Indiens Gesundheitssystem in der Krise: Die Lage unterschätzt

Der Sauerstoffbedarf wird in indischen Zeitungen abgedruckt wie ein Aktienkurs. Ärz­t:in­nen fragen sich, wie das passieren konnte.

Ein Arbeiter befüllt im indischen Prayagraj Sauerstoffflaschen

Überlebenswichtig: Die WHO stuft Sauerstoff als Medikament ein Foto: Rajesh Kumar Singh/ap

MUMBAI taz | „Wir hatten noch nie zuvor einen Mangel an Sauerstoff“, sagt Jalil Parkar. Er ist Lungenfacharzt im renommierten Mumbaier Krankenhaus Lilavati. Für den akuten Mangel, der landesweit aufgekommen ist, macht er die Unterbrechung von Lieferketten mit verantwortlich, aber auch den gestiegenen Bedarf und die Fehlplanung. Die Zahl der Co­ro­na­pa­ti­en­t:in­nen hat massiv zugenommen – nach Angaben der Regierung sind 3,3 Millionen Coronafälle aktiv. Damit brauchen mehr und mehr Menschen Beatmungshilfen.

Für die Versorgung hat das Lilavati-Krankenhaus einen großen Speichertank für flüssigen Sauerstoff der Firma Linde, die auch in Indien mit ihrer Tochterfirma zu den Marktführern gehört. Gerade wird er wieder regelmäßig befüllt. Nur wenige Krankenhäuser haben ihre eigene Sauerstoffanlage, sie sind auf Lieferungen angewiesen. In Mumbai scheint die Sauerstoffkrise zumindest für große Einrichtungen überwunden. Doch das gilt nicht überall im Land.

Wie Aktienkurse oder Goldpreise wird in Zeitungen derzeit der Bedarf an Sauerstoff in den Bundesstaaten abgedruckt und über unzureichende Lieferungen berichtet. Die traurigen Meldungen, dass Menschen eine unterbrochene Sauerstoffzufuhr nicht überlebt haben, häufen sich: Am Wochenende starben in Delhis Batra-Krankenhaus 12 Covid-19-Patient:innen, darunter ein leitender Arzt. Selbst Botschaftsvertretungen in Delhi suchen auf Twitter nach Hilfe.

Vorzeichen der zweiten Welle der Pandemie auf dem Subkontinent zeigten sich Anfang des Jahres. Gehandelt wurde vielerorts aber erst spät. Nun gibt es täglich über 400.000 Neuinfektionen, Tendenz steigend. Das war Teil von düsteren Prognosen aus dem vergangenen Jahr, doch für viele Menschen nicht vorstellbar. Auch die Regierung hat die Lage unterschätzt.

WHO stuft Sauerstoff als Medikament ein

Jalil Parkar verteidigt Ärz­t:in­nen und Mit­ar­bei­te­r:in­nen im Gesundheitswesen. Man werfe ihnen vor, Sauerstoff zu verschwenden, doch das sei nicht der Fall. Sie wollten Leben retten, sagt er der taz.

Russische Transportflugzeuge mit Lagertanks von Linde am Flughafen von Kalkutta Foto: Rupak De Chowdhuri/reuters

Die Oppositionspolitikerin Priyanka Gandhi Vadra (Kongress) klagt: „Indiens Produktionskapazität für Sauerstoff ist eine der größten der Welt. Warum gibt es dann einen Mangel? Die Regierung hatte acht bis neun Monate Zeit, ihre eigene Zero-Studie deutete darauf hin, dass eine zweite Welle unmittelbar bevorsteht.“ Trotz Krise sollen sich die indischen Sauerstoffexporte verdoppelt haben, doch die Regierung unter Narendra Modi (BJP) unterstreicht, dass es sich dabei nur um Lieferungen für die Industrie handelte.

Am 18. April ordnete die Zentralregierung dann an, dass die Sauerstoffversorgung der Industrie mit wenigen Ausnahmen auf die Krankenhäuser umgeleitet wird. Seit 2017 ist Sauerstoff von der WHO als lebenswichtiges Medikament eingestuft worden. In der Stahl- und Chemieindustrie wird Sauerstoff sonst eingesetzt, um Verbrennungsvorgänge zu beschleunigen. Für medizinische Zwecke kann er aber veredelt werden. Nachdem dies erlaubt wurde, lag Indiens tägliche Produktionskapazität bei 7.100 Tonnen pro Tag, was knapp unter dem derzeit nötigen Wert liegt. Zudem sollen 551 Anlagen zur Sauerstoffgewinnung gebaut werden.

Hilfe aus Singapur, Großbritannien, Deutschland

Nach Klagen von Krankenhäusern wie dem Golden Jaipur, in dem kürzlich über 20 Menschen an Sauerstoffmangel starben, forderte das Obergericht in Delhi die Regierung auf, die Hauptstadt mit Sauerstoff zu versorgen. Doch die Maßnahmen brauchen Zeit, das Sterben geht weiter. Der Politiker Ajay Mohan Bisht alias Yogi Adityanath (BJP) geht so weit, dass er angebliche Gerüchte über Sauerstoffmangel hart bestrafen lässt. In seinem Bundesstaat Uttar Pradesh gebe es das Problem nicht.

Noch bevor Hilfe aus dem Ausland eintraf, organisierten NGOs, Moscheen und private Initiativen Sauerstoffzylinder. Eigentlich liegt der Preis bei knapp 100 Euro, doch teilweise wird nun mehr als das Doppelte verlangt. Nach Singapur und Großbritannien kam am Samstag auch Hilfe aus Deutschland: 120 Beatmungsgeräte sowie Sanitätssoldat:innen, die eine mobile Sauerstoffgewinnungsanlage aufbauen. Damit kann Außenluft, die sonst zu 21 Prozent aus Sauerstoff besteht, auf bis zu 93 Prozent angereichert und medizinisch verwendet werden.

Während sich die Lage in Städten wie Mumbai stabilisiert, reißen die Hilferufe von Krankenhäusern und Angehörigen, die dringend Sauerstoff brauchen, nicht ab. Für sie geht die Suche weiter.

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