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Zwölf Jahre nach Haasenburg-SchließungHamburg will wieder Kinder wegsperren

Diskret hat der Bau eines neuen Heims begonnen. Dort sollen Kinder ab neun Jahren in der Anfangsphase auch unter Freiheitsentzug untergebracht werden.

Am Anfang ist eine Mauer – zum Klettern und als Lärmschutz für die Nachbarn Foto: Kaija Kutter

Hamburg taz | Zwölf Jahre ist es her, dass Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) den Bau eines geschlossenen Heims ankündigte, weil die bis dahin von Hamburg belegten Haasenburg-Heime in Brandenburg dichtgemacht wurden. Seither zog sich das Vorhaben in Varianten durch drei Wahlperioden. Doch nun wird es ernst. Auf einer Wiese am Klotzenmoorstieg im Stadtteil Groß-Borstel sind Bagger angerollt, um das inzwischen auf den hübschen Namen „Casa Luna“ getaufte und mit „heilender Architektur“ geplante Heim zu bauen.

Schon fertig ist eine etwas bizarr wirkende gezackte Mauer am hinteren Ende des rund 4.700 Quadratmeter großen Areals. „Das wird eine Kletterwand“, erklärt ein Bauarbeiter. Die müsse als Erstes gebaut werden, weil es später nicht mehr gehe. Sie soll auch als Schallschutz für die Nachbarn dienen. Davor gesetzt wird ein Haus mit halbmondförmiger Grundfläche, das Platz für drei Wohngruppen mit insgesamt 16 Plätzen für Kinder im Alter von neun bis 13 Jahren bieten soll.

Politisch brisant sind vor allem die vier Plätze der „Clearinggruppe“ im Obergeschoss. Denn hier sollen auch Kinder mit einem Gerichtsbeschluss für geschlossene Unterbringung aufgenommen werden. In den beiden anderen Gruppen mit je sechs Plätzen sollen die Kids dann wohnen. Aber nicht auf Dauer – das Konzept geht von einer Betreuungszeit von „bis zu zwei Jahren“ aus.

Der Bau dieses Heims ist umstritten. Im September 2023 hatten ehemalige Bewohner der Haasenburg vor dem Bauplatz eine Kundgebung abgehalten. Und als Sozialstaatsrätin Petra Lotzkat in einer Kirche Anwohnern die Pläne erläutern wollte, gab es sogar eine Protest-Performance. Die bis dahin zuständige Sozialbehörde war einerseits bemüht, die fachliche Kritik klein zu halten und bestritt, dass es sich um ein geschlossenes Heim handelt. Doch bei einer Veranstaltung mit Anwohnern im Frühjahr 2024 versuchte die Behörde mit der Aussage zu beruhigen, die Kinder könnten gar nicht allein vom Gelände.

Nicht-öffentliches „Begleitgremium“

Seltsam ist, dass nun an der Baustelle gar kein Schild steht. Rot-Grün redet nicht gern über „Casa Luna“. Kritische Fragen konnten die Abgeordneten der Bürgerschaft zuletzt in einem streng nicht-öffentlichen „Begleitgremium“ stellen. Als sich im Mai 2024 doch einmal der Familienausschuss öffentlich um das Thema stritt, wurde der Disput im Protokoll nicht niedergeschrieben. Er findet sich, wenn man sucht, in der Stellungnahme an den Haushaltsausschuss, der die stattlichen Kosten von 21 Millionen Euro für den Neubau zu bewilligen hatte.

Es gibt aber einen Flyer mit einer Gelände-Skizze. Wer eine Lupe zur Hand nimmt, erkennt den Haupteingang, der stets von einem Pförtner bewacht werden soll, und links und rechts vom Gebäude zwei Tore. Diese sind „von der Straße wenig sichtbar“, wie der Senat in der Haushaltsdrucksache schreibt. Doch sie sind drei Meter hoch, ebenso wie der Stabgitterzaun, der den übrigen rückwärtigen Teil des Geländes – auch links und rechts von der besagten Kletter-Mauer – umschließt. Und auch wenn das Grundstück vorn zur Straße hin „jederzeit offen“ ist, bildet der Pförtnereingang den Flaschenhals, durch den jedes Kind durch muss.

Inzwischen ist die Bildungsbehörde zuständig. Deren Sprecher Peter Albrecht bestätigt, dass die städtische Sprinkenhof GmbH mit dem Bau für „Casa Luna“ begonnen hat. „Die Eröffnung ist Mitte 2027 vorgesehen“, sagt er. Es handle sich um ein Projekt auf der Schnittstelle von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie, das einem Kind nahezu alle Hilfen, die es braucht, vor Ort bieten könne.

Mit dem Bau der ‚Casa Luna‘ wird ein Fehler der Vergangenheit wiederholt

Tilman Lutz, Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung

Zur Freizügigkeit sagt er, Kinder ohne Beschluss könnten in Absprache mit den Fachkräften das Gelände verlassen, so wie es der Jugendschutz in dem Alter vorsehe. Kinder mit Beschluss könnten dies nur in Begleitung tun. Sollten sie es doch allein versuchen, kontaktiere der Pförtner die Pädagogen, um „das weitere Verfahren im Einzelfall zu klären“.

Für die Kritiker bleibt es dabei, dass „Casa Luna“ den Charakter einer geschlossenen Einrichtung hat. Das Aktionsbündnis gegen geschlossene Unterbringung (AGU) druckte kürzlich eine Broschüre, in der es Alternativen vorschlägt. Zwar müsse man ernst nehmen, dass Handlungsbedarf besteht, weil Kinder zwischen der Jugendhilfe und der Jugendpsychiatrie hin- und hergeschoben würden. Doch „Casa Luna“ schaffe für die Kinder nur eine „Sondereinheit“ abseits ihrer sonstigen Lebenswelt. Das Kind werde von seiner Schule, seinen Freunden und seiner sozialen Umgebung getrennt und solle dann nach zwei Jahren zurück in sein altes Umfeld. Das könne nicht funktionieren.

Besser wäre laut der Broschüre, die Kinder stadtteilnah mit Therapie- und Wohnplätzen zu versorgen, gegebenenfalls mit der Familie. Und für die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Psychiatrie solle eine gemeinsame Arbeitsstelle geschaffen werden. „In der Stadt Essen gibt es das schon“, sagt Sozialwissenschaftler Michael Lindenberg, der das Papier mitverfasst hat. „Mit dem Bau der ‚Casa Luna‘ wird ein Fehler der Vergangenheit wiederholt“, erklärt sein Co-Autor Tilman Lutz. „Das ist kein angemessenes, lebensweltorientiertes Angebot.“ Er sehe fachlich keinen Bedarf für so eine Einrichtung, ergänzt AGU-Mitglied Ronald Prieß. „Und auch politisch gibt es in der Stadt gerade keinen Druck, dieses Heim zu bauen.“

Scharf kritisiert hatte die Pläne für die geschlossene Eingangsphase auch Renzo Martinez. „Geschlossene Unterbringung ist ein Grundrechtseingriff. Sie schädigt die Kinder und ist nicht zu rechtfertigen“, sagt der frühere Haasenburg-Bewohner, der sich heute im Verein „K.I.N.D.“ für die Rechte von Heimkindern engagiert. Martinez hatte sich sogar mit Behördenvertretern getroffen und darüber gestritten. Peter Albrecht sagt, in dem Gespräch sei besonderer Wert auf Mitgestaltungsstrukturen und Beschwerdestellen gelegt worden, diese seien in den Konzepten „umfassend berücksichtigt“. Das sieht Martinez anders: „Da die geschlossene Eingangsphase immer noch geplant ist, wurde meine Hauptkritik gerade nicht berücksichtigt.“

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