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Osteuropa-Historiker über Putin„Keine Politik ohne Raum“

Karl Schlögel über Wladimir Putins Choreografien, russische Ressentiments und die unklare Haltung der deutschen Politik zu alldem.

Hat wieder mal eine große Choreografie entwickelt: Putin beim Treffen mit Scholz am 15. Februar Foto: Sputnik/Pool/ap
Jan Pfaff
Interview von Jan Pfaff

taz am wochenende: Herr Schlögel, was war Ihr Eindruck von Olaf Scholz’ Moskau-Besuch am Dienstag?

Karl Schlögel: Ich war gespannt. Die russische Seite hatte wieder mal eine große Choreografie entwickelt. In diesem schwierigen Rahmen hat Olaf Scholz eine ganz gute Figur gemacht.

Was meinen Sie mit „großer Choreografie“?

Nicht nur die Bilder des langen Tischs. An dem Tag des Besuchs gab es mehrere Nachrichten, die nicht zufällig kamen. Da war die Meldung vom angeblichen oder wirklichen Teilrückzug bestimmter Militärkräfte von der ukrainischen Grenze. Gleichzeitig verabschiedet die Duma einen Beschluss, die Gebiete in der Ostukraine mit den separatistischen Aufständen als eigene Staaten anzuerkennen – und so ihre Abtrennung von der Ukraine einzuleiten.

Das ist das Gegenteil von Entspannung.

Wladimir Putins Sprecher Dimitri Peskow kommentierte den Beschluss mit den Worten, dieser bringe den Willen des russischen Volkes zum Ausdruck. Es ist natürlich Teil der psychologischen Kriegsführung, zu signalisieren, dass man jetzt bereit ist, diesen Schritt zu gehen. Und es gehört ebenfalls zur Choreo­grafie, dass der Beschluss nun bei Putin liegt und er am Ende entscheidet. Damit wird seine ungeheure Macht demonstriert: Wird der Beschluss der Duma zur Staatspolitik – oder ist der Präsident so großzügig, das abzuwehren und so der Diplo­matie noch eine Chance zu geben?

Im Netz gibt es gerade viele Witze über Putins Tisch.

In russischen Zeitungen finden sich auch Karikaturen dazu. Zum Beispiel in der Nowaja Gaseta, in der der Tisch in eine endlose Schlange überging. Ich vermute aber, dass die Auftritte von Emmanuel Macron, Viktor Orbán oder Olaf Scholz im Kreml beim russischen Fernsehpublikum großen Eindruck hinterlassen. Die ganzen Regierungschefs kommen nach Moskau – auf die Bühne, die Putin errichtet hat. Er beherrscht das Verfahren.

Der Aufmarsch von 130.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze hat sich für ihn bereits ausgezahlt?

Ja, der Effekt der militärischen Drohung ist ja längst eingetreten. Es ist Putin gelungen, wieder eine Situation zu produzieren, in der die ganze Welt aufgeschreckt ist und nach Moskau blickt. Seine Forderungen werden ernst genommen, man spricht über sein Ultimatum. Und zugleich haben der Aufmarsch und der damit verbundene psychische Druck der Ukraine schon jetzt sehr geschadet. In einem Land, das es schon schwer hat und sich irgendwie immer wieder berappelt, werden Investoren abgeschreckt, Ausländer verlassen es, der Austausch kommt zum Erliegen.

Hierzulande hat sich vor allem die SPD schwergetan, eine klare Haltung einzunehmen.

Das ist aber nicht nur das Problem der SPD, sondern der deutschen Befindlichkeit insgesamt. Es ist immer noch nicht so richtig angekommen, dass die alte Welt mit ihrer klaren Ost-West-Teilung Vergangenheit ist. Und dass die neue Welt offener und viel unsicherer ist. Ich vermisse eine Debatte darüber, wohin unser Land da eigentlich will. Ist es beispielsweise der Meinung und bereit, die Lebensform, die man sich aufgebaut hat, auch zu verteidigen? Und was bedeutet dann Verteidigung, wenn diese in Gefahr ist?

In der Debatte heißt es oft, Russland handele so, weil es verletzt sei und sich vom Westen bei der Nato-Osterweiterung über den Tisch gezogen fühle.

Das russische Verhalten wird nur als Reaktion auf Aktionen des Westens erklärt, nicht als Handeln aus eigenem imperialen Antrieb

Vor allem die wohlmeinenden Freunde Putins benehmen sich oft wie Psychotherapeuten. Also, je weicher und verständnisvoller man das Putin-Regime anfasse, desto größer seien die Chancen auf ein friedliches Miteinander. Was sie übersehen: Eine große Macht lässt sich nicht von außen definieren, was sie macht und was sie unterlässt. Wir investieren viel zu wenig Energie darein, die innere Mechanik Russlands besser zu begreifen. Die verstehen wir nicht wirklich. Und weil man so wenig weiß, nimmt man zu Projektionen Zuflucht. Das russische Verhalten wird nur als Reaktion auf Aktionen des Westens erklärt, nicht als Handeln aus eigenem imperialen Antrieb.

Das sei halt Geopolitik, hört man auch oft.

Die inflationäre Rede von der Geopolitik ist eigentlich nur ein Symptom dafür, dass wir nicht wirklich wissen, wie Russland tickt. Ich kann mit einigem Recht davon sprechen, weil ich als Historiker eigentlich mein ganzes Leben lang für die Rehabilitierung des Raumes gekämpft habe. Dafür bin ich oft angegriffen worden, weil das konservativ, reaktionär und vielleicht noch Schlimmeres sei. Mir ging es eigentlich nur um eine Selbstverständlichkeit, nämlich dass Geschichte eben nicht nur chronologisch, in der Zeit, abläuft, sondern auch an Schauplätzen stattfindet. Seit Putin redet man nun ständig von Geopolitik. So als hätte es nicht auch eine des Kalten Krieges gegeben. Ja, es gibt überhaupt keine Politik ohne den Raum, aber die entscheidende Frage ist: Mit welchem System haben wir es zu tun, das diesen Raum neu gestaltet?

Was ist mit der Erklärung, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion als Demütigung wahrgenommen wurde und Putin deshalb heute zu alter Größe zurückstrebt?

Das Ende des Imperiums wurde von vielen Menschen als Katastrophe oder Schock empfunden. Ich bin damals dort hin gereist und habe vor Ort gesehen, was es bedeutet, wenn übergreifende Infrastrukturen und Institutionen plötzlich zerfallen. Dass es zum Beispiel auf einmal neue Grenzen gibt. Vielen Sowjetmenschen war nicht bewusst, dass es Grenzen gibt, weil sie in dem Riesenreich nie an eine stießen. Sie hatten in der Regel keine Auslandspässe. Im Bus von Litauen nach Kaliningrad habe ich 1991 Heulanfälle von Menschen erlebt, die plötzlich eine Grenze passierten, für die sie keine Pässe hatten. Es war für viele eine demütigende Erfahrung, das Scheitern eines Systems zu erleben. Die Frage ist, ob man einen Weg aus dieser deprimierenden Erfahrung heraus findet – oder ob man jemanden sucht, den man für alles verantwortlich machen kann.

Die russische Regierung sucht eher Schuldige.

Ich nenne das die Bewirtschaftung des Ressentiments. Es gibt eine neue Generation von Medienleuten, die Karriere mit der Abrechnung mit den chao­tischen 90er Jahren machen. Und es werden immer neue Bedrohungsszenarien produziert. Der Soziologe Lew Gudkow beschreibt das so: Das Riesenland, das sich eigentlich neu aufstellen müsste, wird eher durch Bedrohungs- und Feindbilder, durch negative Integration, zusammengehalten. Man kennt das in allen autoritären und totalitären Regimen. Wenn man selber keine positive Entwicklungsperspektive angeben kann, braucht es einen gemeinsamen Feind. Deshalb wird den Russen immer wieder eingeredet, der Westen bedrohe und demütige ihr Land.

Im Interview: Karl Schlögel

Der Historiker

Karl Schlögel, 73, zählt zu den renommiertesten Osteuropa-Historikern. Bis zu seiner Emeritierung 2013 war er Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.

Davor hat er Angst

Vor der lähmenden Atmosphäre einer Vorkriegszeit.

Das gibt ihm Hoffnung

Die vielen tapferen Frauen und Männer in den Straßen von Kiew, Moskau und Minsk.

Sie haben im Januar zusammen mit anderen deutschen Osteuropa-Experten einen Aufruf unterschrieben, der eine neue deutsche Russland­politik fordert. Die EU-Sanktio­nen nach der Annexion der Krim seien zu milde und keine ausreichende Antwort auf die russische Aggression gewesen, heißt es darin. Das habe die neuen Aggressionen erst ermutigt.

Die bisherige deutsche Russlandpolitik hat in den vergangenen Jahren nicht wirklich zur Kenntnis genommen, dass Russland der militärische Gegner eines mit uns befreundeten Landes ist. Lange hat man noch über Modernisierungspartnerschaften geredet, dass die Verknüpfungen immer enger werden müssen, aber die Situation der militärischen Bedrohung der Ukraine wurde nicht ernst genommen. Eigentlich ist es ja großartig, wenn es viele enge Verbindungen nach Russland gibt – nur in dieser Situation laufen all diese Verbindungen Gefahr, instrumentalisiert und für destruktive Aktionen benutzt zu werden. Ich unterstütze die Ini­tiative für diesen Aufruf, weil ich sicher bin, dass sich etwas ändern muss.

Was sind denn Ihre Erwartungen an die deutsche Russlandpolitik?

taz am wochenende

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Es sind einfache Sachen wie: die Dinge beim Namen zu nennen. Dass man Schluss macht mit der postmodernen Rede, dass es eigentlich keine Wahrheit, sondern nur unterschiedliche Sichtweisen gebe. Und dass man sich eingesteht, dass es Situationen gibt, in denen Politik und Diplomatie auch erst einmal am Ende sind.

Was macht man dann?

Warten, warten, warten. Man darf sich nicht ins Bockshorn jagen und erpressen lassen. Und man muss sich nicht die Tagesordnung diktieren lassen von jemandem, der an den internationalen Regeln nicht interessiert ist. Was das für unsereins bedeutet, die nicht in der Politik oder der Wirtschaft tätig sind? Man richtet sich auf harte Zeiten ein, die man früher schon mal kennengelernt hat: dass man kontrolliert wird, dass man bespitzelt wird, dass man sich nicht einfach zu Konferenzen treffen kann. Wenn man kritisch über Themen wie den Hitler-Stalin-Pakt spricht, ist das in Russland heute ein Fall für Strafverfolgung. Wie sollen Historiker aber in einem Forum zusammenarbeiten, in dem es untersagt ist, diese Fragen zu besprechen?

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35 Kommentare

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  • Zu der Bemerkung:



    ".....Das russische Verhalten wird nur als Reaktion auf Aktionen des Westens erklärt, nicht als Handeln aus eigenem imperialen Antrieb...."



    muss ich sagen, dass ich in den letzten Tagen NUR die Version des imperialen Antriebs seitens der westlichen Medien vernommen habe. Lediglich Frau Wagenknecht und Michael Lüders haben eine relativierte Sicht der Dinge präsentiert. (aber wie wenige schauen sich das an?)



    Härte und Sanktionen war die gängige Sprache.

  • Sollte Putin diesen Artikel lesen, was der liebe Gott verhindern möge, könnte er sagen"Siehste, hab ich doch recht mit meinen Behauptungen".



    War in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ein Traumberuf, Kreml Astrologe.



    Ein neuer Ausbildungsjahrgang ist eröffnet.



    Auffällig, eine Sicherheitskonferenz bringt Unsicherheit.

  • Wer mit der "postmodernen Rede" Schluss machen will kann nicht zugleich vor "Totalitarismus" warnen, denn er ist in seinem Denken vielleicht selbst schon längst dort angekommen.

  • Was müssten wir Putin anbieten, damit er sein Reich wieder bis zum "grünen Band" ausdehnt?

    (Für die Jüngeren: das grüne Band heute war die Demarkationslinie zur SBZ.)

  • Ich wüsste zunächst nicht, warum ich die Ukraine als "befreundetes Land" betrachten sollte. Nur weil sie dort so eine Art Demokratie pflegen? Eine Demokratie, die von Oligarchen geprägt wird? Leider hat die Ukraine seit Ausbruch des Gasstreits um 2005 so viele taktische und strategische Fehler gemacht, dass man sie schon lange freundlich hätte auffordern müssen, die Rechtsstaatlichkeit ernst zu nehmen und einen Blick in die eigene Verfassung zu werfen.



    Dann ist es tatsächlich so, dass das Thema NATO-Erweiterung in den 2+4-Verhandlungen besprochen und eine informelle Zusage gemacht wurde, dass es keine NATO-Erweiterung nach Osten geben würde. Darüber kann man diskutieren, aber diese Zusagen sind dokumentiert, auch wenn sie nicht in den abschließenden Vertrag einflossen. Dennoch hatten informelle Absprachen schon immer ein hohes Gewicht und die Nichtbeachtung führte regelmäßig zu massiven Vertrauenskrisen.



    Man kann auch nicht versuchen, bestimmte Länder, so autokratisch sie sein mögen, immer weiter in die Ecke zu drängen. Das entlädt sich irgendwann. Man muss versuchen, Win-Win-Situationen herbeizuführen.

    • @Aurego:

      Genauso muss man das Ganze sehen! Sehr gut kommentiert!

  • Leider hat der Zusammenbruch des staatsmonopolitischen Systems der UdSSR nicht zu einem Kultur- und Schüleraustausch geführt, wie es ihn von Deutschland aus in Richtung der 'Alliierten' gegeben hat. vereinzelt sind Intellektuelle (wie Kaminer) aus dem russischen Staatsgebiet bei uns heimisch geworden (anders als aus den ehemaligen Satelliten.Ländern) und haben uns einen Eindruck der 'russischen Seele' vermittelt. So ist uns nur durch Korrespondenten vereinzelt dargestellt worden, was die russische Bevölkerung gewonnen oder verloren haben nach der 'Befreiung von oben' durch Gorbatschow. Durch Freundschaftsbande und Begegnung mit den Menschen liesse sich ein Gegengewicht schaffen gegenüber der säbelrasselnden Oligarchie, die von den Kapitalisten geimpft wurde. Statt dessen bekommen wir zersetzende Netzattacken und müssen uns mit einem gekauften Altkanzler und seiner Partei herumschlagen.

  • Schlögel spricht im Interview auch von der Geopolitik und meint, es sei entscheidend, welches System den Raum neu gestalte ... sicherlich in Anspielung auf den neuen russischen Hegemonialismus Putins.



    Dem würde ich entgegenhalten, dass aus historischer Perspektive dieses "System" als Konstante - und nicht als etwas Neues, bloß weil es sich um Putin handelt - verstanden werden muss, zumindest aus westlicher Sicht und seit der Ära des europäischen Imperialismus im 19. Jhdt.



    Seit der russischen Expansion auf dem Balkan, über die Sowjetzeit bis hin zu Putin und dem Ukrainekonflikt hat sich die Rezeption des westlichen Russlandbildes nämlich überhaupt nicht verändert ... der russische Bär, der sich über friedliche Bienenstöcke hermacht, um seinen ungezügelten Hunger zu befriedigen.

    • @Abdurchdiemitte:

      >>Dem würde ich entgegenhalten, dass aus historischer Perspektive dieses "System" als Konstante - und nicht als etwas Neues,

      Das sehe ich auch so. Auch das imperiale Russland unter den letzten Zaren hat sich als eine Weltmacht verstanden, eine Weltmacht, die von den 'westlichen' Weltmächten Preussen, England, Frankreich, Österreich nicht akzeptiert wird.



      Die UdSSR hat diese Sichtweise übernommen.



      Eine weitere Konstante russischer Außenpolitik ist die Demonstration von Stärke, wer kooperiert ist schwach, strakte Mächte verbreiten Angst und definieren die Situation.

      • @Gegenklang:

        Ihnen ist aber schon bewusst, dass Preußen und das zaristische Russland zur Reaktion gegen modernisierende Staaten in der frühen Neuzeit gehörten.

        • @Captain America:

          Aber diese modernisierenden Staaten sahen sich der imperialistischen Ideologie genau so verpflichtet wie Russland oder Preußen ... oder glauben Sie ernsthaft, die Bekämpfung der Sklaverei auf dem afrikanischen Kontinent - die vom deutschen Reich vordergründig ebenso postuliert wurde wie von den anderen Kolonialmächten - wäre das primäre Ziel europäischer Kolonialpolitik gewesen.



          Außerdem ist es zu einfach - weil historisch nicht gedeckt - einen Modernisierungsgegensatz der westlichen Staaten zu Russland und Preußen für die Zeit des Imperialismus zu konstruieren. Preußen/das deutsches Kaiserreich nimmt hier eine Art Mittelrolle ein, in den Balkankriegen war es - gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien - sein Anliegen, den russischen Expansionismus einzudämmen ... entsprechend hielten alle diese Mächte - auch Deutschland (!) - das marode Osmanenreich am Leben, um Russland in Suedosteuropa den Riegel vorzuschieben.

  • Wie mir scheint, haben wir nun mit Russland den gemeinsamen Feind, in dem Fall daß man "selber keine positive Entwicklungsperspektive angeben kann". Es macht wirklich Mühe, so einseitige Standpunkte über sich ergehen zu lassen.

    • @Picard:

      Ja, sehe ich auch so ... sauer aufgestoßen ist mir v.a. die Aussage, dass mit der "postmoderne Rede" Schluss sein und es akzeptiert werden müsse, dass es Situationen gebe, in denen Politik und Diplomatie erst einmal am Ende seien.



      Intellektuell eher schwach und ich wundere mich, dass solche Aussagen von Mitforisten noch goutiert werden. Mich erinnert das Ganze eher an "Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche" (Wilhelm der Zwote am Vorabend des ersten Weltkrieges).

      • @Abdurchdiemitte:

        Viel haben Sie nicht verstanden. Genau das was sie dem Interviewten in den Mund versuchen zu legen, meint er nicht. Gerade der Ukraine und den anderen westlichen Staaten, die den Druck auf Russland erhöhen beizustehen meint nicht Ihr zitierter Ausspruch.

        • @Captain America:

          Na, was meint der Interviewte dann?



          Faktisch ist jetzt ja eine Situation erreicht, in der Politik und Diplomatie am Ende zu sein scheinen.



          Schlögels Kritik an der "postmodernen Rede" beinhaltet doch wohl die Vorstellung, dass es nur eine Wahrheit gebe, nämlich dass der russische Expansionismus aus eigenem Antrieb Erfolge und nicht als Reaktion auf westliches Handeln ... man kann es tatsächlich "so oder so" sehen und mit entsprechenden Argumenten versehen, wie die Diskussion hier auch zeigt.



          Schlögels Position schließt diese Sichtweise jedoch kategorisch aus, letztlich argumentiert er (als Historiker) damit ideologisch und nicht "wissenschaftlich" (einen parteiischen Standpunkt zu vertreten, ist ja nicht ehrenrührig, sollte dann aber entsprechend gekennzeichnet sein) ...ich weiß nicht, was daran falsch zu verstehen ist?

  • Das große Missverständnis ist, westliche Schritte ausgerechnet dort schaulaufen zu lassen und der Analyse dieses Schaulaufs irgendwelche Erkenntnis abringen zu wollen, wo zwar Sicherheit draufsteht, aber zuvörderst Rüstungsindustrie drinsteckt. Der journalistische (und hoffen wir mal : nicht regierungspolitische) Fokus dieser Tage auf ein gewisses Münchner Hotel bringt keine Antworten. Nicht auf kurzfristige Fragen und nicht auf langfristige Träumereien und Versäumnisse. Das müssen im jetzigen Feuerwehrmodus multilaterale Regierungskontakte "des Westens", in Grüppchen und im ganzen, in informellen Clubs wie unter den G7 und institutionellen wie NATO und EU. Und die nichtöffentlichen Absprachen sind in dieser Phase sicher die wichtigeren. Wir können nur hoffen, dass es sie gibt, erfahren werdens wirs zunächst nicht. Deklamationen und Lautsprecherdiplomatie dagegen sind in dieser Etappe unseres Schicksals nur noch Schau.

    • @lesnmachtdumm:

      >>wo zwar Sicherheit draufsteht, aber zuvörderst Rüstungsindustrie drinsteckt.

      Sie glauben die aktuelle Krise sei eine Machination der Rüstungsindustrie.



      Ich halte das für sehr unterkomplex, schon fast eine Verschwörungstheorie.

      • @Gegenklang:

        Danke für den Hinweis, dass mensch mein Obiges so missverstehen kann. Gottswilln - war vollkomen anders gemeint..Hab NICHTs dergleichen gesagt. Ganz im Gegenteil. 'Unterkomplex' sind nur die öffentlichen (und internen?) Erwartungen an die msc.

        Eine Propaganda-Show der Rüstunsgindustrie ist halt eher kein Forum, das jetzt irgendwelchen praktischen Nutzen generieren würde. Zu schönwetterigeren Zeiten mag das Wortgeplänkel am Prom(i)nadeplatz auch eine diplomatsich-politische Wirkung gehabt haben. Jetzt taugt das Dingens für nix. Show und Ablenkung. Selbstvergewisserungs-Talk. Aber vielleicht brauchen die Protagosnist:innen ja sowas für ihre psychische Stabilität in schweren Zeiten.... Wie oben gesagt: Bleibt nur zu hoffen, dass in den Schaltzentralen schon Substanzielleres vorbereitet wurde - und notfalls auch noch wird.

  • Die Länge des weißen Tisches kann man auch einfach als Hygiene-Maßnahme in Corona-Zeiten betrachten, statt sie zu funktionalisieren …

    • @Uwe Lütge:

      Mir fällt da ja eher ein anderer Vergleich ein.

  • Ich kann der Analyse Schlögels in weiten Teilen zustimmmen ... sehe das Thema der "Autokratisierung" allerdings weniger als ein spezifisch russisches, sondern als ein globales Problem. In diesem Kontext ist aber ausschließlich von Russland und Putin die Rede, was ich für eine ideologische Engführung der Debatte halte ... wohlgemerkt geht es mir nicht darum, die aggressive russische Hegemonialpolitik sowie den Demokratieabbau und die Menschenrechtsverletzungen im Inneren zu relativieren.



    In Zeiten des weltweiten Rückzugs des demokratisch-liberalen Demokratieverständnisses und der zunehmend erfolgreichen Durchsetzung autokratischer Herrschaftsformen gepaart mit entsprechend bellizistischen Logiken zur Durchsetzung eigenstaatlicher nationalistischer Interessen kann der Russland-Ukraine-Konflikt nicht als ein von globalen Entwicklungen isoliertes Problem betrachtet werden.



    Dem Wertewesten kommen diese Entwicklungen übrigens auch gelegen, denn mit der Rekonstruktion der bipolaren Weltordnung - die 1990 mit dem Zusammenbrechen des realsozialistischen Systems zunächst auch zusammengebrochen war - wird auch die Weiterexistenz militärischer Bündnisse wie der NATO legitimiert. Russland und Putin fungieren dabei als willkommene Projektionsfläche für die Legitimation des eigenen Handelns ... das der Wertewesten selbst dabei genug "Schurkenstaaten" unter seine Decke schlüpfen lässt, wird hier geflissentlich ignoriert, von den Menschen im globalen Süden aber durchaus registriert. Um so größer das Unverständnis im Westen, wenn das Angebot von peace&democracy ausgeschlagen wird und man sich dort stattdessen China an die Brust wirft.



    Was ich auch nicht verstehe: werden wir alle Probleme mit Russland los, sobald Putin von der Bildfläche verschwindet und es herrscht dann eitel Sonnenschein in den westlich-russischen Beziehungen, wie hier die Putin-Gegner suggerieren? Diese Frage beantwortet Schlögel nämlich nicht und ich kann es mir auch nicht vorstellen.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    ""Die Normalisierung der deutsch-russischen Beziehungen war sehr weit fortgeschritten. Generationen von Menschen guten Willens haben sich darin nach dem Krieg über Partei- und Lagergrenzen hinweg engagiert.

    Dass ausgerechnet Berlin, das russische Berlin, an dem die deutsch-russischen Verwicklungen im „Jahrhundert der Extreme“ so sichtbar sind wie an kaum einem anderen Ort, zur Bühne wird, auf der ein einstiger KGB-Chef den Ton in einem „Dialog der Zivilisationen“ angeben soll, ist für mich, nach Putins Angriff auf die Ukraine, die größte persönliche Niederlage in meinem Leben – wissenschaftlich und politisch.""

    Quelle: Karl Schlögel, Die gefährliche neue Liebe der Deutschen zu Russland, Welt, Juli 2016

    Was fehlt: Die Russische Förderation, spätestens für jeden sichtbar seit 2014, fällt zurück in eine zaristische imperialistische Außenpolitik von vor 1914.

    Trotzdem mittlerweile genauso deutlich geworden ist, das der Brexit



    auch seine Ursachen in der nicht aufgearbeiteten britischen Geschichte hat und in Berlin anhand des neu aufgebauten Stadtschlosses sich eine heiße Diskussion nach der anderen entzündet, und zwar über die Folgen des deutschen Imperialismus - debatiert aufgrund der dort aufbewahrten afrikanischen Kulturgüter

    - lassen die gleichen Stimmen, die richtigerweise für die Rückgabe der afrikanischen Kulturgüter votieren, den neu aus der MottenKiste gefallenen brutalst möglich agierenden russischen Imperialismus erfahrbar in der Ukraine, Georgien und Syrien verschämt schweigend unbeantwortet gewähren.

    Das verstehe wer will.

    Bahnt sich hier etwa ein neuer deutscher Berlin - Putin Pakt an - deren bislang unbekannte geheime Vereinbarungen im dunklen laut stinkend vor sich hin wabern?

    • @06438 (Profil gelöscht):

      Na, Ihren Kommentar verstehe, wer wolle.



      Erstens ist mir völlig schleierhaft, wie die Debatte über die Rückgabe afrikanischer "Beutekunst" aus der deutschen Kolonialzeit - und dazu noch der Brexit (?) - mit dem Thema Ukrainekonflikt zusammenpassen soll ... etwa über den argumentativen Schlenker zum neuen russischen Imperialismus Putins? Verstehe den Zusammenhang dann trotzdem nicht, sorry ... erscheint mir ein bisschen konstruiert.



      Nehmen Sie einfach Ihr Geschichtsbuch zur Hand und lesen Sie das Kapitel über den europäischen Imperialismus, der dann in den ersten Weltkrieg einmündete ... Sie werden feststellen, dass das Argument des russischen Imperialismus der deutschen Seite als Vorwand diente, eigene Kriegsvorbereitungen voranzutreiben. Und 1914 der bis dato antimilitaristisch eingestellten SPD die Zustimmung zu den Kriegskrediten zu entlocken ... ging es doch gegen den gemeinsamen imperialistischen zaristischen Erzfeind. Was Sie daraus für den aktuellen Konflikt folgern wollen, überlasse ich ganz Ihnen.



      Der Verweis auf den Berlin-Putin-Pakt: ich denke, die historische Kontextualisierung zu der Situation von 1939 betreiben Sie hier ganz bewusst und das disqualifiziert Sie für eine ernsthafte Debatte ... ich will das mal so dahingestellt sein lassen, ohne mich zu irgendwelchen polemischen Erwiderungen hinreißen zu lassen.

      • 0G
        06438 (Profil gelöscht)
        @Abdurchdiemitte:

        1..Lenin stellt Russland 1914 als zweitgrößte Kolonialmacht hinter England und vor weiteren Großmächten wie Frankreich, Deutschland, den USA und weiteren Staaten dar.

        Quelle: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus,



        Wladimir Iljitsch Lenin .Herausgegeber: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 22, 3.

        Nach Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 erlangten weite Teile dieser binnenkolonialen Territorien und Einflusssphären ihre Unabhängigkeit, sehr viel später als die überseeischen Kolonien der klassischen Kolonialmächte.

        2.."die historische Kontextualisierung zu der Situation von 1939 betreiben Sie hier ganz bewusst."

        ja.

  • Ich habe zwei von Schlögels Büchern gelesen, die ich atmosphärisch dicht fand, aber wenig analytisch ("Moskau lesen", "Die Mitte liegt ostwärts"). Dieses Bild wird durch obiges Interview bestätigt: Wer sagt, es gebe "keine Politik ohne Raum", aber geopolitisch nicht analysieren will, ist ein gefährlicher Ratgeber. Denn mit Mearsheimer ist daran festzuhalten, daß die objektiven Sicherheitsbedürfnisse von konkurrierenden bis feindlichen Staaten weitgehend unabhängig von ihrer inneren Verfaßtheit sind. Kissinger hat als Lösung der Ukrainefrage schon früh deren Neutralität vorgeschlagen.



    Schlögel mag die Ukraine für ein befreundetes Land halte, ich nicht. Dafür ist mir die Regierung zu nationalistisch, illiberal und vertragsbrüchig (Minsk II). Die Ukraine ist abhängig von westlichen Hilfsgeldern und mit dem Schwenk zum Westen das ärmste Land Europas geworden, was die ukrainische Wut nur steigern kann. Wer eine dezidierte Gegenposition lesen will, dem sei empfohlen:



    «Bidens Eskalation mit Russland ist ein entsetzliches Konzept». infosperber. Published February 20, 2022. Accessed February 20, 2022. www.infosperber.ch...etzliches-konzept/



    "Der britische Russland- und Ukraine-Kenner Richard Sakwa analysiert die Russland-Politik der USA und sieht die Fehler des Westens."

  • "die Dinge beim Namen zu nennen. Dass man Schluss macht mit der postmodernen Rede, dass es eigentlich keine Wahrheit, sondern nur unterschiedliche Sichtweisen gebe. Und dass man sich eingesteht, dass es Situationen gibt, in denen Politik und Diplomatie auch erst einmal am Ende sind."

    Danke, Herr Schlögel!

    • @Barbara Falk:

      Sehen Sie, ausgerechnet diese Interviewpassage hat mir weniger gut gefallen, wie Sie sich wahrscheinlich von mir denken können. 😉



      Wenn wir die "postmoderne Rede" überwinden sollen ... na, was blüht uns denn da?



      Eine "prämoderne Rede" etwa, mit Rückfall in den Nationalismus und unabwendbare Kriegslogik, wie 1914?



      Herr Schlögel hat diesen Punkt nicht ernsthaft zu Ende gedacht, schade.

      • @Abdurchdiemitte:

        Ich nehme an dass sie sich weniger als ich (und vermutlich Herr Schlögel), oder auch, mangels Sprachkenntnissen (?) gar nicht, in der putinistischen Welt der multivektoralen Wahrheit herumtreiben.



        Herr Schlögel benutzt ja das schöne Bild des "Bewirtschaftens". Unsere Art, Diskurse zu führen und jedem Standpunkt seine Berechtigung zuzugestehen ist etwas, was von der putinistischen Propaganda sehr erfolgreich "bewirtschaftet" wird.

        (Leseempfehlung: "Nothing Is True and Everything Is Possible" von Peter Pomerantsev)

        Irgendwann muss man halt mal zu dem Punkt kommen, die Tatsachen von den Nicht-Tatsachen zu unterscheiden, und daraus politisches Handeln ableiten.

  • Guter Beitrag.



    Ein Beispiel aber große Aussagekraft:



    ....Wenn man kritisch über Themen wie den Hitler-Stalin-Pakt spricht, ist das in Russland heute ein Fall für Strafverfolgung.....



    Passt hier auch gut



    ..... in der Putin den USA und der Europäischen Union vorwirft, die "Krim zum Austritt aus dem ukrainischen Staat provoziert zu haben"....

    • @Ringelnatz1:

      Ach, soeben habe ich noch das taz-Interview mit dem russischen Romanautor Vladimir Vertlib zur Kenntnis genommen ... eine äußerst facettenreiche und differenzierte Sicht auf den russisch-ukrainischen Konflikt, wie man sie hierzulande selten findet.



      Den Roman werde ich auf alle Fälle lesen.

      • @Abdurchdiemitte:

        Danke für die Tipps.



        Etwas weiter ausgeholt aber lesenswert.



        »Picknick auf dem Eis« Andrej Kurkow



        .....Am Anfang war der Pinguin. Ausgerechnet ihn hat sich Viktor ausgesucht, als der örtliche Zoo begann, seine Tiere zu verschenken, weil er sie nicht mehr ernähren konnte. Der Pinguin frißt gefrorenen Fisch, steht meistens hinterm Sofa und starrt auf die Wand. Er ist depressiv. Manchmal legt er seinen Kopf auf Viktors Knie. Manchmal geht Viktor mit ihm spazieren, nachts, einmal um den Neubaublock. Er nennt ihn Mischa.....



        www.spiegel.de/kul...-0000-000013951630

    • @Ringelnatz1:

      Wobei die Tabuisierung und Kriminalsierung historisch und politisch heikler Themen wie dem Hitler-Stalin-Pakt ja nicht dem derzeit amtierenden "schlimmen Finger" im Kreml geschuldet ist ... er setzt da lediglich ein Traditionslinie fort.



      Daniil Granin - selbst Kriegsteilnehmer auf Seiten der Roten Armee im zweiten Weltkrieg - beschreibt eindringlich das persönliche Versagen Stalins vor und beim Einmarsch der Wehrmacht im Sommer 1941: trotz dringlicher Vorwarnungen seiner Militärs über Kriegsvorbereitungen auf deutscher Seite wollte er bis zuletzt nicht an einen Überfall Nazi-Deutschlands glauben ... mit der Konsequenz des Todes und der Gefangenschaft von Millionen sowjetischer Soldaten in den ersten Kriegsmonaten. Damit möchte Granin keinesfalls die Gräuel der Wehrmacht relativieren, er beschreibt die Schrecken der Belagerung Leningrads aus eigener Anschauung.



      Aber selbst in der Tauwetterperiode unter Chruschtschow war es unmöglich, über diese Aspekte der sowjetischen Geschichte zu sprechen ... die Zeit von 1941 bis 1945 wurde als "Großer Vaterländischer Krieg" heroisiert.



      Die Kriegserinnerungen und Schilderungen Granins der sowjetischen Nachkriegs-Ära in seinem autobiografischen Roman "Mein Leutnant" heben sich wohltuend davon ab ... Pflichtlektüre für jeden Westler, der sich ernsthaft mit jenem dunklen Kapitel deutsch-sowjetischer/russischer Geschichte auseinandersetzen will.

      • @Abdurchdiemitte:

        Also, wenn sie gern Romane lesen, empfehle ich mal was Aktuelleres:

        Vladimir Sorokin, "Der Tag des Opritschniks". Alles was man über Putinismus wissen muss, unterhaltsam und kompakt auf nur 220 Seiten.

  • So treffend wie selten