Debatte um geschlossene Kinderheime: Eine Alternative zum Wegsperren

Das „Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung“ versucht, mit einem Gegenvorschlag den Bau eines geschlossenen Heims in Hamburg zu verhindern.

Das geschlossene Tor des Kinder- und Jugendheims "Haus Babenberg" der Haasenburg GmbH im November 2013

Schlechte Erfahrungen mit geschlossenen Heimen: In den Haasenburg-Heimen wurden Kinder misshandelt Foto: dpa | Patrick Pleul

HAMBURG taz | Die ersten Architektur-Entwürfe gibt es schon. Auf einer Wiese am Klotzenmoorstieg, nicht weit vom Hamburger Flughafen, soll ein besonderes Kinderheim mit Phasen-Modell entstehen. Das Heim soll 16 Plätze bieten für Kinder zwischen 9 und 13 Jahren. Mit der sogenannten „Aufnahmephase“ soll das Heim auch einen geschlossenen Unterbringungsbereich haben.

Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass das Hamburger „Aktionsbündnis gegen Geschlossene Unterbringung“ hier mit Argusaugen schaut, was passiert. Zusammen mit dem „Arbeitskreis kritische Sozialarbeit“ verfasste es jetzt ein Papier mit dem Appell an die Stadt, auf dieses Heim zu verzichten und die Probleme anders zu lösen.

In dem rot-grünen Koalitionsvertrag von 2020 heißt es, man wolle die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Psychiatrie verbessern. Denn es wanderten „viel zu häufig“ Kinder und Jugendliche zwischen beiden Systemen hin und her. Deshalb soll es diese Einrichtung geben.

Im dem Papier „Alternative Überlegungen und Vorschläge zum Zusammenwirken von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamburg“ setzen sich der frühere Hochschulprofessor Michael Lindenberg, sein Mitstreiter Tilman Lutz und weitere kritische Fachleute mit diesem Ansinnen auseinander. In jedem Fall müsse man ernst nehmen, dass „dringender Handlungsbedarf“ wegen dieser „Verschiebepraxis“ bestehe.

Tendenziell seien Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie zwei „abgeschlossene Einheiten“ mit verschiedenen „Theorien, Sprachverständnissen und Menschenbildern“. Von der Psychiatrie käme häufig die Klage, die Jugendhilfe überlasse ihr jene Kinder, bei denen sie sich nicht gewachsen fühlt. Von der Jugendhilfe werde ins Feld geführt, dass dort ein besseres Wissen und tieferes Verständnis für bestimmte Personen bestünde.

Kinder zu „Symptomträgern“ gemacht

Generell habe die Jugendhilfe sich seit den 1970ern verändert. Hätten die Jugendämter früher noch selber die Menschen beraten und begleitet, seien sie heute „Spezialdienste“, die Fälle verwalten – mit der Tendenz, Störungen und Auffälligkeiten zu betonen. Vor allem Kinder würden so zu „Symptomträgern“ gemacht. Zugleich gebe es für immer mehr soziale Auffälligkeiten medizinisch anerkannte Definitionen, was zu einem Ausbau der Psychiatrie und zu einer „Erweiterung der medizinischen Definitionsmacht“ führe.

Doch die Erwartungen an die Psychiatrie seien hoch und auch deren Möglichkeiten etwa aufgrund von Personalmangel begrenzt. „Manche Kritiker der geschlossenen Unterbringung“, so steht es im Papier, seien deshalb gar für eine Einrichtung wie den „Klotzenmoorstieg“, weil die wenigstens in Hamburg liegt und nicht weit weg.

Lindenberg und Co halten diese Sondereinrichtung dennoch für ein Zeichen von Hilfslosigkeit. Zwar werde von „sozialräumlicher“ Unterbringung gesprochen. Doch geplant sei, dass die Kinder „vom morgendlichen Zähneputzen über die interne Beschulung bis zum Abendessen und abendlicher Freizeit“ dauerhaft in der Einrichtung sind. Das Kind werde von seiner Schule, seinen Freunden und anderen Bezugspersonen getrennt.

In der Regel werde dies mit einem „schädlichen Umfeld“ begründet, aus dem das Kind heraus müsse, um psychisch zu gesunden. Die widersprüchliche Logik sei hier, das Kind selbst als Problem zu sehen, das „individuell bearbeitet“ und am Ende nach einer zweiten und dritten Phase in seinem alten Umfeld bestehen soll.

Dem setzen die Autoren entgegen, dass es besser wäre, die 9- bis 13-Jährigen – die vom Alter her auch „Lücke-Kinder“ genannt werden, weil es für sie kaum Angebote gibt – in ihrem Stadtteil zu lassen und sie gegebenenfalls dort in „Krisenwohnungen“ unterzubringen, wo sie mit ihrer Familie wohnen können. Es müsste in allen Hamburger Bezirken „verlässliche Orte“ für jenen Kreis junger Menschen geben, die dem Klotzenmoorstieg zugeordnet werden. Dort sollten Fachleute aus Jugendhilfe und Psychiatrie zusammen wirken, und zwar „auf Augenhöhe“.

Und damit das gelingt, sollten beide Professionen bereits in den „regionalen Fallberatungsgremien“ zusammenarbeiten. Und es sollte in der Sozialbehörde eine Arbeitsgruppe dafür geben. Fortbildungen müssten gemeinsam stattfinden und es müsse Einzelvereinbarungen mit Trägern geben, die darin erfahren sind, mit beiden Professionen zusammen Lösungen für schwierige Fälle zu stricken.

Kinderschutzbund noch unentschieden

Lindenberg hat bereits vor zwei Wochen sein Papier beim Kinderschutzbund vorgestellt und dort mit Fachleuten diskutiert. Das Papier enthalte „bedenkenswerte Punkte“, sagt Kinderschutzbund-Geschäftsführer Ralf Slüter. Es sei wichtig, die Angebotsstruktur in den Bezirken zu verbessern. Doch unabhängig davon gebe es eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die zwischen den Systemen hin- und hergeschoben werde. Da befinde sich der Kinderschutzbund auch „intern in der Diskussion“ und könne keine „eindeutige“ Einschätzung geben.

Ganz ähnlich äußern sich auch die Fachsprecher von Grünen und SPD. Lindenbergs Impulse werden gelobt, die Notwendigkeit der neuen Einrichtung aber nicht angetastet. Nur die jugendpolitische Sprecherin der Linksfraktion, Sabine Boeddinghaus, sagt, sie begrüße sehr, das es jetzt alternative Konzepte gibt und überlege, eine Veranstaltung dazu zu machen.

Auch die Sozialbehörde kennt das Papier. Man sei mit der „kritischen Fachöffentlichkeit“ im Austausch, sagt eine Sprecherin. Nur sei das Projekt ja aufgrund „inhaltlicher Erfordernisse“ im Koalitionsvertrag verankert.

Eröffnung erst nach der nächsten Wahl

Zum aktuellen Stand gibt es ein Papier der Behörde. Darin heißt es, die Fachplanungen seien fortgeschritten und die Baugenehmigung werde Ende 2023 erwartet. Das Heim solle aus drei Gebäuden bestehen, eines für die bis zu dreimonatige „Aufnahmephase“, eines für die „Entwicklungsphase“ und eines für die „Verabschiedungsphase“. Der Aufenthalt solle bis zu zwei Jahre dauern, freiheitsentziehende Maßnahmen seien „nur einzelfallbezogen und temporär“ angedacht.

Neu ist auch, dass der Zeitplan rutscht. Statt wie bisher für April 2025 wird die Inbetriebnahme nun erst für Mitte 2026 angepeilt. Davor liegt im Frühjahr 2025 die nächste Bürgerschaftswahl. Tilman Lutz sagt: „Das lässt uns hoffen, dass unsere Impulse noch aufgegriffen werden und sich durchsetzen“.

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