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„Fahrt durch die Stadtgeschichte“

DDR-Moderne am Alex, Kaiserzeit am Hackeschen Markt, Regierungsviertel: Wer auf der Stadtbahn durch Berlin fährt, reist durch Epochen, sagt Historiker Bernhardt. Heute wird die Strecke 125 Jahre alt

Interview ULRICH SCHULTE

taz: Herr Bernhardt, welches Erlebnis verbinden Sie mit der Stadtbahn?

Christoph Bernhardt: Ich fahre oft von der Friedrichstraße aus über die Stadtbahn. Dabei genieße ich immer wieder diese wunderbare Vielfalt von Gebäuden, die am Zugfenster vorbeiziehen. Das ist wie eine Fahrt durch die Stadtgeschichte. Außerdem finde ich das Gefühl großartig, die Spree zu überqueren.

Durch welche Epochen führt diese Fahrt?

Wenn Sie von Osten kommen, sehen Sie am Alexanderplatz die DDR-Moderne in Reinkultur. Am Hackeschen Markt finden Sie alte Bestände des Wohnungsbaus aus der Kaiserzeit. Was auf der Museumsinsel steht, entstand zum Teil noch früher. Und darauf folgt dann die Architektur des Regierungsviertels. Welch eine Abfolge!

Wie sah es vor dem Bau der Stadtbahn, also um 1870, in Berlin aus?

Die Stadt explodierte förmlich. Die Industrialisierung vereinnahmte Berlin ab 1850 zunehmend, vor allem die Maschinenbau- und Elektroindustrie wuchs rasant. Das zog hunderttausende Menschen an, Wissenschaftler sprechen von der Hochurbanisierung. Zwischen 1867 und 1892 stieg die Zahl der Einwohner um mehr als das Doppelte auf 1,6 Millionen Einwohner. Es wurde also eng in der Stadt.

Um 1870 gab es acht Kopfbahnhöfe am Rande des Stadtgebietes. Wie war der Zugverkehr organisiert?

Es gab ein große Vielfalt an Transportmitteln, zum Beispiel Pferdeomnibusse, Pferdeeisenbahnen oder Droschken. Die Kopfbahnhöfe wurden in diesen Jahren mit der Ringbahn halbwegs miteinander verbunden. Trotzdem war für die Reisenden das Umsteigen mühselig, ebenso der Weg in die Stadt hinein. Der Bau der Stadtbahn kam einer Verkehrsrevolution gleich.

Wie lässt sich durch eine wuchernde Stadt eine raumfressende Ost-West-Achse legen?

Das war tatsächlich schwierig. Die Stadtbahn war ja auf ihre Weise auch Teil des Gründungsfiebers. Den Bau übernahm zunächst eine private Gesellschaft, die später Pleite ging. 1875 begann sie mit dem Bau: Sie nutzte den zugeschütteten Königsgraben um den Alexanderplatz, der im 17. Jahrhundert Teil der Stadtbefestigung war – deshalb ist die Stadtbahn hier so kurvig. Außerdem führten die Planer die Strecke teilweise über der Spree.

Es mussten keine ganzen Quartiere weichen?

Nein. Natürlich wurden auch einzelne Grundstücke enteignet und Häuser abgerissen. Aber diese Jahre waren sowieso eine Abrisszeit, die Sensibilitäten der Behörden waren gering.

Wer auf der Stadtbahn fährt, kann heute noch in Wohnzimmer schauen. Ist das auch ein Beleg für andere Prioritäten?

Sicher. Über Lärm wurde damals kaum geredet. Hinzu kommt: Die Strecke wurde in den Folgejahren förmlich eingezwängt. Die Stadtbahn führte über den ursprünglich kaum bebauten nördlichen Rand der Museumsinsel, später kamen Bode- und Pergamonmuseum dazu.

Um den städtischen Verkehr nicht zu behindern, ist die Stadtbahn auf Bögen gebaut. Darin sind heute Restaurants. Wie wurden sie früher genutzt?

Das war eine bunte Mischung. Es gab Lebensmitteldepots, in denen Fleisch und Fisch gelagert wurden, es gab viel Gewerbe, zum Beispiel eine Salzgroßhandlung. Und natürlich Pferdeställe, die später zu Autogaragen umgebaut wurden.

Auch die Bahnhöfe spiegelten in ihren Namen die Entwicklung der Stadt.

Richtig. Jeder Bahnhof hat seine eigene Geschichte: Der Hackesche Markt hieß bis zur Gründung der DDR und der Teilung der Stadt einfach „Börse“, weil die daneben lag. Oder nehmen Sie den Schlesischen Bahnhof, heute Ostbahnhof. Hier stiegen Neuankömmlinge aus Schlesien aus, die oft in der Gegend ihre erste Herberge fanden.

Wie haben beide Seiten, West- und Ostberlin, die Strecke nach dem Mauerbau genutzt?

Als Stummelstrecken. Wobei Westberlin die Stadtbahn vom Bahnhof Zoo in Richtung Osten verfallen ließ, weil die darauf fahrende S-Bahn ja nach wie vor von der Deutschen Reichsbahn der DDR betrieben wurde. Die boykottierten viele Westberliner. Die Politik reagierte, indem sie parallel Buslinien einrichtete.

Das letzte Kapitel der Stadtbahn war die Eröffnung des Hauptbahnhofs und der Nord-Süd-Trasse, über die die Bahn jetzt die meisten Züge führt. Wie finden Sie das Konzept?

Die Stadtbahn platzte vorher aus allen Nähten, sie war extrem dicht befahren. Für die Entlastung durch die neue Trasse war es also höchste Zeit. Ich halte deshalb den Entwurf der Bahn für sehr gelungen – auch wenn der Hauptbahnhof ja ein paar Schwächen gezeigt hat.

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