Kunst zur Situation der Ui­gu­r:in­nen: „Die Kultur wird zerstört“

Künstlerin Mukaddas Mijit und Journalistin Jessica Batke verhandeln in einer Performance Themen wie Zwang, Inhaftierung und Überwachung. Ein Gespräch.

Eine dunkelhaarige Frau vor einer Graffiti-Wand

Mukaddas Mijit ist uigurische Künstlerin und Ethnomusikologin und hostet den Podcast „WEghur Stories“ Foto: Michael Weinberg

taz: Mukaddas Mijit, Sie kommen aus Xinjiang – einer Region Chinas, die wegen der dort praktizierten Menschenrechtsverletzungen immer wieder in den Nachrichten auftaucht, über die aber sonst wenig bekannt ist. Wie war es, dort aufzuwachsen?

Mukaddas Mijit: Mein Vater war Professor an der Universität von Xinjiang. Seine Tätigkeit prägte das Umfeld meiner Kindheit. Ich wuchs in einer segregierten Gesellschaft auf, hauptsächlich unter Uigur:innen, Kasach:innen, Kir­gi­s:in­nen und anderen Turkstämmigen. Han-Chinesen waren nicht unter meinen Freund:innen. So war das Bildungssystem ausgerichtet, der Schulunterricht wurde, im Unterschied zu heute, auf Uigurisch abgehalten.

Gleichzeitig herrschte – in den Jahren nach der chinesischen Kulturrevolution – eine Atmosphäre der Hoffnung und der Erneuerung. Wir haben westliches Fernsehen empfangen und westliche Musik gehört und mit unserer eigenen Kultur kombiniert. Spannende Kunstszenen blühten auf.

Wann waren Sie zuletzt dort und wie war das?

MM: 2013. Mein französischer Partner hatte mich begleitet. Diese Tatsache machte die Reise damals schon schwierig. Er wurde ständig von der Polizei kontrolliert, wir sahen uns in Hotels verhörartigen Situationen ausgesetzt. Er sagte daraufhin: „Dein Herkunftsland ist unglaublich schön, aber ich denke, dass ich in nächster Zeit nicht mehr dorthin kommen kann. Der Druck versetzt mich zu sehr in Stress.“

Das Kontroll- und Überwachungssystem war also schon stark ausgeprägt. 2015 war ich noch einmal in China – auf Tour mit einem Musikprojekt. Unter anderem hatten wir einen Auftritt in meiner Heimatregion geplant, der uns jedoch wegen des internationalen Casts nicht erlaubt wurde. 2017 ergab sich eine weitere Gelegenheit für eine Reise, die ich ausschlug, weil ich meine Sicherheit nicht mehr gewährleistet sah.

Die Performance erzählt über die aktuelle Situation der Uigur:innen, eines zentralasiatischen Turkvolks, das größtenteils in der chinesischen Region Xinjiang lebt. Berührt werden Themen wie Zwang, Inhaftierung und Überwachung, von der Millionen Menschen betroffen sind. Entwickelt haben das Projekt die uigurischen Künstlerin und Ethnomusikologin Mukaddas Mijit, die Journalistin Jessica Batke und das multidisziplinäre New Yorker Kunstlabor The New Wild. Zu sehen in der Alten Münze vom 27. Juli bis 2. August.

Jessica Batke, Sie haben die Performance „Everybody is gone“ über die Situation der Ui­gu­r:in­nen in China mit Mukaddas produziert, sind aber hauptberuflich Recherche-Journalistin und Analystin, waren lange im US-State Department’s Bureau of Intelligence and Research, inzwischen bei der investigativen und akademisch orientierten Plattform ChinaFile tätig. Wie kriegen Sie diese zwei Herausforderungen zusammen?

Jessica Batke: Gute Frage. Es ist hart, aber es lohnt sich. Die Arbeit an der Performance hat nichts mit meinem Job bei ChinaFile zu tun. Als die Situation der Ui­gu­r:in­nen ab 2017 bedeutend schlechter wurde, suchte ich nach weiteren Möglichkeiten, darüber zu kommunizieren, was passiert. Der Theaterkontext erlaubt einen anderen Zugang, ein gemeinsames Erleben – diese Ebene interessiert mich sehr. Bereits im Prozess einer performativen Arbeit gibt es viel Kommunikation. Zum Beispiel mit den Schauspieler:innen, die das erworbene Wissen in deren Umfelder weiter vermitteln.

Porträt einer Frau mit Kurzhaarschnitt, großen Ohrringen, Brille und roten Lippen

Journalistin und Analystin Jessica Batke ist mit Mitproduzentin des Projekts „Everybody is gone“ Foto: Casey Scieszka

Waren Sie selbst in der Region Xinjiang?

JB: Ja, ich war mehrere Male dort, zuletzt Ende 2016. Damals arbeitete ich noch für die US-amerikanische Regierung – in diesem Rahmen hatte ich auch Uigurisch gelernt – und fühlte mich daher relativ gut abgesichert. Seither war ich einige Male für meine aktuelle Arbeit in Zentralchina. Auch außerhalb Xinjiangs fühle ich mich inzwischen jedoch nicht mehr sicher. Ich würde nicht sagen, dass ich wichtig genug bin, um der chinesischen Regierung schlaflose Nächte zu bereiten, dennoch wäre ich wahrscheinlich durch meine Arbeit ein gutes Ziel, wenn es darum geht, ein Exempel zu statuieren.

Das niederländische Parlament hat die Maßnahmen gegen die Ui­gu­r:in­nen 2021 als Genozid bezeichnet. Der Begriff ist jedoch sehr umstritten. Der deutsche Sinologe Björn Alpermann spricht von einem „kulturellen Genozid“. Trifft das die von Ihnen erfahrene Situation?

JB: Kompliziertes Thema. Wir sind keine Menschenrechtsanwälte und denken, dass es nicht unsere Aufgabe ist, den Terminus zu bestimmen. Es geht uns darum, darauf aufmerksam zu machen, was passiert, damit klar wird, dass es aufhören muss. „Kultureller Genozid“ ist, soweit ich weiß, kein im internationalen Recht definierter Begriff. Was gesagt werden kann: Die Kultur der Ui­gu­r:in­nen wird zerstört, vor allem durch die Unterbindung einer Weitergabe zwischen den Generationen. Daher gibt es Kinder, die in Waisenhäuser verschleppt werden, ist das Uigurisch aus dem Schulunterricht verschwunden, etcetera.

Ein Großteil unseres Kulturerbes und Wissens steckt nun in sogenannten Umerziehungslagern.

Welche Art von kulturellem Erbe wird darüber hinaus zerstört?

MM: Es gibt eine lange Liste von Künst­le­r:in­nen und Intellektuellen, die in Camps deportiert wurden. Sie gehörten zu den ersten Opfern der Maßnahmen. Ein Großteil unseres Kulturerbes und Wissens steckt daher nun in sogenannten Umerziehungslagern. Darüber hinaus werden historische Bauten und Friedhöfe umfunktioniert. Weiterhin wird zwar ein kleiner Teil des Liedguts für Repräsentationszwecke erlaubt, allerdings nur, wenn die dichterischen Inhalte entfernt werden – zum Beispiel all die jahrhundertealte spirituelle Sufi-Poesie – und die Texte letztlich darauf hinauslaufen, wie süß die Trauben sind.

Wie gehen Sie selbst mit Ihrem kulturellen Erbe und dem, was Sie als Ethnomusikologin gesammelt haben, um?

MM: Vor allem durch künstlerische Arbeit. Wenn man zu sehr befürchtet, etwas zu verlieren und es nur um die Konservierung geht, dann verliert das Material letztlich seine Lebendigkeit. Die wissenschaftliche Methode hat mir ein Wissen über das Feldforschungsmaterial, das ich noch aus den Zeiten besitze, in denen ich mich frei in der Region bewegte, verschafft. Dieses Wissen vergrößert die Möglichkeiten der Weiterentwicklung.

Jede Person in der Region ist einer permanenten Überwachung und der ständigen Drohung, deportiert zu werden, ausgesetzt.

Gibt es internationale Unterstützung für uigurische Künst­le­r:in­nen um ihre künstlerische Praxis zu erhalten?

MM: Nicht, dass ich wüsste. Auch ist die Gefahr, dass es kaum ein Bewusstsein für zeitgenössische uigurische Kunst in der Welt gibt. Wenn die Kultur meiner Heimatregion in anderen Ländern sehr gelegentlich präsentiert wird, dann meist einem folkloristischen Verständnis folgend.

Nach ausschlaggebenden Leaks 2019 und 2022 und darauf folgenden investigativen Medien-Recherchen ist die Weltöffentlichkeit über sogenannte „Umerziehungslager“ für etwa eine Million Menschen, über Folter, Überwachung, Zwangssterilisation und andere Maßnahmen der chinesischen Regierung gegen die Ui­gu­r:in­nen informiert. Wie verarbeiten Sie solche Informationen künstlerisch?

JB: Wenn jemand über die von Ihnen genannten Zustände liest, stellt sich oft die Frage: Kann das alles wahr sein? Heute noch? Wir bieten dem Publikum szenische Stationen an, anhand derer es nach eigenem Ermessen das Ausgeliefertsein an einen Überwachungsstaat erfahren kann. Wir haben uns jedoch bewusst dagegen entschieden, die Bedingungen in den Camps zu inszenieren. Aus mehreren Gründen: Es ist schwer, an Informationen heranzukommen, die Camps sind unterschiedlich und je nachdem, wer du bist und warum du dort bist, wirst du auch unterschiedlich behandelt.

Daher werden wir diese Erfahrungen nicht generalisieren. Jede Person in der Region ist jedoch einer permanenten Überwachung und der ständigen Drohung, deportiert zu werden oder zur Zwangsarbeit eingezogen zu werden, ausgesetzt. In erster Linie geht es uns um diese Unfreiheit im alltäglichen Leben und die Auswirkungen auf das Denken und Fühlen.

Everybody is gone“ ist eine interdisziplinäre Arbeit zwischen Kunst und Journalismus. Kunst darf mit Suggestion und Affekt viel freier umgehen als Journalismus. Welche Fallstricke und Möglichkeiten sehen Sie in der Kombination?

MM: Das ist eine zentrale Frage für uns. Da es sehr schwierig ist, dokumentarisches Video-Rohmaterial aus Xinjiang zu bekommen, müssen wir die Realität auf Grundlage von Erzählungen und journalistischem Material konstruieren. Unsere Szenen sind aufgrund konkreter Quellen entstanden, die allesamt dem Publikum zugänglich sind. Die künstlerische Arbeit besteht darin, das Material zum interaktiven Erfahrungsraum zu gestalten, in dem die Mechanismen der Überwachung spürbar werden – darunter auch solche, die nicht nur chinaspezifisch sind, sondern Teilen eines deutschen Publikums ebenso bekannt vorkommen dürften.

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