Uiguren in „Umerziehungslagern“: Was offiziell nicht geschah

Lange Zeit wusste man nicht, was in den chinesischen „Umerziehungslagern“ in Xinjiang passierte. Neue Bücher erzählen nun vom Psychoterror.

Portrait von Mihrigul Tursun

Mihrigul Tursun erlebte Folter und Psychoterror in einem „Umerziehungslager“ Foto: Kuzzat Altay

Berichte über die Existenz sogenannter Umerziehungslager in Chinas nordwestlicher Provinz Xinjiang gibt es etwa seit 2017. Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge sind dort zeitweilig mindestens eine Million Angehörige der muslimischen Minderheiten der Uiguren und Kasachen eingesperrt gewesen.

Noch heute gibt es diese Lager in großem Stil, wenngleich mit mutmaßlich weniger Insassen. Denn die Regierung praktiziert inzwischen weniger offensichtlichere Formen der Kontrolle, Unterdrückung und Zwangs­assimilation der muslimischen Bevölkerung. Chinas Regierung streitet die Existenz der Lager nicht mehr ab. Peking nennt sie „Ausbildungszentren“ und stellt sie dar als Maßnahme gegen islamistischen Terrorismus wie als Fürsorge für die dortigen Muslime.

Mihrigul Tursun/Andrea C. Hoffmann: „Ort ohne Wiederkehr. Wie ich als Uigurin Chinas Lager überlebte“. Heyne, München

Gulbahar Haitiwaji/Rozenn Morgat: „Wie ich das chinesische Lager überlebt habe. Der erste Bericht einer Uigurin“. Aufbau, Berlin

Eine unabhängige internationale Untersuchung der Lager lässt Peking nicht zu, wie auch der Zugang nach Xinjiang für unabhängige Journalisten inzwischen so gut wie unmöglich ist. Dabei lädt Peking selbst gelegentlich gefällige Youtuber, Reiseblogger und andere Influencer ein, um Videos über die landschaftliche Schönheit der Region und ihre freundlichen Bewohner zu veröffentlichen. Darin wird verkündet, dort seien gar keine Lager vorhanden, denn auf Nachfrage habe niemand deren Existenz bestätigen können.

Über die Zustände und Behandlung in den Lagern gibt es kaum Berichte. Sie stammen alle von Personen, denen später die Ausreise ins Ausland gelang – wegen dort lebender Angehöriger und der Hilfe von Botschaften.

Menschenunwürdige Zustände

Jetzt sind gleich zwei Bücher uigurischer Frauen erschienen, die in Xinjiang an unterschiedlichen Orten – Mihrigul Tursun bis April 2018 und Gulbahar Haitiwaji bis März 2019 – in Umerziehungslagern saßen und ihre traumatischen Erlebnisse mit Hilfe westlicher Journalistinnen aufgeschrieben haben. Haitiwajis Tochter mobilisierte die französische Regierung, sodass sie freikam.

Tursun konnte ausreisen, da ihre Kinder die ägyptische Staatsbürgerschaft hatten. Doch die chinesische Regierung schikanierte Tursuns Familie bei der Ausreise, die sich immer weiter hinauszögerte, sodass ihr Mann seinen Urlaub massiv überzog. Er selbst sitzt jetzt in Dubai im Gefängnis, da sein Arbeitgeber ihn verklagte.

Digitaler taz Talk am 25. Januar, 19–20.30 Uhr mit Mihrigul Tursun, Andrea C. Hoffmann, Mihriban Memet, Julia Duchrow. Moderation: Sven Hansen

Tursun und Haitiwaji berichten von Folter und Misshandlungen, Todesfällen, Vergewaltigungen, Elektroschocks, Psychoterror, Indizien von Zwangssterilisationen, Dauerüberwachung, Sippenhaft, Entsolidarisierung und insgesamt menschenunwürdigen Zuständen. Gemeinsam ist den beiden Frauen mit Hochschulbildung, dass sie sich bis zum Ende als unschuldige gute Bürgerinnen fühlten. Sonst wären sie nie freiwillig aus dem Ausland nach China zurückgekehrt. Doch ihren Peinigern schien es nur darum zu gehen, sie zu brechen und zu willfährigen Instrumenten des Regimes zu machen. Diesem sollten sie huldigen und ihre „Verbrechen“ gestehen. Umgekehrt wollten die Frauen irgendwann nur noch den nicht auszuhaltenden Horror irgendwie beenden – tot oder lebendig.

Mihrigul Tursun hatte Interesse an der arabischen Sprache entwickelt, als sie in Guangzhou für eine Firma arbeitete, die mit arabischen Ländern Geschäfte machte. Darauf bewarb sich Tursun für ein Stipendium in Ägypten. In Kairo lernte sie ihren Mann kennen.

„Umerziehung“ durch Angst

Nach der Geburt von Drillingen reiste sie 2015 zum Besuch ihrer Eltern nach China. Dort wurde sie sofort von ihren Säuglingen getrennt und verhaftet, offenbar aus Angst, sie könne den Bazillus des „Arabischen Frühlings“ mitbringen. Zwei Monate später war einer der Säuglinge gestorben, die anderen beiden krank. Tursun wurde freigelassen, um die Kinder aufzupäppeln, die Ägyptens Staatsbürgerschaft haben. Tursuns Pass wurde einbehalten, sie konnte nicht ausreisen, wurde permanent überwacht und durfte ihren Mann nicht kontaktieren. Im April 2017 hatten sich ihre Kinder stabilisiert, sie wurde erneut festgenommen und kam in ein Umerziehungslager.

Der „Unterricht“ bestand darin, ein Buch mit Slogans der Kommunistischen Partei sowie Sprüchen von Mao Zedong und dem heutigen Staats- und Parteichef Xi Jinping auswendig zu lernen. So musste sie immer wieder aufsagen: „Es ist unsere Verantwortung, hart für die große Erneuerung der chinesischen Nation zu arbeiten.“ Oder: „Was ist die Quelle allen Übels? Separatismus, Terrorismus, Extremismus.“ Dazu gab es militärische Übungen und immer wieder Schikanen, etwa wenn bei der Essensausgabe das individuelle Singen der Nationalhymne zur Voraussetzung für den Nahrungserhalt gemacht wurde.

Die Muslima musste immer wieder Sprüche wie „Meine Religion ist die Kommunistische Partei und mein Gott ist Xi Jinping“ nachbeten. Am stärksten belastete sie das Aufsagen von Gedichten, die sie an ihre Eltern erinnerten und Schuldgefühle auslösten. „Deine Eltern möchten, dass du nach Hause zurückkommst und sie umarmst… Verdienen deine Eltern so ein Kind, das Verbrechen begangen hat? Haben sie Kinder, die keine Zukunft haben, verdient?“ Tursun: „In solchen Momenten, während ich auf der Stelle marschierte und dabei zum hundertsten Mal den Text aufsagte, glaubte ich wirklich an den Inhalt. Ja, die Kommunistische Partei hatte nur das Beste für meine Zukunft gewollt. Aber ich hatte ihr Angebot zurückgewiesen und hatte mich undankbar gezeigt. Deshalb war ich selbst schuld an meinem Schicksal. Damals begann ich so zu fühlen. Die tägliche Gehirnwäsche begann zu wirken.“

Gulbahar Haitiwaji hatte schon zehn Jahre in Frankreich gelebt, als sie im November 2016 von ihrem früheren Arbeitgeber unter einem Vorwand nach China gelockt wurde. Anders als ihr Mann und ihre Töchter hatte sie Chinas Staatsbürgerschaft behalten, um so leichter ihre Eltern besuchen zu können. Bei der Ankunft in Xinjiang schnappte die Falle zu. Man hielt ihr ein Foto vor, das ihre ältere Tochter auf einer Demonstration von Uiguren in Paris zeigte. Für die nächsten zweieinhalb Jahre verschwand Haitiwaji, die früher in China als Ingenieurin gearbeitet hatte, im Umerziehungslager Bai­jian­tan. Dort habe es jeden Freitag eine mündliche und eine schriftliche Prüfung gegeben. Sie schreibt: „Unter dem misstrauischen Blick der Lagerleitung käuen wir abwechselnd den kommunistischen Brei wieder, der uns täglich vorgesetzt wird … Wir sind nur noch abgestumpftes Vieh.“

Auch bei ihr verfängt die „Umerziehung durch Angst, Erpressung und Zensur“, wie sie es nennt: „Stück für Stück hat diese heimtückische Strategie der Umerziehung meine Wachsamkeit überrumpelt. Als ich noch die Kraft dazu hatte, sagte ich mir immer, das alles sei nur ein Lügengespinst, ich würde zwar tun, als gehöre ich dazu, aber meinen kritischen Verstand bewahren. Dummerweise habe ich Gefallen an dem Spiel gefunden. Kaum waren die Riegel hinter uns vorgeschoben, schlug eine von uns vor, die Lektionen des Tages zu wiederholen. In tadelloser Reihe vor unseren Betten, die Arme gerade am Körper, vor uns ein Publikum aus unsichtbaren Direktoren, stimmten wir wie die anderen in den Nachbarzellen die Nationalhymne an. Die Umerziehung begann zu wirken.“

„Frei“ sein ist keine Freiheit

Nach zweieinhalb Jahren darf sie das Lager verlassen, ohne frei zu sein. Hai­tiwaji muss in eine Art WG mit Polizisten ziehen. Und soll ihre Familie in Frankreich anrufen – überwacht und mit klaren Vorgaben. Sie muss ihren Liebsten, die dort eine Kampagne für ihre Freilassung gestartet hatten, Lügen erzählen und drängen, die Kampagne zu beenden. Nach zweieinhalb Jahren Kontaktverbot muss sie mehrmals die Woche anrufen und der Familie sagen, welche Social-Media-Posts sie löschen müssen. Immer wieder muss sie Mann und Töchter belügen.

Auch Tursun kam zwischenzeitlich „frei“. Stand sie beim ersten Mal unter Überwachung der App eines behördlichen Handys, die ihr beim Einkauf schon den Zugang zu Geschäften erschwerte, bekam sie beim zweiten Mal „Verwandtenbesuch“. In der Zweizimmerwohnung ihrer Eltern, mit denen sie zusammen mit ihren Kleinkindern lebte, mussten sie zwei Polizisten aufnehmen und versorgen. Ein Polizist bestand darauf, bei ihr und ihrer Mutter im Bett zu schlafen. Als der sie sexuell belästigte, entwickelte Tursun Mordgedanken.

Etwas Ähnliches muss sich bei der alleinerziehenden Nachbarin abgespielt haben. Den Geräuschen nach zu urteilen, die Tursun hörte, vergewaltigte der Polizist erst die achtjährige Tochter. Einige Tage später fiel er über die Frau her. Die erstach ihn mit einem Messer.

Die Berichte von Tursun und Haijiwati zeigen, wie Chinas Botschaften auch im Ausland chinesische und vor allem uigurische Staatsbürger überwachen und wie offenbar wichtig es für Peking ist, kritische Berichte im Ausland zu unterdrücken. Das Regime ist also mitnichten gegen Kritik immun.

Deshalb sind die beiden Bücher so wichtig. Dabei fühlen sich die beiden Frauen – Tursun lebt heute in Washington, Haitiwaji in Paris – immer noch nicht richtig frei, sondern weiterhin von Peking überwacht und diskreditiert. Für das Regime sind sie Lügnerinnen. Schließlich habe man von ihnen Geständnisse und Erklärungen, in denen sie sich für die gute Behandlung bedankten. Aus den Büchern wird deutlich, wie die mutigen Frauen dazu gezwungen wurden.

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