wer das nicht versteht, dem erklären wir das unmissverständlich.

Versklavung

In dieser Woche haben in Brasilien die Anhörungen wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen von VW begonnen. Der Konzern soll in den 1970er und 1980er Jahren auf einer Rinderfarm Leiharbeiter unter sklavenähnlichen Bedingungen beschäftigt haben. Damals wollte VW ins Fleischgeschäft einsteigen.

Militärdiktatur

VW hat mit der Militärdiktatur in Brasilien, die bis 1985 währte, kollaboriert. So hat der VW-Werkschutz oppositionelle Aktivitäten von Beschäftigten überwacht. 2020 zahlte VW dafür Entschädigungen.

Bundesverkehrsminister Volker Wissing propagiert Technologieoffenheit bei der Transformation der Autoindustrie, also keine Festlegung auf E-Mobilität. Wie sehen Sie das?

Um die CO2-Ziele zu erreichen, können wir nur den Weg der Elektromobilität gehen. Die Brennstoffzelle hat sich einfach nicht durchgesetzt, und die Wasserstofftechnologie brauchen wir eher, um dafür zu sorgen, dass die Stahlindustrie CO2-neutral wird. Alternative Kraftstoffe sind zwar noch ein Thema bei Flugzeugen, Lkw oder dem Altbestand der Verbrennerfahrzeuge, die noch viele Jahre auf der Straße fahren. Aber wir haben festgestellt und anerkannt, dass es richtig ist, jetzt mit aller Kraft auf die Elektromobilität zu setzen, weil wir ohne sie die CO2-Flottenziele nicht erreichen können.

Wie ist es als Frau in einer derartig männerdominierten Welt wie der Autobranche?

Je höher die Hierarchieebenen im Unternehmen, desto öfter sitze ich als einzige Frau in den Runden. Es ist noch viel zu tun, damit auch die Unternehmensseite weiblicher wird. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass jemand glaubt, nur weil hier eine Frau an der Betriebsratsspitze steht, könnte ich mich weniger durchsetzen. Allen ist schon bewusst, dass inhaltlich etwas dahinterstecken muss und eine breite Unterstützung vorhanden ist, wenn man in so einem großen Unternehmen an diese Position kommt.

Sehen Sie sich als Vorbild?

Dass ich Frau und Betriebsratsvorsitzende bin, sollte nichts Besonderes sein. Ich denke nicht jeden Tag darüber nach. Aber ich nehme schon wahr, dass das Beachtung findet. Wenn sich Frauen durch mein Beispiel motiviert fühlen, dann finde ich das super. Wir brauchen mehr Frauen auf allen Ebenen, egal ob es jetzt in Betriebsräten, auf der Gewerkschafts- oder auch auf der Unternehmensseite ist.