Rückblick auf 40 Jahre taz Berlin : Vom Kampf gegen Betongold
Berlin ist zum Eldorado für Investoren geworden, die Angst vor Verdrängung grassiert. Mieteninitiativen treiben die Politik vor sich her.
Tausende sind gekommen, um gegen Verdrängung zu demonstrieren. Junge und Ältere, Eltern mit ihren Kindern laufen mit Plakaten und Trillerpfeifen durch Neukölln und Kreuzberg. „Wenn die Mieten weitersteigen, muss ich ausziehen“, erzählt ein Charlottenburger Künstler der taz. Sein Haus wurde kürzlich verkauft, die Miete erhöht. Ähnliches erleben immer mehr BerlinerInnen. Vielerorts haben sich Nachbarschaftsinitiativen gegründet. Neu ist, dass sie sich vernetzen: An diesem warmen Samstag Anfang September 2011 protestieren die Gruppen erstmals gemeinsam.
Auf der Sonnenallee geht es an großen Stellwänden vorbei, in zwei Wochen ist Abgeordnetenhauswahl. Die SPD wirbt mit dem Slogan „Berlin verstehen“: Auf einem der Schwarzweißplakate patscht ein Junge dem ach so knuffigen Klaus Wowereit mit einem Stoffkrokodil an die Nase. Fragt sich nur, wie viel die seit 2001 regierende SPD wirklich von der Stadt versteht. „Eine Wohnungsnot gibt es nicht“, hieß es lange aus der Verwaltung von Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer. Sie spricht von einem entspannten Wohnungsmarkt und verweist als Beleg auf den Leerstand von angeblich 100.000 Wohnungen. Teure Mieten und Verdrängung? Vielleicht ein Problem in München und Hamburg, aber nicht in Berlin.
Diese Momentaufnahme von 2011 zeigt bereits, was das ganze Jahrzehnt bestimmen wird: Die Mieten sind die große soziale und politische Frage Berlins. Sie bedrohen den Einzelnen, aber auch das Gefüge der Stadt. Die berühmte Berliner Mischung, das Nebeneinander von Armen und Reichen, von verschiedenen Milieus und Kulturen könnte ohne bezahlbaren Wohnraum verschwinden. Der Senat, angeführt von der SPD, muss gegensteuern – und läuft der Entwicklung doch vor allem hinterher.
war ab 2007 Redakteurin im Berlin-Teil. Ab 2012 leitete sie das Ressort gemeinsam mit Bert Schulz. 2019 wechselte sie in die taz am Wochenende
Was sollte die Landesregierung tun? Wie weit kann und darf der Staat auf dem Wohnungsmarkt eingreifen? Auch die Berlin-Redaktion der taz treiben diese Fragen um. Wir starten 2010 eine Serie zur „Sozialen Stadt“, die sich genau damit befasst.
Die morgendlichen Konferenzen sind in der taz der Ort, an dem wir uns austauschen, wo Einschätzungen aufeinanderprallen und sich oftmals das entwickelt, was nachher in der Zeitung und im Netz steht. In der Berlin-Redaktion reden wir in dieser Zeit über die Grünen, die doch wieder nicht mitregieren, und über die neue rot-schwarze Koalition. Über den immer teurer werdenden BER; den plötzlich tot im Becken schwimmenden Eisbären Knut. 2012 fragen wir uns: Wie umgehen mit den Flüchtlingen, die am Kreuzberger Oranienplatz ein Camp aufschlagen, eine Schule besetzen und ein Bleiberecht fordern? Diese Debatte hat manchmal auch etwas Unversöhnliches.
Anders bei den Mieten: Hier sind wir uns weitgehend einig, dass der Senat das Thema verpennt hat. Die Wohnungsbaugesellschaften sollen billige Wohnungen anbieten, aber das Land möchte ihnen nicht zu viele Vorschriften machen; sie sollen ja Gewinne erwirtschaften. Eine Obergrenze bei Neuvermietungen? Das sei Bundesrecht, heißt es vom Senat.
Viele Mietwohnungen werden inzwischen als Ferienwohnungen vermietet, das bringt mehr Geld. Ein Zweckentfremdungsverbot, das das verhindern könnte, lehnt Junge-Reyer ab, weil sie glaubt, es sei juristisch nicht haltbar. Kollege Uwe Rada, der sich um das Mietenthema kümmert, schreibt 2011: „Die von der SPD geführte Stadtentwicklungsverwaltung hat, wie immer, Angst vor den Gerichten. Lieber einen Schritt zu wenig als einen zu viel, lautet die Devise.“
Es ist interessant, sich Texte von damals heute noch mal anzuschauen. Im Rückblick sieht man, wie sich der Rahmen des Machbaren im Laufe des Jahrzehnts verschoben hat. Was möglich ist, ist eben auch eine Frage des politischen Willens.
Alle Welt lieber Berlin – und kommt hierher
Denn im Laufe der Jahre kommt vieles doch: 2014 tritt ein Zweckentfremdungsverbot in Kraft, das die Menge an Ferienwohnungen begrenzen soll. Es ist auch der Versuch, den boomenden Tourismus zu steuern: Alle Welt liebt Berlin. Die Initiative für einen Mietenvolksentscheid bringt den Senat dazu, die Wohnungsbaugesellschaften deutlich gemeinnütziger auszurichten. Auch für die Bezirke findet sich ein Instrument: In Milieuschutzgebieten können sie ein Vorkaufsrecht ausüben, also anstelle der Investoren die Häuser selbst aufkaufen und so sozial verträgliche Mieten sichern. Vor allem Friedrichshain-Kreuzberg nutzt diese Möglichkeit, andere Bezirke ziehen nach.
Wir diskutieren in der Redaktion auch über das ehemalige Flughafengelände mitten in der Stadt, das Tempelhofer Feld: Sollte Berlin an den Rändern Tausende dringend benötigte Wohnungen bauen? Oder den kostbaren Freiraum, den fast schon nordfriesischen Weitblick mitten in der Großstadt erhalten? Da sind wir uns dann wieder gar nicht einig. Beim Volksentscheid 2014 stimmen mehr BerlinerInnen gegen eine Bebauung. Das Feld bleibt frei. 2020 beginnt die Debatte von Neuem.
Ebenfalls 2014 tritt der vom BER-Desaster gebeutelte Klaus Wowereit ab, Michael Müller übernimmt das Amt des Regierenden Bürgermeisters. Die Ankunft der vielen Flüchtlinge stellt die rot-schwarze Koalition auf die Probe: Vor dem zuständigen Amt, dem Lageso, kommt es zu chaotischen Szenen.
Wichtigstes Ding der Zehnerjahre: Smartphones. Alle schauen ständig drauf. Nicht mehr wegzudenken aus U- und S-Bahnen, Restaurants, Cafés, Parks, von Straßen und Plätzen
Zitat der Dekade: „Der Flughafen wird eine Erfolgsgeschichte sein“: Klaus Wowereit bei der Pressekonferenz zur Absage der BER-Eröffnung im Mai 2012
Überschrift der Dekade: „Wohnen bleiben ist die halbe Miete“ vom 2. August 2010
Ort: Klo im neu gebauten Hotel 25hours beim Bikini-Haus am Bahnhof Zoo: Scheiben von oben bis unten, der Tiergarten und halb Berlin liegen einem zu Füßen
Datum: 13. Oktober 2018. An diesem Tag gehen Hunderttausende bei der „unteilbar“-Demo gegen Ausgrenzung auf die Straße. Ein starkes Zeichen: Wir lassen uns nicht spalten (all)
Ein Montagnachmittag Ende September 2016. Drei Männer in schwarzen Jacketts – Michael Müller, Klaus Lederer von der Linken und Daniel Wesener von den Grünen – treten aus dem Arbeitszimmer des Regierenden Bürgermeisters im Roten Rathaus. Sie strahlen, Lederer grinst gar bis über beide Ohren. Es ist vollbracht: Ein rot-rot-grünes Bündnis kann kommen. Müller sagt: „Es ist deutlich geworden, dass wir in Koalitionsverhandlungen etwas zu besprechen haben.“
Rot-Rot-Grün in der Hauptstadt, das hätte ein Signal des Aufbruchs sein können, ein Herzensprojekt. Auch in der taz haben wir diese Hoffnung. „Neuer Zeitgeist“, „Mentalitätswandel“, „Zeitenwende“ – diese Beschreibungen findet man in taz-Texten rund um den Wahltermin. Vielleicht hätte man schon bei Müllers reichlich unpathetischem Satz an jenem Montagnachmittag wissen können, dass das so nicht kommen wird. Die Koalition wirkt im Tagesgeschäft vor allem wie eine Zweckgemeinschaft. Was sicherlich auch an Müller liegt: Er ist kein linker Visionär, eher nüchterner Verwalter.
Die Stadt wächst, Baulücken verschwinden, es wird spürbar enger. Mit jedem Jahr steigen die Mieten. Zahlt man 2010 für eine neue Wohnung in Berlin-Mitte im Schnitt noch 6,25 Euro pro Quadratmeter, sind es am Ende des Jahrzehnts bereits 13,42 Euro. Die Angst vor Verdrängung an den Stadtrand hat längst die Mittelschicht erreicht.
Das verschiebt die Debatte. Das Wort Enteignung wäre lange wohl kaum jemandem ernsthaft über die Lippen gekommen, viel zu kommunistisch, pfui.
Doch 2016 fordert ein Gastautor der Initiative Kotti und Co in der taz berlin: „Wagt die Enteignung!“ Die ehemals städtische Wohnungsbaugesellschaft GSW soll zurückgeholt werden. Es entsteht das Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co enteignen“. 2019 überreicht die Initiative dem Senat 77.000 Unterschriften von BerlinerInnen, die die Vergesellschaftung von großen Immobilienkonzernen fordern. 2021 könnte es tatsächlich zum Volksentscheid kommen.
An Pfingsten 2018 besetzen AktivistInnen leer stehende Häuser in verschiedenen Stadtteilen. „Find ick jut“, sagt eine des Linksradikalismus gänzlich unverdächtige ältere Nachbarin eines besetzten Hauses in Neukölln der taz. Eine Umfrage zeigt: Sie ist kein Einzelfall. Mehr als die Hälfte der BerlinerInnen halten gesetzeswidrige Hausbesetzungen mittlerweile für ein legitimes Mittel, um auf das Thema Wohnungsnot aufmerksam zu machen.
Die Berlin-Redaktion erreichen in dieser Zeit gehäuft Hilferufe. Kaum eine Woche vergeht, in der sich nicht Nachbarschaftsinitiativen, Hausgemeinschaften, InhaberInnen von Spätkaufs oder Buchläden an uns wenden mit der Bitte, über ihre drohende Verdrängung zu berichten. Damit journalistisch umzugehen ist nicht so einfach: Die Geschichten wiederholen sich. Es gibt wie immer auch andere drängende Themen: das Radverkehrsgesetz, die seit 2016 im Parlament vertretene AfD, die terroristischen Anschläge in Neukölln, Fridays for Future...
Und doch hätte jede Geschichte über die MieterInnen in Not ihre Berechtigung. Um die Masse an Fällen abzubilden, führen wir schließlich eine eigene Rubrik ein: „Im Haifischbecken“. Die steigenden Mieten bekommen auch die RedakteurInnen persönlich zu spüren. War es früher relativ gut möglich, in Berlin von einem taz-Gehalt zu leben, wird es nun für viele enger. Lange galt Umziehen in Berlin als eine Art Volkssport; jetzt bleibt man besser, wo man ist. Glücklich, wer eine PartnerIn oder eine Familie hat, die mehr Geld verdient oder gar eine Wohnung kaufen kann. Wie die steigenden Lebenshaltungskosten mit der Bezahlung der taz zu vereinbaren sind, das beschäftigt aktuell Geschäftsführung und Chefredaktion.
Die taz ist auch selbst Akteur auf dem Immobilienmarkt: Mithilfe der GenossInnen baut sie ein betongrau-gläsernes Haus am Ende der Friedrichsstraße, 2018 ziehen wir ein. Das neue Gebäude ist hell, hat eine tolle Dachterrasse, Mineralwasser sprudelt aus dem Hahn. Doch nicht wenige KollegInnen werden beim Abschied von der Rudi-Dutschke-Straße nostalgisch, es gibt eine Party unter dem Motto: Tschüss, altes Haus! Das wird vermietet, zu einem für die Gegend vergleichsweise niedrigen Preis.
Die mietenpolitisch bislang radikalste Maßnahme des rot-rot-grünen Senats stößt im November 2018 ein einzelner Mitarbeiter einer Bezirksverwaltung an: In einer Fachzeitschrift argumentiert der Jurist Peter Weber, dass das Mietpreisrecht eben doch nicht allein Bundesrecht sei; auch das Land habe hier Spielräume. SPD-Abgeordnete greifen das auf, die Debatte nimmt Fahrt auf. Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher von der Linkspartei setzt den Mietendeckel schließlich gegen Widerstände durch. Sie ergänzt den Vorschlag noch: Mieten sollen nicht nur eingefroren, sondern auch abgesenkt werden können, wenn sie zu hoch sind.
Miethöhen begrenzen geht nicht? Geht doch! Was zu Beginn des Jahrzehnts unmöglich schien, ist Wirklichkeit geworden. Der Mietendeckel zeigt: Die Politik kann sich Handlungsräume erkämpfen, wenn sie denn will. Vorausgesetzt natürlich, das Gesetz hat vor Gericht Bestand. Das ist noch nicht ausgemacht: Bis Juni 2021 will das Bundesverfassungsgericht über die Zulässigkeit des Mietendeckels entscheiden.
Für die BerlinerInnen wäre es dramatisch, sollten die RichterInnen das Gesetz kassieren. Ebenso für die Bilanz des rot-rot-grünen Senats, im nächsten Herbst wird wieder gewählt. Doch auch dann müsste man Rot-Rot-Grün zugutehalten: Dieser Senat hat zuletzt wenigstens versucht, die Spielräume auszureizen.
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