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talkshowEin Femizid voller Widersprüche

Am 7. Februar 2005 wurde die Deutschkurdin Hatun Sürücü in Berlin von ihrem Bruder ermordet. Die folgenden Debatten über sogenannte „Ehrenmorde“ waren rassistisch geprägt – und trotzdem nicht ganz unberechtigt

Berlin-Lichtenberg im Juli 2023: Gedenkveranstaltung für Diana G., das Opfer eines weiteren Femizids Foto: M. Golejewski/AdoraPress

Von Frederik Eikmanns

Vor zwanzig Jahren wurde die Deutsch-Kurdin Hatun Sürücü in Berlin von ihrem Bruder ermordet, der damit die „Ehre“ seiner Familie wiederherstellen wollte. In Politik und Gesellschaft gab es damals riesige Entrüstung. Ganz Deutschland diskutierte plötzlich über sogenannten „Ehrenmorde“, über archaische Frauenbilder im Islam und Zwangsehen unter türkischen Migrant*innen.

Aber war das nun eine bitter nötige Debatte um muslimisch verbrämten Frauenhass in einem Teil der migrantischen Bevölkerung? Oder doch die Instrumentalisierung eines Verbrechens, eines tragischen Einzelfalls, um Rassismus gegen Mi­gran­t*in­nen zu schüren? Die Antwort ist wohl: Beides. Das macht die ganze Sache so kompliziert – und so aktuell.

Zur Erinnerung: Am 7. Februar 2005 wurde Hatun Sürücü von ihrem Bruder Ayhan an einer Bushaltestelle in Berlin erschossen. Ayhan wollte die Ehre der Familie schützen, die er durch Hatuns Lebensstil bedroht sah: Sie hatte sich von ihrer Familie entfremdet, trug kein Kopftuch und lebte allein. Obwohl es zahlreiche Hinweise gab, dass Ayhan die Tat zusammen mit seinen zwei Brüdern und dem Vater geplant hatte, wurde bis heute nur er allein dafür verurteilt. Nachdem er seine Jugendstrafe abgesessen hatte, wurde Ayhan, der keine deutsche Staatsbürgerschaft hatte, später in die Türkei abgeschoben.

Die Doppelmoral der damaligen Debatte um Sürücü ist aus heutiger Perspektive offensichtlich. Warum bekam genau dieser Fall so viel Aufmerksamkeit? 2005 gab es noch keine offiziellen Zahlen zu Femiziden, also Morden an Frauen, weil sie Frauen sind. Aber man darf wohl annehmen, dass die Zahl damals mindestens genauso hoch lag wie 2023. Da waren es über 300 Fälle. Der Verdacht liegt also nahe, dass es auch Rassismus war, aus dem sich Politik und Gesellschaft damals auf den Fall Sürücü stürzten, während viele andere Morde an Frauen unbeachtet blieben, weil sie nicht den Ressentiments der Mehrheitsgesellschaft entsprachen.

Und auch heute muss man ja nur die Bild-Zeitung aufschlagen oder ins AfD-Wahlprogramm schauen, um zu sehen, wie bis heute der Kampf gegen Sexismus und der Schutz unterdrückter muslimischer Frauen zum Vorwand wird, um Rassismus zu legitimieren.

Die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak brachte das einst für das Beispiel des kolonialisierten Indiens so auf den Punkt: „White men are saving brown women from brown men“. Weiße Männer, die braune Frauen vor braunen Männern retten. Gewinner sind dabei natürlich nicht die braunen Frauen – denn um die geht es eigentlich gar nicht. Sie sind nur Vorwand für die weißen Männer, um die braunen Männer zu unterwerfen.

Nur: Wer den Fall Sürücü und die Reaktionen ausschließlich als Ausdruck rassistischer Ressentiments in der deutschen Gesellschaft deutet, geht auch an der Realität vorbei. Oder kollidiert viel mehr mit ihr. Denn dass es da einen abstoßenden Mord gab, aus archaischen Vorstellungen von Ehre, hat sich die Bild-Zeitung nicht ausgedacht. Genauso wenig, dass die Brüder Sürücü und ihr Vater wohl Kontakte zu Islamisten hatten. Oder, dass Frauen in Teilen der muslimischen Welt systematisch benachteiligt, teils unterdrückt werden.

Deutungen und Perspektiven überlagern und überschneiden sich, teils widersprechen sie einander

Teile der Linken haben bis heute eine Zurückhaltung, was dieses Thema angeht. Da findet sich schnell ein bisschen zu viel Verständnis für Islamisten. Oder für Sexismus unter Zugewanderten. So als ob Menschen, die von Rassismus betroffen sind, nicht gleichzeitig Frauenverächter sein können. Als ob Opfer sein an einer Stelle ausschließen würde, an anderer Stelle Täter zu sein.

Der Fall Sürücü liegt damit in einer Art Knautschzone. Hier überlagern und überschneiden sich die Perspektiven und Deutungsangebote, teils widersprechen sie einander oder kollidieren. Das ist teils verwirrend. Aber nur aus dieser Widersprüchlichkeit heraus lässt sich verstehen, was da vor 20 Jahren geschah.

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