Tagebuch des taz-Wahlcamps: Schnaps und Selbstbestimmung

Unser Autor hat sich selbst auf eine Wahlkampfparty der Jungen Liberalen eingeladen. Von Gesprächen über Gott, Cannabis und den „German Dream“.

Anna Kryszan, Spitzenkandidatin der JuLis für die Bundestagswahl, spricht beim Wahlkampfauftakt in Berlin

Mit dem Mic als Waffe im Kampf für maximale Freiheit: Anna Kryszan, Spitzenkandidatin der JuLis Foto: Lis Mette Eggers

Das Wahltagebuch beleuchtet die Bundestagswahl aus Sicht des Wahl-Camps der taz Panter-Stiftung.

Als sozialer Feldforscher ist es wichtig, dort hinzugehen, wo sonst kaum einer hingeht. Deswegen habe ich mich an einem Freitagabend auf eine Party der Jungen Liberalen (JuLis) selbst eingeladen. Bevor es losgeht, treffe ich mich aber mit Anna Kryszan, Spitzenkandidatin der JuLis für die Bundestagswahl, in einem Schweizer Restaurant hoch über ihrem Wahlkreis Berlin-Mitte.

Schließlich möchte ich vor so einer Party wissen, mit welchen Gast­ge­be­r:in­nen ich es da überhaupt zu tun haben werde. Denn es ist ja so – viele kennen irgendjemanden, der oder die FDP wählt oder zumindest mal gewählt hat. Und irgendwie weiß kei­ne:r warum.

Das liege vor allem daran, dass nicht so viele mit den JuLis reden wollen – sagt Anna. Sie trägt schulterlanges braunes Haar, ein graues Top, dazu einen halbhohen Rock. Ihre braunen Augen wirken konzentriert, als sie mir ihre Geschichte erzählt:

Sie, 26, Lehramtsreferendarin mit den Fächern Englisch und Philosophie, sei als Tochter einer deutsch-polnischen Handwerksfamilie in Gelsenkirchen aufgewachsen und entspreche damit ganz und gar nicht den Klischeeliberalen. Das „FDP-Fach“ Jura habe sie nur ein Semester studiert, und als sie danach nach Berlin kam, habe sie nicht gewusst, wohin, und landete bei den JuLis.

Ich sehe sie fragend an. Selbstverständlich habe sie die Liberale schon als Jugendliche in sich entdeckt, denn ihr größtes Thema sei schon immer die persönliche Selbstbestimmung gewesen. „Ohne sie gibt es keine individuelle Freiheit, ganz einfach“, sagt sie.

Übrigens glaube sie nicht an Gott, aber an die Wichtigkeit einer starken Wirtschaft und den „German Dream“. Das klingt interessant. Was ist das? Dass jeder aus eigenem Antrieb aufsteigen könne, sagt sie und skizziert ihren persönlichen Milieuwechsel: von der Realschülerin aus einem Ar­bei­te­r:in­nen­haus­halt in Gelsenkirchen zur Gymnasiastin, zur Akademikerin in Kreuzberg.

Dieser Text ist Teil der Wahlkampf-Serie „90 Minuten mit…“ des Wahlcamps21 der taz Panter Stiftung.

„Und heute Abend sitzen wir in Berlin-Mitte“, bemerke ich. Wenn sie das Geld hätte, sagt sie, würde sie hier hinziehen. „Aber!“, sagt sie und macht eine versöhnlich-abwinkende Bewegung. „Wer nicht will, muss auch nicht aufsteigen.“ Okay.

Auf jegliche Form der Verbote reagiere sie allergisch. Anarchie dürfe es aber auch nicht geben, dann wären wir alle unfrei, weil wir Angst voreinander hätten. Und Angst sei „nicht gesellschaftsfähig“. Überhaupt betitelt Anna die Dinge, die gar nicht gehen, als „nicht gesellschaftsfähig“.

Und schon landen wir bei Fridays for Future, den Grünen – für Anna immer irgendwie eine Verbotspartei – und der Klimakrise. Anna erkennt politische Überschneidungen, räumt sogar ein, dass gewisse Einschränkungen momentan notwendig sind: das Plastik…verbot zum Beispiel, ein Wort, das sich über ihre Lippen quält, „auch wenn Pappstrohhalme natürlich nerven“. Generell gelte aber: Von heute auf morgen könne man nicht alles ändern.

„Man muss den Dingen Zeit geben“, sagt Anna ruhig. Eigentlich wollte Anna Wein trinken. Das wäre schön gewesen, sagt sie, aber sie müsse noch arbeiten. „Ich dachte, wir gehen zu einer Party?“, frage ich ein bisschen beleidigt. „Wahlkampfpartystand!“, sagt Anna.

Haben wir vorhin noch darüber philosophiert, dass das Klimaschutzgesetz vielleicht „zu ungeil“ für die FDP klingt, hört sich das hier auch nicht gerade animierend an: „Wahlkampfpartystand“.

Aber gut, dann sehe mir jetzt dieses Spiel an: Ich sitze auf einer Fensterbank am Rosenthaler Platz in Berlin-Mitte. 90 Minuten – JuLis für die Freiheit. Los geht’s:

Sekunden vor dem Anpfiff

Eine Auswahl der Standmannschaft: Ludwig, 23, gelocktes schwarzes Haar, weißes, hautenges T-Shirt, trägt eine runde Brille – er sehe sich eher links als rechts, sei aber „einfach Fan vom Kapitalismus“. Daneben „total begeistert von Europa“.

Finn, 21, der trotz seiner schlichten Kleidung vor allem durch seine drahtige Statur und seine weißblond gefärbten Haare auffällt. Er ist der Einzige, der die Hände in die Hüfte stemmt, als ich ein Foto mache. Neben ihm steht noch: Caro, 18 – eine kleine Frau mit langen braunen Haaren. Sie trägt ihren Pullover über die Schultern gebunden, dazu ein weißes Top und eine schwarze Hose. Genau wie ihr Kleidungsstil sei auch ihr Beweggrund, sich den JuLis anzuschließen, „ganz nullachtfünfzehn FDP gewesen“ – sie vertraue auf die Kraft der Selbst­bestimmung und der eifrigen Arbeit.

Kurz nachdem sie das sagt, klopft sie den anderen aufmunternd auf die Schultern, die schon um den gelben Werbetisch verteilt stehen, der voll ist mit Flyern und kleinen Schnapsflaschen. Die wollen jetzt zusammen von ihnen verteilt werden.

Anpfiff –′1

Kaum ist der Stand aufgebaut, wird er schon von ersten irritierten Blicken gestreift. Ein Passant murmelt: „Ich könnt kotzen.“

′7

Anna lächelt den Vorbeigehenden zu. Nur je­de:r Fünfte nimmt einen Flyer, aber Anna steigert die Quote auf 40 Prozent, indem sie Personen nachgeht, von denen sie bereits ignoriert wurde, und ihnen erneut einen Flyer anbietet.

′18

Die JuLis unternehmen Werbemethoden, die ich aus meiner Zeit als Straßenzonen-Fundraiser für Amnesty International kenne.

Da muss nur einer in „cooler ­Kleidung“ (für die JuLis: EU-Hoodies) aufkreuzen, schon wird er von einem Pulk von aufgeheizten ­Werbern mit Komplimenten überhäuft.

Jemand, der so geeeil aussehe, wolle doch sicher über die FDP sprechen. Heftiges Kopfschütteln. Damals war unser Fundraiser:innen-Lied übrigens „Erfolg ist kein Glück“ von Kontra K, aber das nur nebenbei.

′29

Anna kommt auf mich zu: „Willst du nicht mitmachen?“ „Anna, das geht zu weit.“

′34

Ein Mann wendet sich freiwillig Caro zu und nimmt sich einen der Flyer. „Die wähle ich sowieso!“, sagt er und deutet auf das begeisterte JuLi-Flyer-Gesicht. „Fickt die Grünen!“, ruft er. Caro gibt ihm einen Schnaps-shot, den er kommentarlos an sich nimmt.„Jungs weitermachen!“, ruft der Mann, während er an Caro vorbeisieht und verschwindet.

′38

Die JuLis sind clever. Sie sagen nicht: „Wollen Sie etwas über die Jungen Liberalen oder die FDP wissen?“, sondern: „Wollen Sie etwas über die Bundestagswahl wissen?“

′39

Im Eifer des Gefechts versucht Caro einen Pfandflaschensammler anzuwerben, der hastig das Weite sucht.

Aron Boks, geboren 1997 in Wernigerode, lebt als Slam Poet und Autor in Berlin. Sein letztes Buch „Luft nach Unten“ erschien 2019. Im selben Jahr erhielt er den Klopstock Förderpreis für Neue Literatur. Derzeit unterstützt er die Berichterstattung im taz-Wahlcamp.

′43

„Frei kann ja nur der sein, der die notwendigen Mittel hat“, sagt Anna zu einem Jungen, der nach eigenen Angaben SPD wählt. Er hört nicht auf zu nicken, bis er im nahegelegenen U-Bahn-Schacht verschwindet. Anna kommt auf mich zu. „Hast du das gesehen? Solche Gespräche liebe ich!“ Auch ich nicke.

Halbzeit

Ein JuLi am Stand holt eine Flasche Weißwein aus seiner Tasche und trinkt – hilft ja nichts.

′48

„Interessiert ihr euch für Politik?“, fragt Caro und schiebt einem Pärchen einen ihrer Flyer direkt vors Gesicht. Die beiden bleiben wie angewurzelt stehen und sehen auf das Cover. Sie sagen nichts. „Oh, you don’t speak German?“, fragt Caro. „Doch, doch, schon“, sagt das Pärchen und geht weiter.

′59

Ludwig und Finn beschließen jetzt auch Longpapes mit den Flyern zu verteilen. Kinder von Traurigkeit seien die JuLis bei aller Liebe nicht, versicherte mir Anna vorhin beim Essen. Ziel sei die Legalisierung aller Drogen nach portugiesischem Modell. Und an erster Stelle Cannabis, das sei auch Anna ganz wichtig, obwohl sie selbst nicht kiffe. Ob FDPler bessere Partys schmeißen würden als Grüne, habe ich sie gefragt. Anna hat dann einfach gelacht.

′64

Ein Typ nimmt zaghaft einen von Caros Flyern, und ihre Augen weiten sich auf die Größe von Untertassen. Sie ruft in Annas und meine Richtung: 
„Hast du Klimaflyer?“ „Ahh! Nee, ich hab hier nur Digitalisierung.“ Für solche Dialoge stehe ich morgens auf, denke ich. Jetzt rennt Anna zum Stand und holt die Klimaflyer. Der Typ nimmt ihn und verschwindet.

′74

Jemand setzt sich neben mich. „Aron?“ „Johanna?“ Wir reden darüber, wie lange wir uns nicht gesehen haben. Drei Jahre, Mensch. Ob ich noch immer schreibe … und ist noch schön? … und sie sei jetzt in der FDP. Ja, so ist das, jeder kennt jemanden, der … aber warte … Johanna? Was ist passiert?

Johanna habe inzwischen ihr Privatstudium selbst finanziert und endlich abgeschlossen. „Ganz wichtiger Faktor ist für mich Aufstieg durch Eigenleistung.“ Sie freue sich über das Engagement der Partei für den starken Mittelstand und Obdachlose. Und das neue Buch von Sahra Wagenknecht finde sie übrigens super, sagt sie, bevor sie verschwindet.

′86

Caro rennt schon wieder so aufgeregt auf eine Gruppe Frauen zu: „Flyer gegen Shot! „Flyer gegen Shot!“, schreit sie. Die Frauen nehmen beides an sich. Eine murmelt: „Es muss ein richtig beschissener Club sein, wenn man einen Gratisshot bekommt, damit man überhaupt hingeht.“


′90 (+2 Min. Nachspielzeit)

Annas Telefon klingelt. Sie muss neue Schnäpse für den Partystand organisieren. „Aber übertreibt es nicht, ja?“, sagt sie monoton. „Ein bisschen Einschränkung muss ja sein“, fährt sie leise fort wie zu sich selbst.

Abpfiff

Ich glaube, ich sollte jetzt irgendetwas zu Anna sagen, doch mir fällt nichts ein. Anna wirkt erschöpft und presst doch ein Lächeln hervor. Wie eine Handballtrainerin bei einem Time-out im Spiel versammelt sie die anderen JuLis um sich. Es braucht ein paar High-Fives, dann strömen sie in alle Richtungen des Platzes aus, um in enthusiastischem Ton von schnellem Internet, modernem Urheberrecht, einem Deutschlandportal – kurz: der Zukunft – zu berichten.

In Annas Blick steckt genau die Mischung aus Zufriedenheit und Müdigkeit, wie zu Beginn des Abends, als sie eine ihrer wichtigsten Erkenntnisse mit mir teilte: Durch viel Arbeit sei eben auch viel möglich. Aber nicht jeder solle so hart arbeiten müssen. Wir verabschieden uns. 
„Schreib etwas Nettes über uns, ja?“, sagt sie. „Ich schreibe einfach das auf, was ich sehe, okay?“„Ja, super!“, sagt Anna.

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