Billige Lebensmittel: Eine andere Agrarpolitik
Bei Lebensmitteln müssen die wahren Kosten eingepreist sein – das kann auch sozial fair geschehen. Die Instrumente dafür stehen bereits zur Verfügung.
D ie Debatte über den Wert und damit auch den Preis von Lebensmitteln ist ein Wiedergänger. Mehr Wertschätzung für Lebensmittel wird seit Jahren immer wieder von Politiker:innen gefordert. Gerne auch aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium. Getan wurde dafür aber wenig. Derzeit sind oft diejenigen Lebensmittel am billigsten, die gesamtgesellschaftlich die meisten Kosten verursachen. Nachhaltig und fair produzierte Lebensmittel sind weitaus teurer.
Aber die Preise an der Kasse täuschen. Denn die nicht eingepreisten Kosten im Umwelt- und Gesundheitsbereich zahlen wir Verbraucher:innen indirekt obendrauf. Zum Beispiel, wenn es immer aufwändiger und kostspieliger wird, Nitrat aus dem Trinkwasser herauszubekommen. Oder wenn unsere Ernährungsgewohnheiten nachweislich die Klimakrise befeuern. Ernährungsmittelbedingte Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf- und Nierenerkrankungen verursachen heute in Deutschland Kosten in Milliardenhöhe. Und sie sorgen für viel Leid.
Es gibt erhebliche Ernährungsarmut in Deutschland. Einkommensschwache Haushalte können sich derzeit kaum gesunde und nachhaltige Lebensmittel leisten. Menschen, die auf existenzsichernde Leistungen wie Hartz IV angewiesen sind, stehen 5 Euro pro Tag für Lebensmittel zur Verfügung. Das ist ein Skandal. Sozialverbände warnen, dass Obst und Gemüse bald ein Luxusgut für Besserverdienende ist. Längst nicht mehr ist Fleisch und Wurst auf dem Teller Nachweis einer vollen Geldbörse.
Im Gegenteil. Billig auf Kosten von Tier, Natur und Mensch erzeugtes Fleisch gibt es zur Genüge – ein Kilo Hähnchenschenkel für 1,96 Euro etwa. Wer für Umwelt und eigene Gesundheit mehr auf pflanzliche Alternativen umsteigen möchte, zahlt drauf. Stichproben zeigten: Tofuwurst oder Sojaburger waren in der letzten Grillsaison durchschnittlich doppelt so teuer wie rabbattiertes Schweinekotelett oder Hähnchenschenkel.
Die neue Bundesregierung muss also im Rahmen ihrer angekündigten Ernährungsstrategie eine grundlegende Weichenstellung für eine andere Ernährungspolitik vornehmen. Diese Ernährungsstrategie muss Ressortgrenzen überwinden und alle Perspektiven mit einbeziehen. Eine gute Grundlage dafür bildet die „Farm-to-Fork-Strategie“ der Europäischen Kommission (ein Plan, der für eine nachhaltige Lebensmittelproduktion sorgen soll; d. Red.).
Sie gilt es ernst zu nehmen und umzusetzen. Das wird auch längst in gemeinsamen Bündnissen gefordert – so zuletzt auch vom Bündnis #ErnährungswendeAnpacken. Im Bündnis sind wir uns einig: Für eine sozial gerechte Ernährungspolitik ist eine entsprechend gestaltete Sozialpolitik unerlässlich. Dazu zählt zum Beispiel die angemessene Anpassung der Sozialleistungen und der Kampf gegen den Niedriglohnsektor. Gesundes, nachhaltiges Essen darf kein Privileg für Besserverdienende sein. Es ist ein Recht für alle.
Sicher ist: Die Lebensmittelbesteuerung gehört auf den Prüfstand. Richtschnur bieten könnte das sogenannte True Cost Accounting. Diese „wahre Kostenrechnung“ berücksichtigt nicht nur die direkten Kosten, sondern auch die gesamtgesellschaftlichen. Ökobilanzierungen ermitteln die Auswirkungen auf Klima, Wasserverbrauch oder auch Biodiversität.
Die Ergebnisse könnten als Grundlage für eine Nachhaltigkeitssteuer dienen, wie sie auch der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz empfiehlt. Dabei sollten nicht nur Umweltaspekte berücksichtigt werden, sondern auch Soziales, Gesundheit sowie Tierwohl. So könnte die derzeitige preisliche Benachteiligung von gesunden und nachhaltigen Lebensmitteln vermindert werden, da diese steuerlich entlastet würden.
Jahrgang 1965, ist Mitglied der Geschäftsleitung des WWF und verantwortet die Naturschutzarbeit für den Erhalt der biologischen Vielfalt. Er hat früher für den NABU gearbeitet.
Außerdem sollte ein verbindliches Nachhaltigkeitslabel für Lebensmittel eingeführt werden – eines, das klar verständlich ist, wirklich Orientierung bietet und wissenschaftlich belastbar ist. Eine Nachhaltigkeitssteuer und ein verbindliches Nachhaltigkeitslabel würden den Anreiz für Unternehmen in der Lebensmittelwirtschaft stärken, gesundheitsförderliche und tierwohlgerechte Lebensmittel anzubieten. Denn wer will schon erkennbar als Schlusslicht dastehen?
Was aber bringen alle diese Maßnahmen den Erzeuger:innen? Wie kommen sie zu fairen Preisen für ihre Milch, ihr Getreide und ihr Fleisch? Kaum eine Landwirtin oder ein Landwirt kann heute noch allein vom Verkauf der eigenen Produkte leben. Zu 40 Prozent bestehen ihre Einkommen in Deutschland aus staatlichen Subventionen. Die größten Gewinne werden entlang der sogenannten Lebensmittelversorgungskette erzielt, also in der Weiterverarbeitung und im Handel.
In der Getreideproduktion fließen beispielsweise weniger als 5 Prozent des Endpreises an die Landwirt:innen zurück. Wer nachhaltigere Bewirtschaftungsmethoden wählt, tut dies oft auf eigene Kosten. Gleiches gilt beim Tierwohl. Gefragt ist hier eine andere Agrarpolitik: Öffentliche Gelder gibt es für Leistungen, die der Gesellschaft dienen. Demnach wird finanziell honoriert, wer diejenigen Produktionsmethoden wählt, die umweltverträglich sind und die Artenvielfalt fördern.
Özdemir muss nachlegen
Ein weiteres Instrument für fairere Erzeugerpreise ist die Europäische Richtlinie zur Bekämpfung von unlauteren Handelspraktiken. Sie wurde in Deutschland 2021 im „Agrarorganisationen-und-Lieferketten-Gesetz“ umgesetzt. Über eine eingerichtete Beschwerdestelle kann sich jetzt jeder Betrieb in der Lebensmittelversorgungskette über unfaire Handelspraktiken seines Käufers beschweren – auch Unternehmen außerhalb der EU. Ob sich das bewährt, wird sich zeigen. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Preisbeobachtungsstelle, wie sie Frankreich und Spanien eingeführt haben.
Cem Özdemir hat den Stein erneut ins Wasser geworfen. Das ist gut so. Nun muss er auch nachlegen. Die Zeit für eine Ernährungswende ist reif.
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