Soziologe über Chancen durch Corona: „Wir brauchen die Industrie“

Wer die Coronakrise für die Transformation nutzen will, muss jetzt für eine Rückkehr ins Tarifsystem streiten, sagt der Soziologe Gerhard Bosch.

Ein Arbeiter montiert im Daimler Powertrain-Werk in Bad Cannstatt einen Motor

Arbeit als Chance Foto: Andreas Gebert/reuters

taz: Herr Bosch, gibt es Berechnungen, was es für die Arbeitsplätze in der Autoindustrie bedeuten würde, wenn Daimler und Co künftig Busse und Lastenfahrräder statt Autos bauen, wie es diverse NGOs vorgeschlagen haben?

Gerhard Bosch: Nein, das ist mir nicht bekannt, aber die Auswirkungen wären immens. Eine solche radikale Wende von heute auf morgen funktioniert nicht, die Umstellung erfordert Zeit. Es müssen neue Produkte entwickelt und Lieferketten etabliert werden.

Ist der Einschnitt der Corona-Krise nicht ein guter Startpunkt für einen Wandel? Wir sehen doch, wie schnell Änderungen möglich sind...

Die ökologische Wende muss in schrittweise Programme übersetzt werden, sonst fühlen die Menschen sich bedroht und das führt dann zu Widerstand. Es wird sowieso ein gesellschaftlicher Kraftakt, dass nicht diejenigen, die die ökologische Wende bisher nicht wollten, jetzt wieder die Oberhand bekommen. Das könnte passieren, weil auf betrieblicher Ebene die Sorge um den Arbeitsplatz das Bedürfnis nach einer ökologischen Wende überwiegt.

Der Vorschlag der NGOs ist doch ein Versuch, dem etwas entgegen zu setzen...

Ja, aber er ist politisch kontraproduktiv. Natürlich muss das Wiederanfahren der Wirtschaft mit einer ökologischen Wende begleitet werden. Aber statt mit Utopien wie „Fahrräder statt Autos“ aufzutreten, die sich gut anhören, aber nie eine Chance auf Umsetzung haben, sollten wir lieber pragmatisch sehen, wie man das künftige Konjunkturprogramm ökologisch ausgestalten kann. Es ist doch interessant, dass die IG Metall sich den Forderungen nach einer Abwrackprämie bislang nicht angeschlossen hat. In der Finanzkrise war das noch ganz anders. Das ist ein historischer Fortschritt, obwohl es innerhalb der Gewerkschaft durchaus Forderungen danach gibt.

Noch im vergangenen Jahr waren die Gewerkschaften mit die zähesten Kritiker des Kohleausstiegs. Woher kommt der Wandel?

Es gibt in den Gewerkschaften längst eine breite Diskussion über den Umbau der Industrie. Natürlich sind die Beharrungskräfte in der Energiegewerkschaft IGBCE stärker als bei Verdi, das hat auch mit Interessen zu tun. Aber grundsätzlich ist bei Ihnen eine Offenheit vorhanden, die Transformation mit zu gestalten, weil ihnen klar ist, dass sie sonst als Blockierer in die Verliererecke geraten.

In Zukunftskonzepten von Herstellern wie Daimler und BMW liegt die Zukunft der Mobilität in den Metropolen, Wachstum versprechen sie sich von Dienstleistungen wie Parkmanagement oder Autoverleih. Was für Jobs entstehen da?

Vielfach werden gut bezahlte Jobs in der Industrie durch gering bezahlte Dienstleistungsarbeit ersetzt. Die Angst vor dem Strukturwandel ist daher absolut berechtigt! Es wäre zudem falsch, die Industrie einfach abzuschreiben. Für eine ökologische Wende brauchen wir ihre Kompetenz und Innovationskraft Natürlich müssen wir dafür auch unseren Lebenswandel verändern. Aber es gilt eben auch, dass wir den Ressourcenverbrauch nur mit High-Tech weiter vom Bruttosozialprodukt abkoppeln können.

Die Frage ist doch, ob sich die Sicherheiten, Mitbestimmungsrechte, Löhne der Industriearbeitsplätze in eine postindustrielle Arbeitswelt hinüberretten lassen.

Hinüberretten lässt sich gar nichts. Die Wiege der Arbeiterbewegung steht in der Industrie und im öffentlichen Dienst. Dort sind Tarifbindung und Mitbestimmung noch hoch, aber sie bröckeln auch. 1990 hatten wir in der Bundesrepublik eine Tarifbindung von 85 Prozent der Arbeitnehmer – heute sind es noch 56 Prozent, im Osten weniger. Das ist hierzulande auch der Hauptgrund für Einkommensunterschiede. Ganze Branchen kennen inzwischen gar keine Tarifbindung oder Betriebsräte mehr. Dazu gehören übrigens Zukunftsbranchen wie die Windenergie. Dort sehen wir eine Kombination aus ökologischer Produktion und radikalem Neoliberalismus. Die Synthese von Sozialem und Ökologie funktioniert nicht ohne Weiteres.

ist Professor für Soziologie an der Universität Duisburg/Essen. Der72-jährige Arbeitsmarktexperte liebt die Arbeit – und hat deswegen den Eintritt in den Ruhestand verschoben.

Befördert die Corona-Krise diese Synthese?

Wir könnten die Debatte über die Bezahlung systemrelevanter Berufe nutzen, um in Tarifsysteme zurückzukehren. Bis 2000 hatten wir im Einzelhandel in NRW eine Tarifbindung von 100 Prozent, heute sind es noch 36 Prozent. Eine gelernte Verkäuferin bekommt zum Beispiel in NRW heute einen Tariflohn zwischen 13,90 und 17,20 Euro, in nicht tarifgebundenen Betrieben bis zu 30 % weniger.

Wer die ökologische Transformation möchte, muss jetzt für das Tarifsystem streiten?

Ganz genau. Das Bestehende ist ein gut bezahlter Arbeitsplatz, die Alternative ist oft ein schlechter Job ohne Mitbestimmung. Mit der Aussicht werden die Menschen konservativ.

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