taz-Sonderausgabe zu Utopie: Hustlen, wie und wann du willst
Homeoffice, Büro oder irgendwo dazwischen – die Ansprüche verändern sich. Wie klarkommen zwischen starren Strukturen und Bullshit-Jobs?
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Eine gute Sache hatte die Coronapandemie. Sie brachte die Erkenntnis mit sich, dass sich viele Jobs von zu Hause oder einem anderen selbstgewählten Ort ausführen lassen. Arbeit und Freizeit, sonst räumlich und zeitlich voneinander getrennt, verschmolzen im Homeoffice.
Wäsche aufhängen, privat telefonieren und sich dann dem Laptop widmen und im Meeting präsentieren? Für viele ist das seit Corona Normalität. Doch was wünschen sich Arbeitnehmende in dieser sich wandelnden Arbeitswelt?

🐾 Von der Kneipe an der Ecke bis zum solidarischen Garten in Bogotá: Junge Autor*innen haben sich auf die Suche nach utopischen Ideen begeben. Die dabei entstandenen Artikel haben sie in einer Sonderausgabe der taz veröffentlicht.
Vielen geht es mittlerweile nicht mehr nur um eine Balance zwischen Leben und Arbeit, sondern um Work-Life-Integration. Also darum, wie Arbeit und Leben verbunden werden können. Deshalb müssen sich beide Seiten, Arbeitgebende und Arbeitnehmende, dessen bewusst werden, dass Alltag und Arbeit nicht mehr strikt voneinander zu trennen sind.
Dafür brauche es Regeln, betont Arbeitspsychologe Ludwig Andrione. Er sagt: „Flexibel heißt nicht: Wir machen das irgendwie.“ Arbeitnehmende müssten wissen, was erwartet wird. Dafür sollten die Anforderungen und der Rahmen geklärt sein: Welche Ziele sollen wann erfüllt werden? Wann muss ich erreichbar für die Chefin sein? Wer hilft im Homeoffice bei Hardware-Problemen? Flexibilität funktioniert also nur mit Kommunikation und klarem Rahmen.
Unabhängigkeit vom Arbeitsort
Jedoch ist nicht jeder Vorgesetzte ein Fan von Veränderung. Viele Chefs wünschen sich zum Beispiel wieder mehr Präsenz im Büro. Dabei geht aus einer Studie der Universität Darmstadt hervor, dass 59 Prozent der befragten Arbeitenden das Gegenteil wollen: Work from home.
Haben die mehr als 30 Prozent, die unbedingt ins Büro wollen, außerhalb ihres Jobs nicht die Möglichkeiten oder das Selbstbewusstsein, Freundschaften zu schließen? Brauchen sie auch im Erwachsenenleben einen Schulhof? Von den einen in der Jugend geliebt und den anderen gehasst. Einige haben in den letzten Jahren festgestellt, dass sie bewusst wählen wollen, mit welchen Menschen sie sich umgeben. Warum zwingen wir sie zurück auf den Pausenhof?
Unabhängig vom Arbeitsort wünschen sich Arbeitende Respekt, Anerkennung und Arbeit auf Augenhöhe. Der Arbeitspsychologe Andrione sagt: „Ist man in einem vertrauensvollen Austausch, bleibt man eher in schwierigen Arbeitssituationen und hält eine Krise durch.“
Im Laufe der letzten Jahrzehnte habe sich die Belastung durch Arbeit verändert, hin zu einer psychischen Beanspruchung. „Je digitaler die Arbeitswelt, desto weniger sehen wir, was wir eigentlich an einem Tag geschaffen haben“, sagt er. Deswegen sei konstruktives Feedback umso wichtiger.
Was passiert, wenn diese Rückmeldungen fehlen, kann man im Reddit-Forum r/antiwork mit weltweit 2,8 Millionen Mitgliedern nachlesen. Dort tauschen sich Nutzer über Situationen aus, in denen sie sich nicht wertgeschätzt fühlten.
Eine Person schreibt, dass sie abgemahnt wurde, weil sie im Burger-Laden nicht auf ihren Schichtleiter wartete, um einen Krankenwagen für eine ältere Frau anzurufen. Später habe sie erfahren, dass die Frau Diabetikerin ist und ohne ihr schnelles Eingreifen möglicherweise gestorben wäre. Die Person kündigte daraufhin.
Man könnte das Reddit-Forum als Ort zum Jammern abstempeln. Doch wird hier anonym dokumentiert, was in der Arbeitswelt schiefläuft. Viele drücken hier erstmals aus: „Ich mache den Scheiß nicht mehr mit! Ich lasse mich nicht so behandeln. Ich bin mehr wert.“
Fünf Arten unsinniger Tätigkeit
Doch Wertschätzung allein reicht vielen nicht, sie wollen auch etwas Sinnvolles tun. In einer im Sommer 2023 veröffentlichten und in den USA durchgeführten Studie gaben 19 Prozent der Befragten an, ihre Arbeit habe subjektiv keinen Mehrwert für die Gesellschaft. „Die Hölle ist eine Ansammlung von Personen, die den größten Teil ihrer Zeit mit einer Tätigkeit beschäftigt sind, die sie nicht mögen und nicht besonders beherrschen“, schreibt Anthropologe David Graeber in seinem Buch „Bullshit Jobs“.
Graeber identifiziert fünf Arten dieser unsinnigen Tätigkeiten. Unter anderem „Flickschuster“, die temporäre Lösungen für Probleme finden, ohne die Wurzel der Probleme anzugehen, und „Kästchenankreuzer“, die Prozesse und Arbeit in Protokollen dokumentieren, die niemand liest. Solche Aufgaben belasten, weil sie überflüssig sind. Die einzige Rechtfertigung vor sich selbst ist der Tausch von Lebenszeit gegen Geld. Stattdessen könnte bei gleichem Lohn die Stundenzahl gesenkt werden, aber Sinnlosigkeit scheint en vogue zu sein.
Eine mögliche Folge ist „Bore-out“, eine Kombi von Unterforderung und Langeweile, die wiederum die Sinnfrage aufwirft. Eine Zwischenlösung wäre „Quiet Quitting“: weitermachen, aber nur so viel, dass nicht auffällt, dass man eigentlich keinen Bock hat. Funktioniert im Büro und zu Hause.
Statt business as usual sollten die Rahmenbedingungen stärker hinterfragt werden. Mehr Wertschätzung, Sinn und Flexibilität sollten doch möglich sein. Wenn fast jede und jeder arbeiten muss, wieso dann nicht so, dass sich das Arbeiten sinnvoll anfühlt, in passender Umgebung? Und solange jemand seinen Job gut ausführt, wieso sollte dieser nicht an die individuellen Lebensumstände angepasst sein?
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