Justiz im Auftrag Erdoğans

Lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen: Ein türkisches Gericht verhängt gegen den Kulturmäzen Osman Kavala und sieben weitere AktivistInnen härteste Urteile

Wut und Entsetzen unter Demonstrierenden vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul am Montagabend Foto: Ozan Kose/afp

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Im Prozess gegen den seit viereinhalb Jahren inhaftierten international bekannten Kulturmäzen Osman Kavala und weitere sieben VertreterInnen der Taksim-Bürgerinitiative sind am Montagabend die befürchtet schweren Urteile gefällt worden. Das Gericht in Istanbul verurteilte Osman Kavala zu erschwerter lebenslänglicher Haft, die anderen Angeklagten, darunter die 71-jährige Mücella Yapıcı, zu 18 Jahren Gefängnis.

Wegen angeblicher Fluchtgefahr ließ das Gericht alle anwesenden Angeklagten noch im Gerichtsaal festnehmen und wie bereits Osman Kavala in Untersuchungshaft deportieren.

Das Verfahren gilt als wichtigster politischer Prozess der letzten Jahre. Es ist eine politische Abrechnung mit den landesweiten Protesten gegen den damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, die sich 2013 am Istanbuler Gezi-Park entzündet hatten.

Wegen des völlig überzogenen Einsatzes der Polizei hatten sich die ursprünglich lokalen Demonstrationen gegen die Abholzung des kleinen Gezi-Parks im Zentrum von Istanbul in wenigen Tagen zu einer landesweiten Protestbewegung entwickelt, die sich gegen die immer repressivere Herrschaft Erdoğans insgesamt richtete. Während einige Minister damals mit den Protestierenden sprechen wollten, setzte Erdoğan eine harte Haltung durch und ließ die Proteste gewaltsam niederschlagen.

Beweise für den versuchten Staatsstreich, der den Angeklagten vorgeworfen wird, hatte die Staatsanwaltschaft nicht. Auch für die angebliche Finanzierung und Steuerung der Proteste durch die Angeklagten – Kavala soll auch noch im Auftrag ausländischer Mächte gewirkt haben – gab es keinerlei Beweise.

Insbesondere für den schon so lange inhaftierten Osman Kavala hatten sich auch international viele Menschen eingesetzt. Kavala, ein Unternehmer, der sein Geld unter anderem in die Kulturstiftung Anadolu Kültür gesteckt hat, die sich für die Minderheiten einsetzt, ist zum Symbol eines gewaltlosen Widerstandes gegen Erdoğan geworden. Schon 2019 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine Entlassung aus der U-Haft gefordert, im letzten Herbst hatten insgesamt zehn BotschafterInnen westlicher Nationen sich für Kavalas Freilassung eingesetzt, ohne Erfolg.

Im überfüllten Gerichtssaal hatte bis zuletzt die Hoffnung überwogen, Kavala würde unter Anrechnung der viereinhalb Jahre U-Haft in Hausarrest entlassen. Als das Gericht vor der Urteilsverkündung jedoch den Saal räumen ließ, ahnten die meisten, dass jetzt eine harte Direktive aus dem Präsidentenpalast vollstreckt würde.

Das Gericht sei „kein legitimes Gericht“, hatte Osman Kavala, der aus der U-Haft per Video zugeschaltet war, in seiner letzten Stellungnahme gesagt. Sollte er zu lebenslanger erschwerter Haft verurteilt werden, „ist das ein politisches Attentat auf mich durch Präsident Erdoğan unter Benutzung der Justiz“. Tatsächlich hatte einer der drei Richter es gewagt, ein Sondervotum abzugeben und einen Freispruch wegen Mangels an Beweisen gefordert.

Nach der Urteilsverkündung gab es eine spontane Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude. Alle Beobachter des Prozesses kritisierten das Urteil als rein politisch motiviert. Von Amnesty International über Human Rights Watch bis zu den Regierungen der USA und Deutschlands und der EU-Kommission wurde das Urteil scharf kritisiert.

Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, sagte, das Urteil sei „ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die noch eine Resthoffnung auf den türkischen Rechtsstaat hatten“.

Viele hoffen nun, dass sich Erdoğan nach den Wahlen im kommenden Jahr als Ex-Präsident für seine Taten selbst vor Gericht verantworten muss. „Wenn wir die Wahlen gewinnen, werden wir ihn zur Verantwortung ziehen“, sagten Vertreter der Oppositionsparteien.

International könnte Erdoğans Türkei bald ganz offiziell als Unrechtsstaat gebrandmarkt werden. Der Europarat hat wegen der Missachtung des Menschenrechtsgerichtshofes ein Ausschlussverfahren gegen die Türkei eingeleitet. Das Urteil dürfte das Verfahren nun beschleunigen.

Noch in der Nacht zu Dienstag wurde an verschiedenen Orten der Türkei demonstriert. Für Dienstagabend war in Istanbul eine große Kundgebung geplant.

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