Omikron und Infektionsschutz: Aller guten Dinge sind …

Sollte infolge täglicher Inzidenzrekorde und Impfdurchbrüche durch Omikron erneut geboostert werden? Experten sind sich uneinig.

Tanzende Senioren in einer Altenpflegeeinrichtung in Israel

Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse: Eine Corona-Impfparty in Israel Ende Januar 2022 Foto: Ammar Awad/reuters

BERLIN taz | Die Zukunft sieht oft rosig aus, zumindest so lange, bis sie zu Gegenwart mutiert. Das hat auch Bundeskanzler Olaf Scholz gerade wieder erfahren müssen, nachdem sein voller Optimismus ausgerufenes Impfziel für Ende Januar unerreicht geblieben ist. 80 Prozent der Bevölkerung sollten bis einschließlich vergangenen Montag mindestens einmal immunisiert sein, tatsächlich haben nicht einmal 76 Prozent die erste Dosis bekommen. Die Impflücke, sie will einfach nicht zugehen. Sogar die Zahl der Drittgeimpften krebst seit Wochen knapp oberhalb von 50 Prozent herum.

Unterdessen haben andere Länder längst begonnen, Teile ihrer Bevölkerungen zum vierten Mal zu impfen. In Israel hatte ein Expertenrat Mitte Januar sogar empfohlen, sämtliche Erwachsenen zum zweiten Mal zu boostern. Angeboten wird die vierte Dosis inzwischen allen Israelis, die älter als 60 Jahre, wegen Vorerkrankungen gefährdet oder in häufigem Kontakt mit Risikogruppen sind.

Und auch deutsche Experten haben sich dafür ausgesprochen, die vierte Impfung zeitig vorzubereiten, um schwere Verläufe in der Omikron-Welle möglichst zu vermeiden. So sagte der Intensivmediziner Clemens Wendtner von der München Klinik Schwabing Mitte Januar, eine vierte Dosis sei auch mit den aktuellen Impfstoffen für all jene sinnvoll, die schon im vergangenen Spätsommer geboostert worden seien. Andere Fachleute hatten bereits im Dezember für eine vierte Impfung plädiert. Eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission gibt es dafür allerdings bisher nicht.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wiederum hatte vor wenigen Tagen auf einer Pressekonferenz gesagt, die Omikron-Welle sei als Welle nicht zu kontrollieren, wohl aber könne man die Folgen minimieren. „Wir wollen durch diese Welle kommen mit so wenigen schweren Verläufen und Todesfällen wie möglich“, sagte er. Die aktuellen Zahlen zeigen derweil deutlich, dass die Ältesten nach wie vor das höchste Risiko für schwere Verläufe und Tod haben. Lauterbach sieht den Schutz der ab 60-Jährigen deshalb als prioritär.

Wie dieser Schutz allerdings gewährleistet werden soll, ist bislang unklar. Eine allgemeine Impfpflicht, welche die letzten Impflücken schließen könnte, wird zwar seit Monaten diskutiert, zuletzt in einer zähen Orientierungsdebatte im Bundestag. Bislang blieb die Diskussion jedoch ohne konkretes Ergebnis. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht in der Altenpflege und in den Kliniken, die für Mitte März beschlossen ist, wird unterdessen bereits ausgehöhlt, die Gesundheitsämter fühlen sich mit der Kontrolle überfordert. Ungeimpfte Pflegekräfte sollen laut Bundesgesundheitsministerium nach dem Stichtag 16. März deshalb weiterarbeiten dürfen.

Heißt es also wieder: Boostern, was das Zeug hält?

Und so kommt es, dass sich manche der geimpften Älteren nach Berichten über nachlassenden Impfschutz, Impfdurchbrüche und tägliche Inzidenzrekorde die bange Frage stellen, ob sie nach den vergangenen vier Wellen denn nun auch Omikron noch entrinnen können – obwohl sie sich mehrfach impfwillig gezeigt haben. Gewiss ist das tatsächlich nicht. Zwar ist die Zahl der Gestorbenen in den vergangenen Wochen stetig gesunken, Omikron gilt generell als etwas milder im Verlauf als Delta. Allerdings kann sich dieser Trend noch umkehren. Auch in den bisherigen Wellen setzte ein Anstieg der Sterbefälle mit einigen Wochen Verzögerung ein. Mehrere Studien haben gezeigt, dass zweifache Impfungen trotz ihrer generell sehr guten Wirkung bei älteren Mitmenschen oft weniger effektiv sind.

Heißt es deshalb also wieder: Boostern, was das Zeug hält, im Zweifel eben ein viertes Mal? Die Weltgesundheitsorganisation spricht sich schon aus Gründen der globalen Gerechtigkeit vehement dagegen aus. Viertimpfungskampagnen würden die Impfstoffknappheit in Entwicklungs- und Schwellenländern weiter verschärfen, in einigen Teilen der Welt sind bislang nur wenige Prozent der Bevölkerung immunisiert. Viele Ländern sind abhängig von Impfstoffspenden aus den Industriestaaten.

Aber auch aus medizinischer Sicht gibt es noch viele Fragezeichen zur Notwendigkeit eines zweiten Boosters. Dass es an der Zeit wäre, allen Drittgeimpften oder Drittgeimpften ab 60 Jahren nach vier bis sechs Monaten offiziell eine vierte Dosis zu empfehlen, hält auch Leif-Erik Sander von der Berliner Charité für falsch. „Dafür gibt es schlicht keine gute Evidenz zurzeit“, sagt der Immunologe und Lungenfacharzt. Dem Experten sind derzeit lediglich vereinzelte Daten und Mitteilungen über vierte Impfungen aus Israel bekannt. „Diese Daten zeigen, dass eine vierte Dosis etwas bringt, das ist immunologisch auch naheliegend“, sagt Sander. „Der Unterschied in der Schutzwirkung zwischen Dritt- und Viertgeimpften ist aber nicht annähernd so groß wie zwischen Zweit- und Drittgeimpften.“

Die allgemeine Empfehlung einer vierten Impfung wäre nach Sanders Auffassung zudem kein gutes Signal für jene, die noch gar nicht geimpft sind. „Wenn diese Menschen hören, dass sie sich noch insgesamt viermal impfen lassen müssen, werden es viele vielleicht gleich ganz lassen“, sagt der Impfstoffexperte. Vier Impfungen seien nach derzeitigem Kenntnisstand in der Regel auch nicht nötig. „Mit drei Impfungen sind alle Immungesunden wirklich sehr gut geschützt vor einer schweren Erkrankung.“ Das gelte auch für immungesunde Ältere über 60 Jahren.

Eine vierte Dosis kategorisch auszuschließen, sei aber genauso falsch. „Man muss es im Einzelfall medizinisch abwägen“, sagt Sander. „Wenn ich Bedenken habe, dass es Pa­ti­en­t:in­nen selbst mit einer moderaten Durchbruchsinfektion wirklich schlecht gehen könnte und sie deshalb besonders gefährdet sind, dann würde ich ein weiteres Mal boostern. Dasselbe gilt für immunschwache Patient:innen.“ Wenn ein an die Omikron-Variante angepasster Impfstoff zur Verfügung stehe, könne aber eine weitere Boosterimpfung auch für weitere Teile der Bevölkerung sinnvoll werden.

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