„Eine andere Perspektive ins Parlament bringen“

Nach dem Anschlag von Hanau entschied die Juristin Awet Tesfaiesus, für den Bundestag zu kandidieren. Was sie gegen Diskriminierung tun will, warum ihr das Vielfaltsstatut der Grünen nicht weit genug geht und sie keine Angst vor rechter Hetze hat

Erinnerung an die Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau Foto: Felix Schmitt

Interview Ralf Pauli

taz: Frau Tesfaiesus, Sie engagieren sich politisch bislang als Stadtverordnete in Kassel. Jetzt wollen Sie für die hessischen Grünen in den Bundestag. Warum?

Awet Tesfaiesus: In Kassel war ich viele Jahre bei den Grünen aktiv, davon allein etwa sechs Jahre im Parteivorstand. Wegen meines Berufs dachte ich lange, dass mir die Zeit fehlt, mich noch stärker in der Politik engagieren zu können. Als sich aber 2016 abzeichnete, dass die AfD in das Stadtparlament einziehen würde, habe ich für mich gespürt: Jetzt muss auch ein Schwarzes Gesicht da rein. Um eine andere Perspektive mit ins Parlament zu bringen. Die von einer Person of Color. Mit dem Anschlag in Hanau habe ich dann gemerkt: Das allein reicht nicht mehr aus.

Wie meinen Sie das?

Was in Hanau passiert ist, hat mich zurückversetzt in meine Abizeit in den 90ern, das war die Zeit der rassistischen Übergriffe. Ich habe damals einen Studienplatz in Ostdeutschland bekommen und aus Sicherheitsgründen abgelehnt und lieber ein Semester gewartet. Jetzt ist bald mein Sohn an dem Punkt, wo er sich sein Leben aufbaut, und ich muss feststellen: Für ihn hat sich nichts geändert. Wir stehen als Gesellschaft immer noch an derselben Stelle. Nach Hanau habe ich mit meinem Mann überlegt: Entweder wir verlassen das Land. Oder wir kämpfen für unseren Sohn, der schließlich hier geboren wurde. Es ist auch sein Land. Das war der Moment, wo ich entschieden habe, ich kandidiere für den Bundestag. Ich habe eine Verantwortung gegenüber meinem Sohn – und den vielen Marginalisierten in unserem Land, deren Stimmen kaum gehört werden.

So ähnlich hat das Ihr Parteikollege Tareq Alaows formuliert, der im Herbst als erster Geflüchteter aus Syrien in den Bundestag einziehen wollte. Nach rassistischen Drohungen zog er seine Kandidatur zurück. Fürchten Sie nicht, als Person of Color zur Zielscheibe von Rechtsextremen zur werden?

Mir ist klar, dass es ein gewisses Risiko gibt, wenn man als PoC in die Politik geht. Das ist für mich aber kein neues Thema. Als ich als Spitzenkandidatin bei der Kommunalwahl in Kassel angetreten bin, haben meine Familie und ich gemeinsam ein paar Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Zum Beispiel, dass ich Abends nach einer Veranstaltung nicht allein im ÖPNV fahre. Wir haben damals lange diskutiert, ob es eine kluge Entscheidung ist, anzutreten. Mir war es aber wichtig, dass es in einer Stadt wie Kassel möglich sein muss, als Schwarze Frau auf dem Listenplatz eins zu stehen. Ich muss aber auch sagen, dass ich selber um mich keine Angst hatte. Klar: Je sichtbarer man wird, desto mehr Briefe von Verirrten erhält man. Das kann auch mit meiner Arbeit als Asylrechtsanwältin zu tun haben. Das spielt für mich aber alles keine Rolle. Ich habe mich entschieden, dass ich für ­Vielfalt in diesem Land einstehen möchte, und zwar hauptberuflich als Bundestagsabgeordnete.

Sicher ist das noch nicht. Ihre Partei hat Sie auf den Listenplatz neun gesetzt. Das könnte eng werden.

Wir werden sehen, ob es klappt. Immerhin haben wir Grüne jetzt ein Vielfaltsstatut. Das ist ein erster Schritt. Jetzt müssen wir das auch mit Leben füllen. Ich hätte mir an der Stelle mehr Vorgaben gewünscht. Denn es fehlt ja nicht am guten Willen. Alle wollen ihre Listen bunter gestalten. Wenn es aber dann um die Listenaufstellung geht, heißt es schnell, wir haben aber niemanden. Wenn da der Druck erhöht wird wie bei unserem Frauenstatut und jeder zweite Platz mit einer Frau besetzt werden muss, dann kümmert man sich auch aktiv. Bei PoC passiert das nicht. Vielleicht, weil der Druck gar nicht da ist.

Müsste nicht gerade eine Partei wie die Grünen den Druck erhöhen? Von den grünen Bundestagsabgeordneten haben nicht mal 15 Prozent Migrationsgeschichte. In der Gesamtbevölkerung sind es fast doppelt so viele.

Foto: privat

Awet Tesfaiesus, geboren 1974 in Eritrea, ist Anwältin für Asylrecht. Seit 2009 ist sie Mitglied bei den Grünen, seit 2016 Sprecherin für Integration und Gleichstellung der Grünenfraktion im Kasseler Stadtparlament. Für die Bundestagswahl tritt sie als Direkt­kandidatin im Wahlkreis Werra-Meißner – Hersfeld-Rotenburg an.

Ich begrenze das ungern nur auf Migrationsgeschichte. Es geht um die gesamte Vielfalt der Gesellschaft. Unser Ziel muss sein, die Bevölkerung, so wie sie zusammengesetzt ist, genauso auch in unseren Behörden, in den Schulen, in den Parlamenten zu sehen. Ich möchte, dass sich kleine Kinder, wenn sie in die Erwachsenenwelt schauen, abgebildet sehen. Dass sie auch eine Rollstuhlfahrerin im Parlament sehen und eine Schwarze Frau in den Medien und denken, dass kann ich auch. Davon sind wir weit entfernt.

Viele halten eine Quote für den richtigen Weg. Sehen Sie das auch so?

Wir sehen bei der Gendergerechtigkeit: Der gute Wille allein reicht nicht. Es braucht konkrete Vorgaben, genauso müssen wir es bei der Vielfalt handhaben. Ich halte die Quote deshalb für eine gute Sache. Wir müssen aber diskutieren, wie so eine Quote genau funktionieren kann und für wen sie alles gelten soll. Wir dürfen am Ende nicht die Queeren gegen die Behinderten ausspielen. Da habe ich noch kein Konzept gesehen, das alle Punkte berücksichtigt. Aber ja, wir müssen dringend handeln, um die gesellschaftliche Vielfalt besser abzubilden.

Kri­ti­ke­r:in­nen der Quote argumentieren, dass durch Zwang keine Einsicht zu erreichen ist – und sich die Gräben womöglich nur vertiefen. Wie optimistisch sind Sie, dass Ihr Engagement die Gesellschaft nicht weiter entzweit?

Ich bin schon optimistisch. Klar werde ich mit meinem Engagement nicht alle erreichen. Die AfD werde ich nicht ändern. Aber ich glaube, dass sich viele überzeugen lassen, dass es nur zum Vorteil aller ist, wenn man auch alle Menschen in die Gesellschaft einbindet. Wir sehen ja, dass sich schon einiges positiv entwickelt hat. Früher war es normal, dass nur Männer die Büros geleitet haben und die Frauen zu Hause waren. Ich musste als Jugendliche bis Mitternacht wach bleiben, um auf MTV eine Schwarze Person im Fernsehen zu sehen. Das ist heute nicht mehr ganz so extrem. Es ist aber immer noch normal, dass man in den Medien überwiegend Menschen sieht, die „deutsch“ aussehen, wie immer man das definieren mag, und die keine sichtbare Behinderung haben et cetera. Das ist aber eine Scheinnormalität, die immer noch viele Menschen ausschließt. Ich glaube, dass vielen diese Lücke gar nicht bewusst ist.

Angenommen, Sie ziehen im Herbst in den Bundestag ein. Was wollen Sie konkret erreichen?

Wir brauchen dringend ein wirksames Antidiskriminierungsgesetz. So, wie es momentan geregelt ist, ist das Gesetz nur im Arbeitsrecht brauchbar. Wenn ich als Schwarze Person aber zum Beispiel keine Wohnung bekomme, dann muss es doch irgendetwas geben, wie ich mich als Betroffene zur Wehr setzen kann. Ich habe das selbst erlebt, welchen Unterschied es macht, ob mein Mann, der weiß ist und Deutscher, zur Wohnungsbesichtigung geht, oder ich. Es kann doch nicht sein, dass ich immer meinen Mann vorschicken muss, um bessere Chancen auf eine Wohnung zu haben? Ich finde, dass wir ­dringend ein Verbandsklagerecht in diesem Bereich brauchen. Denn wer riskiert schon als Einzelperson einen langwierigen Prozess, womöglich gegen eine mächtige Immobilienfirma?

Das Land Berlin hat seit gut einem Jahr ein Antidiskriminierungsgesetz. Seither gab es Hunderte Beschwerden gegen öffentliche Stellen. Der häufigste Grund: Rassismus. Wundert Sie das?

Keinesfalls. Alltagsrassismus ist ein großes Problem. Jede und jeder PoC kann genug Erfahrungen erzählen. Ich sage nur Polizeikontrollen. Deswegen fordern wir PoC ja auch endlich eine unabhängige wissenschaftliche Studie zu Rassismus in der Polizei. Die Politik blockt das ja ab und tut unsere Erfahrungen als übertrieben ab. Ich kann nicht verstehen, warum man sich einer wissenschaftlichen Erkenntnis verweigert.

Für die Polizeistudie müssen Sie wohl auf einen neuen Innenminister warten.

Das stimmt.