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Bitte mal ganz frei machen

Ein in der Berliner Homosexuellenszene prominenter Arzt steht unter Verdacht, in seiner Praxis Patienten missbraucht zu haben. Nach vielen Jahren landen mehrere der Fälle endlich vor Gericht. Nun wurde ein Urteile gefällt

Von Martin Reichert (Text) und Oliver Sperl (Illustration)

Nachdem der Richter das Urteil verlesen hat, ertönt verhaltener Jubel auf den langen Holzbänken im Zuschauerbereich von Saal 135 des Berliner Amtsgerichts Tiergarten. Im ersten Moment ist unklar, wer hier nun jubelt: die Angehörigen des Arztes, dem sexueller Missbrauch an seinen Patienten vorgeworfen wird, oder die Freunde des Nebenklägers, der Patient des Arztes war.

Der Richter Rüdiger Kleingünther verurteilt den Arzt zu 36.000 Euro Geldstrafe. Über den Nebenkläger sagt er: „Wir haben keine vernünftigen Zweifel an seiner Aussage.“

Ursprünglich war dem Arzt Missbrauch in fünf Fällen vorgeworfen worden: Er soll unter anderem unangemessen ausgedehnte Analuntersuchungen vorgenommen haben, Penisse bis zur Ejakulation manipuliert haben. Ein Verfahren wurde zwischenzeitlich abgetrennt und soll separat weitergeführt werden. Eine Nebenklägerin, eine Transfrau, hatte aus psychischen Gründen aktuell nicht aussagen können. Bestraft wird der Arzt laut Richter Kleingünther aber nur wegen einer „nur sehr kurzen strafwürdigen Manipulation“. Von dem Vorwurf, drei weitere Patienten sexuell missbraucht zu haben, wird er freigesprochen.

Der Fall, der in der Öffentlichkeit und in der „Szene“ als eine Art schwules deutsches #MeToo gehandelt wird, endet nach einem halben Jahr also eher unspektakulär. Die verhängte Geldstrafe entspricht ungefähr dem Kaufpreis eines gut ausgestatteten VW Golf – und nicht nur draußen vor den Türen des Gerichtssaals fragt man sich nach der Verkündung: Ist diese Strafe angemessen oder zu niedrig?

Der Arzt, dessen Name aus presserechtlichen Gründen nicht genannt werden darf, weil das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, kennt so gut wie jeder homosexuelle Mann in Berlin. Der „HIV-Arzt“ oder auch der #Arzt­ohne­Namen betreibt seit 1994 zusammen mit anderen eine große Hausarzt- und HIV-Schwerpunktpraxis im Berliner „Regenbogenkiez“ in Berlin-Schöneberg. Die Praxis befindet sich direkt über einer der vielen queeren Bars im Viertel, und weil diese auch einen Darkroom hat, geht ein Witz so: Unten im Keller holt man sich die Krankheit, oben in der Praxis die Tabletten. Schwuler Galgenhumor.

Mit der Krankheit sind in den 1990er Jahren Geschlechtskrankheiten gemeint, aber vor allem HIV: Als die Praxis eröffnet, gibt es noch keine tatsächlich wirksame Therapie, noch immer sterben viele Menschen an Aids, auch wenn die Zahl der Infektionen sich verringert – die Präventionspolitik aus der Hochzeit der Krise in den 1980er Jahren trägt Früchte, der Staat hatte weder Kosten noch Mühen gescheut, um das Virus auf seinem Weg von den Rändern in die Mitte der Gesellschaft aufzuhalten.

Das Jahr der Praxisgründung, 1994, ist auch das Jahr, in dem der „Schwulenparagraf“ 175, der Homosexualität kriminalisierte, endgültig abgeschafft wird. Ein Jahr zuvor hat die WHO Homosexualität aus der Liste der Seuchen, Krankheiten und Epidemien gestrichen. Homosexualität ist nun kein Grund mehr, sich vor Gericht rechtfertigen zu müssen.

Anfangs war die Praxis stigmafreier Safe Space

Ab 1996 ist dann die Infektion mit dem HI-Virus kein Todesurteil mehr, sondern kann mithilfe eines Medikamentencocktails in Schach gehalten werden. Wohl aber ist die Infektion weiterhin mit Schrecken und vor allem einem Stigma behaftet: Wer positiv ist, spricht nicht darüber, und wenn, dann nur in einem kleinen Kreis – genau wie ja auch über die anderen, harmloseren, da gut heilbaren Krankheiten, die man sich „holen“ kann, wenn man eine Sexualität abseits der Normen lebt. Tripper, Filzläuse, Chlamydien, Feigwarzen, Syphilis.

Über all dies ohne Scham zu reden, ist in einer schwulen HIV-Schwerpunktpraxis selbstverständlich: Sie ist ein „Safe Space“, ein Schutzraum, glaubt man. Zudem ist die stylish eingerichtete, lichtdurchflutete Praxis im Nollendorfkiez absolut „up to date“, der „HIV-Arzt“ ein junger Mann mit blondem Haar und modischer Brille, international verdrahtet und zu Gast auf Konferenzen, bekannt mit einem der Entdecker des HI-Virus, Robert Gallo – so erzählt er es 2007 stolz dem Ärzteblatt, in dem er auch erklärt, dass er einen eher lockeren, weniger distanzierten Umgang mit seinen Patienten pflege, er duze sie auch, wenn sie es möchten. Vorbei die Zeit der autoritären Götter in Weiß, Teil jener Phalanx aus Richtern, Priestern und eben auch Medizinern, die Homosexualität unterdrückt hatten.

So wird der HIV-Arzt eine lokale Celebrity, sitzt auf Podien, gibt Interviews. Er gehört zum Establishment der expandierenden queeren Berliner Community der 1990er und 2000er Jahre, die allerdings immer noch stark parallelgesellschaftliche Züge trägt, wie ein kleines Dorf innerhalb der großen Stadt Berlin wirkt.

In diesem Dorf wird schon früh darüber getratscht, was so alles an Unmoralischem vor sich geht in der Praxis. Das Gemunkel bleibt lange Zeit innerhalb der Dorfgemeinschaft, in der es ohnehin dazu gehört, nicht „an die große Glocke“ zu hängen, was gestern Abend im dunklen Keller geschah. Man denkt sich seinen Teil, lacht womöglich darüber – gehört nicht eine gewisse Übergriffigkeit dazu in einer Welt, in der Männer Sex mit Männern haben? Eine gewisse Derbheit einerseits und ein „Hab dich nicht so“ andererseits?

Erst im Jahr 2013 eröffnet die Berliner Ärztekammer ein offizielles Verfahren, bei dem zunächst mehrere Betroffene zu mutmaßlichen Übergriffigkeiten des HIV-Arztes aussagen – was keine Konsequenzen hat. Der von der Ärztekammer bereits zu diesem Zeitpunkt erwogene Entzug der Approbation wird durch das dafür zuständige Landesamt für Gesundheit und Soziales abgelehnt, der Arzt kommt weiteren Maßnahmen zudem mit einer „Selbstverpflichtungserklärung“ zuvor, in der er sich bereit erklärt, seine Patienten künftig vor Untersuchungen im Intimbereich eine schriftliche Aufklärung zur Einwilligung unterschreiben zu lassen und entsprechende Untersuchungen nur noch in Gegenwart Dritter durchzuführen.

Dennoch ermittelt im Jahr 2014 die Polizei, bis schließlich im Jahr 2016 die Berliner Staatsanwaltschaft eine Klageschrift wegen „sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Behandlungsverhältnisses“ erstellt, bei der zunächst die fünf ursprünglich von der Ärztekammer verhandelten Verfahren aufgenommen werden. Der Versuch des Arztes, eine Einstellung des Verfahrens zu erreichen – den Betroffenen wurde laut Verteidigung die Zahlung von jeweils vierstelligen Summen in Aussicht gestellt –, scheitert. Dennoch passiert erst einmal nichts, die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Berliner Tempo.

Hinter den Kulissen herrscht hingegen eine rege anwaltliche Tätigkeit, die darauf abzielt, negative Publicity abzuwenden. Im queeren Berliner Stadtmagazin Siegessäule wird eine Anzeige geschaltet, in der nach weiteren Opfern des Arztes gesucht wird – wenig später werden die Räume der Redaktion aufgrund eines richterlichen Beschlusses vom Landeskriminalamt (LKA) durchsucht, um den Urheber der Anzeige zu finden.

Die Öffentlichkeit nimmt von all diesen Vorgängen überhaupt erstmals Notiz, als die Jour­na­lis­t*in­nen Juliane Löffler (bei Buzzfeed) und Thomas Vorreyer (bei Vice) unter großem Aufsehen Artikel veröffentlichen, in denen sie umfänglich über die Vorgänge rund um die Berliner Arztpraxis berichten. Hier geht es nun nicht mehr ums Duzen, sondern um den Vorwurf des Wangestreichelns, Küssens, um anzügliche Bemerkungen, die ausgedehnte Stimulation der Prostata, Reiben des Penis. Angestellte der Berliner Schwulenberatung werden anonym mit der Aussage zitiert, dass ihnen seit den 1990er Jahren mehr als hundert Beschwerden über Grenzverletzungen bekannt seien, auch andere Berliner Sozialeinrichtungen und Betroffene kommen zu Wort. Vor allem nicht deutsche junge Männer ohne Versicherungsschutz sollen betroffen gewesen sein, tatsächlich ein schwules deutsches #MeToo also?

Jedenfalls steht nun eine fundierte Recherche im Raum. Auch in der „Szene“ beginnt man darüber nachzudenken, warum all dies, wenn es denn wahr ist, so lange möglich gewesen war, ohne dass jemand eingeschritten ist. Oder überhaupt auf die Idee gekommen wäre, dass solche Vorgänge „im Dorf“, sozusagen eine innerschwule Angelegenheit, von Interesse für die Staatsanwaltschaft sein könnten.

Andere, größere Medien berichten nun. Zumindest für kurze Zeit: Nur wenige Tage nach Onlinestellung werden die Artikel auf Anordnung des Berliner Landgerichts offline gestellt, die Anwälte des Arztes, darunter Johannes Eisenberg, der regelmäßig auch diese Zeitung vertritt, hat mehrere einstweilige Verfügungen gegen die erschienenen Artikel erwirkt.

Das Landgericht bestätigt die Verfügungen im Oktober 2019 nach mündlicher Verhandlung – die Regeln der sogenannten Verdachtsberichterstattung seien nicht hinlänglich eingehalten worden, der Eindruck einer Vorverurteilung sei entstanden. Dagegen legten Vice und Buzzfeed News jeweils Berufung beim Berliner Kammergericht ein, mit überwiegendem Erfolg, wie sich schon aus der Kostenentscheidung ergibt: Der Arzt hat drei Viertel der Gerichtskosten zu tragen, die Medien gemeinsam tragen ein Viertel. Die Artikel können wieder online gehen, wenn auch an einigen Stellen gekürzt. Die Vorwürfe können nun konkret benannt werden: Analuntersuchung und Prostatamassage ohne ersichtlichen Grund. Masturbation. Sich nackt ausziehen müssen. Versuchter Oralverkehr. Kussversuche.

„Ich hätte mir die Anstrengung dieses Hauptverfahrens gerne erspart“

Ein Belastungszeuge

Im April des Jahres 2021 ist es schließlich so weit, acht Jahre nach den bei der Ärztekammer angezeigten Vorwürfen und erstaunlich nahe an den Verjährungsfristen: Der Prozess wird eröffnet.

Vor Saal 135 im Amtsgericht Tiergarten herrscht Gedränge, aufgrund von Corona wurde die Zahl der am Verfahren teilnehmen könnenden Jour­na­lis­t*in­nen per Losverfahren auf fünf begrenzt – der Verfasser dieser Zeilen zählt nicht dazu und kann im Folgenden oft nur auf gut Glück in den Saal gelangen. Den Hergang des Prozesses dokumentiert akribisch Peter Fuchs von queer.de, auch Siegessäule und Spiegel haben regelmäßigen Zugang und berichten. Des Öfteren aber wird die Öffentlichkeit von den Verhandlungen ausgeschlossen, um die Privat- und Intimsphäre der vernommenen Zeu­g*in­nen und des Angeklagten zu schützen.

Im April 2021 also verliest Staatsanwältin Antonia Bahrdt die Anklageschrift, in der dem Beklagten unter anderem Kussversuche und Penetration des Afters mit mindestens einem Finger und auch Penismassage bei einigen mutmaßlichen Opfern bis hin zur Ejakulation vorgeworfen wird, der Arzt habe sich dadurch „sexuell erregen wollen“.

Das renommierte Verteidigerteam bestehend aus Stefan König, Gilda Schönberg und Johannes Eisenberg erklärt gegenüber dem Vorsitzenden Richter Kleingünther, dass der Arzt der Anklage in allen Punkten widerspreche: Gerüchte bezüglich der mangelnden Distanz des Arztes gegenüber seinen Patienten beruhten auf seinem „unkonventionellen“ Rollenverständnis von Arzt und Patient. Bei den „Übergriffen“ handele es sich um standar­disierte Vorgänge bei einer Sexualanamnese, Hoden und Prostata müssten aus Präventionsgründen abgetastet werden, ein vollständiges Entkleiden sei nötig, um Lymphknoten abzutasten.

Die Nebenkläger, so die Verteidigung laut queer.de, hätten diese hochgradig sexuell besetzten Vorgänge als sexuell und stimulierend empfunden und in ihren Aussagen „fantasiert und dazugedichtet“. Zudem vermuten die Verteidiger aufgrund der 2018 in der Siegessäule geschalteten Anzeige, die nach weiteren Opfern suchte, eine koordinierte Kampagne. Und schließlich hätten die Ne­ben­klä­ge­r*in­nen zum Teil „Partydrogen“ genommen und seien in psychotherapeutischer Behandlung, was Einfluss auf ihr Erinnerungsvermögen haben könnte – die Verteidigung forderte daher die Zulassung eines Gutachters, der eine Expertise über den Wahrheitsgehalt der Aussagen der Ne­ben­klä­ge­r*in­nen abgeben solle. Die Staatsanwaltschaft gewährt ihr den Wunsch, den Rechtspsychologen Günter Köhnke zu laden, der auch schon an dem Missbrauchsprozess gegen den Moderator Jörg Kachelmann teilgenommen hat.

Der angeklagte Arzt, mittlerweile ein älterer Herr (63) mit grauem Haar und dunkler Agenturbrille, wird am zweiten Verhandlungstermin von der Staatsanwältin befragt. Er versucht, glaubhaft zu machen, dass er keine Patienten nötige, sich vor ihm auszuziehen, und er mit eventuell auftretenden Erektionen der Patienten „locker umzugehen“ versuche, auch wenn einige „mit ihrem Steifen vor seiner Nase herumwedeln“ würden; ja, es könne sein, dass einige Patienten die Vorgänge als sexualisiert wahrnähmen, schließlich gebe es eine eigene Kategorie dazu innerhalb der schwulen Pornografie – so berichtet es der anwesende Kollege von queer.de.

Alles nur Missverständnisse? Eine Verwechslung gar mit harmlosen Doktorspielen aus schwulen Pornofilmen?

Quälend lange Zeugenbefragungen

„Ich hätte mir die Anstrengung dieses Hauptverfahrens gerne erspart“, erklärt am neunten Verhandlungstag einer der Belastungszeugen und Nebenkläger, der nun bereits zum zweiten Mal alleine an einem Tisch im Zentrum des riesigen Saals im Amtsgericht Tiergarten sitzt. Vor ihm Richter, Staatsanwältin und Schöffen. Rechts von ihm der Angeklagte mit seinen drei Anwält*innen, links von ihm seine Verteidigerin Barbara Peters. Hinter ihm die Presse, Gerichtsbedienstete, Zuschauer*innen. Alle tragen Masken, die nur zum Sprechen abgesetzt werden dürfen, die Akustik im Saal ist so schlecht wie die Luft.

In den folgenden fünf Stunden muss der Belastungszeuge Rede und Antwort stehen, wird hart angegangen von der Verteidigung des Arztes, lautstark der Lüge und des „bösartigen Nasführens“ des Gerichts bezichtigt. Nach dem von ihm im Jahr 2013 bei der Ärztekammer zur Anzeige gebrachten Vorfall hatte er ein Gedächtnisprotokoll auf seinem Laptop verfasst, dessen Authentizität von der Verteidigung erfolglos angezweifelt wird.

Der Arzt, so die Aussage des Zeugen, habe ihn seinerzeit bei der Abnahme eines Analabstrichs ohne Ankündigung mit einem oder mehreren Fingern penetriert, dabei seine Prostata, seinen Penis und seine Hoden stimuliert. Mittels von ihm selbst ausgeführter Masturbation habe der Zeuge schließlich wieder Kontrolle über die Situation gewinnen wollen – das Gericht wird eben dies in seinem Urteil später nicht nachvollziehen können.

Der Zeuge und Nebenkläger wird quälend lange über das Zustandekommen des Protokolls befragt. Es wird so lange über die Frage gestritten, was der Unterschied zwischen „Fingern“ und „Fisten“ ist und wie viele Finger dabei zum Einsatz kommen, dass der Vorsitzende Richter über dieser Frage kurz wegzunicken scheint. Der Nebenkläger muss über die Geschlechtskrankheiten Auskunft geben, unter denen er seinerzeit gelitten hatte, er wird zu seinem „Partydrogen“-Konsum befragt, der einst in seiner Krankenakte vermerkt wurde: MDMA, Kokain, „keine weiteren Fragen“.

Kurzum: Er muss sich der Strategie der Verteidigung aussetzen, die im Wesentlichen darin besteht, die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu unterminieren und das Bild einer Verschwörung gegen den Arzt zu zeichnen, um dessen berufliche Existenz es in diesem Verfahren immerhin geht. Die Strategie der Verteidigung wird in Bezug auf diesen Nebenkläger aufgehen: „Wir haben zu viele Hinweise darauf, dass der Nebenkläger ein übergroßes Interesse an der Strafverfolgung des Angeklagten hatte“, wird es später in Richter Kleingünthers Urteilsbegründung heißen.

Das Gericht trägt der Ernsthaftigkeit und Unübersichtlichkeit der Angelegenheit Rechnung, indem es im Lauf des Jahres noch sehr oft zusammen kommt: Ein Zeuge aus Israel wird vernommen, der das Komplott gegen den Arzt bestätigen soll. Ein Jurist der Berliner Ärztekammer bestätigt, dass dem angeklagten Arzt die Approbation entzogen werden sollte, weil man die Vorwürfe als schwerwiegend empfunden habe. Ein Biologieprofessor wird zu HPV-Infektionen befragt, um zu klären, ob der angeklagte Arzt (wie er behauptet) stets Handschuhe bei den Behandlungen getragen hat.

Es wird so lange über den Unterschied zwischen „Fingern“ und „Fisten“ und wie viele Finger dabei zum Einsatz kommen debattiert, dass der Richter über dieser Frage kurz wegzunicken scheint

Ein Hausarzt wird zum Ablauf proktologischer Untersuchungen befragt und sagt unter anderem aus, dass sich Patienten für eine solche Untersuchung „gar nicht“ ausziehen müssten. Der Kachelmann-Gutachter Günter Köhnken kommt zu der erstaunlich banalen Erkenntnis, dass einer der Nebenkläger aufgrund seiner Intelligenz theoretisch durchaus dazu in der Lage sei, bestimmte Hergänge zu erfinden – und schließlich kommt sogar die Frage auf, ob der angeklagte Arzt und Mitinhaber der schwulen Kiezpraxis überhaupt homosexuell sei.

An Skurrilitäten ist der Prozess nicht arm: Praxisangestellte des Arztes sind sich darüber uneins, ob der im Lauf des Prozesses mehrfach verhandelte „umgedrehte“ proktologische Stuhl dazu geeignet sei, den Patienten von hinten an Penis und Hoden zu fassen – es ist ein Stuhl, auf den sich der Patient bäuchlings legt, die Beine gespreizt, die Knie auf entsprechenden Vorrichtungen aufgestützt. Es wird zu klären versucht, ob der Satz „Du bist aber schön sauber. Spülst du jeden Tag?“ als anzüglich zu verstehen sein könnte – und ob die Prostata ein „G-Punkt“ sei.

Je länger der Prozess dauert und je komplizierter der Versuch, die Wahrheit herauszufinden – in dessen Rahmen auch viel gebrüllt, gedroht und einmal sogar ein Stinkefinger gezeigt wird –, desto deutlicher wird: Das Gericht weiß eigentlich nicht, was passiert ist, denn außer den Nebenklägern und dem Angeklagten war niemand sonst im Raum.

Anfang Oktober des Jahres 2021 ist die Beweisaufnahme schließlich abgeschlossen, die Schlussplädoyers werden, wieder einmal, unter Ausschluss der Öffentlichkeit verlesen. Am letzten Verhandlungstag, Ende Oktober, fordert die Staatsanwältin in ihrem Schlussvortrag Freispruch in einem Fall sowie Verurteilung in drei Fällen. Der HIV-Arzt solle deshalb zu elf Monaten Haft auf Bewährung verurteilt werden, verbunden mit der Auflage einer Schmerzensgeldzahlung.

Die im Prozess verhandelten Straftaten können mit einer Freiheitsstrafe zwischen drei Monaten und fünf Jahren bestraft werden, das Gericht bewegt sich hier mit seinem Urteil am „unteren Rand“, wie Richter Kleingünther in seiner Urteilsverkündung selbst ausführt: 150 Tagessätze (von denen dem Angeklagten aufgrund der hohen Belastungen durch den Prozess 30 erlassen werden) entsprächen fünf Monaten Haft. Das Gericht ist zu dem Schluss gekommen, dass nur einer der Nebenkläger erkennbar Opfer eines Missbrauchs geworden sei, im Falle des dritten Nebenklägers habe es sich außerdem um einvernehmlichen Sex zwischen Arzt und Patient gehandelt, welcher laut Kleingünther nicht per se strafbar sei.

Die Verteidigerin des Belastungszeugen, dessen Vernehmung oben beschrieben wird, zeigt sich im Anschluss an die Verhandlung entsprechend bestürzt: „Mir ist erst mal die Spucke weggeblieben“, erklärt Barbara Peters vor der Tür des Gerichtssaals. Dass ihrem Mandanten nun zum Vorwurf gemacht werde, dass er sich Beistand gesucht hat, empört sie: „Übersteigertes Interesse? Es war ihm einfach nur klar, dass er das nicht alleine machen kann.“

Dennoch findet Peters, dass sich der Prozess gelohnt hat: „Ich denke, das Verfahren hat insgesamt viel losgetreten. Auch einen Bewusstseinswandel – früher hat man ja zum Teil einfach über solche Vorgänge gelacht.“

Am Ende des Tages wird dann auch klar, wer nach der Verkündung des Urteils im Zuschauerraum gelacht hatte: Es waren die Freunde eines Nebenklägers, die erleichtert und froh darüber waren, dass ihr Freund dieses Verfahren durchgestanden – und, in seinem Fall, am Ende auch gewonnen hat. Ein Lachen der Solidarität. Der HIV-Arzt hat nun die Möglichkeit, Revision oder Berufung einzulegen.

Martin Reichert, 47, ist taz-Redakteur und musste sich bei seinem Arzt noch nie vollständig entkleiden.

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