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Urteil zur Behandlung psychisch KrankerMehr Rechte im Zwang

Sean-Elias Ansa
Kommentar von Sean-Elias Ansa

Ärztliche Zwangsmaßnahmen wirken nicht in jedem Fall gegen die Betroffenen. Eine Erwiderung auf einen Kommentar der Autorin Lea De Gregorio.

Eine ärztliche Zwangsmaßnahme könnte für diesen Menschen die angemessene Fürsorge sein Foto: Hartmut Müller-Stauffenberg/imago

W ann dürfen Menschen zwangsbehandelt werden? Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) erklärte es für verfassungswidrig, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich in Krankenhäusern durchgeführt werden dürfen. Dieser Vorstoß löste in der taz Kontroversen aus. Die Autorin Lea De Gregorio schrieb in einem taz-Text, dass sich Menschen nun unsicher fühlen würden, vor allem zu Hause oder in Einrichtungen wie Pflegeheimen und dem betreuten Wohnen. Gregorio befürchtet eine Ausweitung des Zwangs sowie die Einschränkung von Grundrechten.

Gregorios Sicht ist nachvollziehbar, aber es gibt auch andere, die ihrer entgegenstehen: Das BVerfG-Urteil stärkt die Rechte Betroffener. Denn durch das Urteil ist jetzt klar, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen, die nur im Krankenhaus durchzuführen sind, dem Grundgesetz widersprechen. Dahinter steht ein einfacher Gedanke: Ein Krankenhausaufenthalt kann die Gesundheit verschlechtern. Denn Behandlungen oder Eingriffe sind immer dann Zwangsmaßnahmen, wenn sie gegen den Willen des Patienten durchgeführt werden, egal wo sie durchgeführt werden.

Im Fall, den das BVerfG zu entscheiden hatte, wollte ein Berufsbetreuer im Namen einer Frau mit paranoider Schizophrenie, eine zwangsweise ärztliche Behandlung mit einem Neuroleptikum durchführen lassen. In der Vergangenheit waren regelmäßig Fixierungen und das Anlegen einer Spuckmaske zum Transport ins Krankenhaus notwendig. Aber: Eine Behandlung im heimischen Umfeld könnte dies verhindern. Das Gericht erkannte, dass diese Erfahrungen auf andere Betroffene übertragbar sind: Eine ausnahmslose Behandlung im Krankenhaus kann durch den Ortswechsel und den Kontakt mit fremden Personen traumatisierend wirken, insbesondere für Demenzpatienten oder Menschen mit wahnhaften Erkrankungen. Doch Betroffenenverbände wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe kritisieren das Urteil: Wenn Zwangsmaßnahmen ausgeweitet werden, würden sie häufiger angewandt.

Manchmal können Menschen nicht für sich selbst sorgen. Daraus sollte kein Recht auf Verwahrlosung folgen

Diese Sorgen sind verständlich, aber unbegründet. Die meisten Kriterien im Gesetz zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen bleiben nach wie vor bestehen. So darf medizinisches Fachpersonal eine Zwangsmaßnahme nur als letztes Mittel einsetzen, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden. Zudem muss der oder die Betreute aufgrund der psychischen oder geistigen Verfassung die Notwendigkeit der Maßnahme nicht erkennen können. Ebenso muss die betreuende Person ernsthaft versucht haben, den oder die Betreute von der Maßnahme zu überzeugen. Die wiederum dann nicht gestattet ist, sobald es eine weniger belastende Alternative gibt.

Schutz vor sich selbst

Das grundsätzliche Ziel, Gewalt in der Psychiatrie zu verhindern, ist richtig. Die Frage indes ist: Inwieweit muss ein Mensch vor sich selbst geschützt werden? Zwang darf nur angewandt werden, wenn der Nutzen größer ist als der Schaden, den der Betroffene sich selbst oder anderen zufügen könnte. Manchmal können Menschen nicht für sich selbst sorgen. Daraus sollte jedoch kein „Recht auf Verwahrlosung“ während einer psychischen Krise folgen. In Einrichtungen warten Mitarbeitende mitunter eine Eskalation ab, weil sie rechtlich erst dann reagieren dürfen. Manchmal leiden Betroffene unnötig lange, hierbei geht es nicht nur um Medikamente, sondern auch um Zahnbehandlungen, Knochenbrüche, Routineuntersuchungen.

Die Konsequenzen der Nichtbehandlung sieht man insbesondere an Menschen, die weitgehend außerhalb des Systems und ohne Betreuung leben. In unseren Städten gibt es Wohnungslose, manche von der Welt entrückt, die sich aus Mülltonnen ernähren und sich in Alufolie wickeln statt in Kleidung. In diesen Fällen sind klare Vorgaben, die nötigenfalls Zwangsmaßnahmen einschließen, die bessere Lösung. Im Idealfall können sich Betroffene wieder neu sortieren und selbstbestimmter leben.

Unabhängig davon ist der Zwang an viele Kriterien gebunden. Behandelnde entscheiden nicht allein über eine Zwangsmaßnahme, sondern es bedarf weiterhin der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Und: Niemand kommt nach Hause und verabreicht unkontrolliert Medikamente. Der Deutsche Richterbund argumentiert, dass sich im ambulanten oder teilstationären Bereich eher Möglichkeiten finden lassen, eine Zwangsbehandlung gänzlich zu vermeiden. Eine Einstellung auf ein neues Medikament bedeutet oft, dass der Betroffene für Wochen in eine Klinik muss. Andreas Brilla, Vorsitzender des Deutschen Richterbunds in Baden-Württemberg, sagt: „Menschen im Pflegeheim müssen ab und zu ertragen, dass sie die Medikamente nehmen müssen. Das bedeutet aber viel weniger Stress, als wenn sie über Wochen in die Klinik gehen.“

Das Urteil wägt sorgfältig ab

Das Urteil wägt also zwischen der staatlichen Schutzpflicht gegenüber hilfsbedürftigen Menschen und dem Recht auf deren Selbstbestimmung sehr genau ab. Sowohl bei der Anwendung als auch bei der Vermeidung von Zwang geht es um das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das muss oberste Priorität haben. Gleichzeitig erkennt das Gericht an, dass die Situation der Betreuten entschärft werden kann, wenn zumindest der Ort des Zwangs noch frei wählbar ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil das Thema Selbstbestimmung auch in schwierigen Lebenslagen und psychischen Notlagen auf die politische Agenda gesetzt. Das ist gut so. Damit ist klar, dass Zwangsmaßnahmen zu vermeiden sind, aber auch alternative Ansätze wie die Psychosebegleitung ausgebaut werden müssen. Das ist ein positives Signal und unterstützt speziell Menschen in akuten psychotischen Krisen. Der Gesetzgeber ist nun aufgerufen, sich noch einmal mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Denn aktuell gibt es für manche Menschen eher zu wenig als zu viel Behandlung.

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Sean-Elias Ansa
Gefördert durch die taz Panter Stiftung, wurde Sean-Elias Ansa in der taz ausgebildet. Sein Themenschwerpunkt ist extreme Armut. Er recherchiert ausdauernd, hat seine Liebe für Datenanalysen entdeckt und beschäftigt sich mit neuen Ideen für den besten Leseservice. Aktuell arbeitet er am Nachrichtentisch bei taz.de als Chef vom Dienst. In dieser Funktion setzt er die Themen auf der Webseite und verantwortet die Ausspielung der Texte mit.
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24 Kommentare

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  • Eine Behandlung gegen meinen ausdrücklichen Willen hat zu unterbleiben!

    Aus gutem Grund hat die Gesetzgeberin eine medizinische Zwangsbehandlung auf lebensrettende und lebenserhaltende Maßnahmen im Klinik-Setting begrenzt.

    Zwangsbehandlung zu Hause oder in Einrichtungen wie Pflegeheimen und dem betreuten Wohnen birgt immer die Gefahr, dass die zu Betreuenden medikamentös gefügig gemacht werden sollen. (Wissen Sie über dei alltägliche Realität in solchen Heimen?)

    "Das BVerfG-Urteil stärkt die Rechte Betroffener." ???



    Nein!



    Das Urteil stärkt die Befugnisse von Betreuer*innen und der Einrichtungen.

  • Erschreckend unpräzise und irreführend, was ich hier lesen muss.



    "Wann dürfen Menschen zwangsbehandelt werden?" - Schon diese Frage geht am Thema vorbei. Gegenstand des Urteils war nicht das "Wann" sondern das "Wo".



    Die Fragen, ob, warum oder zu welchem Zweck wir Menschen gegen ihren Willen bzw. ohne ihr ausdrückliches Einverständnis behandeln dürfen, waren meines Wissens nicht Gegenstand der Verhandlung. Eine "Notwendigkeit" der Zwangsbehandlung wurde schlicht vorausgesetzt und nicht hinterfragt.



    Jede medizinische Behandlung ist eine Körperverletzung. Ich kann - ausreichend informiert - einer solchen Körperverletzung zustimmen. Ich kann einverstanden sein mit der Behandlung. Ich kann mein Einverständnis erklären. Ich kann mich behandeln lassen - selbst, wenn diese Behandlung mir nix bringt oder mir langfristig schadet. Dummerweise wird mir sehr schnell eine Einsichtsunfähigkeit attestiert, sobald ich nicht einverstanden bin.



    Darf man mich zu "Gesundheit" zwingen? Fördert eine Behandlung gegen meinen Willen meine "Gesundheit"? Mit Substanzen, die mich massiv kognitiv beeinträchtigen und meine Lebenserwartung um 15 bis 25 Jahre verringern?

  • Ich plädiere in meinem Text nicht für Nichtbehandlung, sondern für menschenrechtskonforme Behandlung. Leider erfahren Menschen häufig psychiatrischen Zwang, ohne dass Alternativen angeboten wurden - gerade bei Psychosen. Und Statistiken zeigen, dass psychiatrische Maßnahmen trotz strenger Regeln schon jetzt sehr unterschiedlich angewendet werden. Ich verweise auf Soteria-Stationen als eine mögliche Alternative. Die gibt es nur in wenigen Städten. In Zwiefalten wird die Soteria gerade geschlossen. Natürlich sollte man Menschen in psychotischen Zuständen nicht alleine lassen. In dem Sinne würde ich dem letzten Satz zustimmen: "aktuell gibt es für manche Menschen eher zu wenig als zu viel Behandlung." Übrigens äußern nicht nur Betroffenenverbände Sorgen, dass Zwang zunimmt, siehe z.B.: www.institut-fuer-...zwangsbehandlungen. Und die Sorgen von Betroffenenverbänden hängen auch mit Erfahrungen mit der Psychiatrie zusammen - und dem Wissen darüber, was trotz Gesetzen schiefläuft. Die Sorgen lassen sich also nicht einfach alle mit dem Verweis auf Regelungen entkräften. Leider...

    • @Lea De Gregorio:

      "Die Menschenrechte von psychisch Kranken haben in unserer Gesellschaft zu wenig Wert.", so der letzte Satz Ihres Beitrags vom 06.12.24.

      Mit dieser Beobachtung haben sie natürlich nicht Unrecht.



      Vielleicht können Sie und Herr Ansa bei diesem Thema "am Ball" bleiben ... denn es ist zu befürchten, dass in den nächsten Jahren nicht nur das politische "Klima" im Lande rauher werden wird, sondern sich auch die Teilhabemöglichkeiten psych. Erkrankter verengen werden.



      Seit Jahren gibt es Bemühungen i.S. einer "Entstigmatisierung" psych. Erkrankungen ... bisher haben diese Bemühungen eher zu einer "Zwei-Klassen-Psychiatrie" geführt: Es gibt mehr als genug Psychosomatik-Kliniken, um ein Pflaster für sein "Burnout", seine "Neurose" oder die spirituelle Krise zu suchen ... in den verschiedenen Medien wird über ADHS & "Einsamkeit" palavert, Psycho-Talk ist in, die Psycho-Industrie boomt, erwachsene Menschen suchen ihr "innere Kind" und eine ganze Nation infantilisert ... und gleichzeitig fehlt den Gesundheitsämtern einschl. Soz.psychiatrischer Dienste landauf & landab das Geld, um genügend Personal einzustellen, um sich auch um die Schwächsten in der Gesellschaft zu kümmern.

    • @Lea De Gregorio:

      Fortsetzung:



      In meinen Beiträgen möchte ich mich dafür einsetzen, dass auch Außenstehende und Laien verstehen, dass "Zwang" in bestimmten Fällen keine Entrechtung psych. Kranker darstellt oder "gegen die Menschenrechte" verstößt, sondern, im Gegenteil, im Kontext einer Zwangsbehandlung Mittel sein kann, eben die Selbstbestimmung eines Menschen überhaupt erst wieder zu ermöglichen. Im Wahn gibt es weder Selbstbestimmung noch soziale Teilhabe.



      Wenn Sie nun schreiben, dass Menschen häufig Zwang erleben würden, ohne dass Ihnen Hilfen angeboten würden, dann will/kann ich das nicht kategorisch in Abrede stellen.



      Aber vielleicht muss unterschieden werden:



      Es gibt viell eine (sehr) kleine Gruppe von Menschen, denen u.U. eine Soteria-Behandlung helfen könnte (vermutlich < 1% der Psychose-(Erst-)Erkrankten). Das BVerfG-Urteil fokussiert jedoch im Grunde auf die Schwerstkranken (z.B. in geschlossenen Heimeinrichtungen).



      Sicherlich wird der BPE es in Abrede stellen: Fakt ist dennoch, dass es chronifiziert Erkrankte gibt, die regelmäßig einer Zwangsmedikation bedürfen, um überhaupt eine minimale Teilhabe zu erfahren. Das BVerG-Urteil kann ihnen eine Hilfe sein.



      Ihnen und Herrn Ansa Dank

      • @Ein wenig Vernunft, bitte!:

        Ich wollte Ihnen eigentlich nicht mehr antworten. Aber das was sie schreiben kann man nicht stehen lassen.



        Das widerspricht selbst Studienlage der Psychiatrie.



        www.kfo241.de/schizophrenia_de.php

    • @Lea De Gregorio:

      Danke für Ihren ergänzenden Kommentar. Dieser hilft mit, auch Ihren Beitrag vom 06.12.24 ("Zwangsbehandlung psych. Kranker) besser einzuordnen.

  • Bei mir in der Nachbarschaft hat ein Schizophrener ein Wohnhaus in die Luft gejagt. Es gab eine tote Bewohnerin. Der war zwischenzeitlich immer wieder zwangweise in der Psychatrie, und musste dort Medikamente nehmen. Zuhause hat er sie dann abgesetzt. Niemand konnte ihn dazu zwingen. Jetzt sitzt der in der Forensik und die Nachbarin bleibt tot. Ich befürworte es voll das man jetzt in solchen Fällen Zuhause zwangsweise therapieren darf.

  • Daher ist ihr Beitrag sehr wertvoll:



    "Die Konsequenzen der Nichtbehandlung sieht man insbesondere an Menschen, die weitgehend außerhalb des Systems und ohne Betreuung leben. In unseren Städten gibt es Wohnungslose, manche von der Welt entrückt, die sich aus Mülltonnen ernähren und sich in Alufolie wickeln statt in Kleidung. In diesen Fällen sind klare Vorgaben, die nötigenfalls Zwangsmaßnahmen einschließen, die bessere Lösung."



    Die Zahl der in unwürdigen Verhältnissen lebenden psychisch erkrankten Menschen nimmt zu.



    Wir als Gesellschaft sollten uns fragen, warum wir bequem vorbei- und wegschauen und Menschen einen "freien Willen" unterstellen, die in Wahnsystemen chronifizieren.



    Und die "Profis"? In der Fachwelt widmet man die zeitl und finanziellen Ressourcen eher den Befindlichkeitsstörungen, behandelt "Burn out", bietet "Coaching" an und "entdeckt" neue Krankheitsbilder (ganz wie Manfred Lütz dereinst schrieb: "Hilfe, wie behandeln die Falschen").



    Wir lassen die schwer psychisch Erkrankten im Stich und überlassen sie häufig ihrem Schicksal und der sozialen Verelendung.

    • @Ein wenig Vernunft, bitte!:

      Manfred Lütz sagt viel Richtiges, aber erzählt manchmal m.E. einfach auch Unsinn, so z.B. wenn er das Stress-Vulnerabilitäts-Modell schon quasi fast zuungusten der Unweltfaktoren aufgibt. Das kann man einfach nicht ernst nehmen, sorry.

      Und obwohl ich selber kein Atheist bin, habe ich ihm gegenüber auch immer so eine Skepsis, was eine mögliche Affinität zu Hierarchien und Paternalismus aufgrund seines Katholischseins angeht. Bei Lütz scheinen die hierarchischen Rollen von Arzt und Patient (Patient als der Leidende) klar verteilt.

      Das Problem in Deutschland ist im Übrigen nicht unbedingt, dass bei Psychosen Medikamente gegeben werden - diese können in der Tat vor Verelendungen und Obdachlosigkeit schützen. Das Problem ist, dass danach und daneben gar nichts mehr kommt.



      Und durch die zeitgeistige Negierung der Umweltfaktoren des Stress-Vulnerabilitäts-Modells wie durch Herrn Lütz wird sich trotz einiger - viel zu weniger - Soteria-Angebote leider auch in Zukunft nicht viel ändern.



      Es stimmt, man darf Menschen nicht Verelenden lassen, aber gleichzeitig sollte Selbstbestimmung endlich mal ernst genommen werden und nicht nur ein hübsches Buzzwort auf den Websites der Kliniken bleiben

    • @Ein wenig Vernunft, bitte!:

      Vieles was Sie sagen ist schon bedenkenswert bzw. Sie legen den Finger in die Wunde.



      Wann z.B. kippt das Liberale ins Egoistische, Indifferente?



      Wann kippt die Wahrnehmung in eine selbstgerechte Clochard-Romantik bei der man sich ganz toll ob der eigenen Liberalität auf die Schulter klopfen kann und sich auch noch moralisch fühlt, obwohl eigentlich ein Nicht-Behelligt-werden-Wollen (ähnliche Muster während der Pandemie) oftmals die zugrunde liegende Motivation ist.

      Auch haben Sie Recht damit, dass die psychosozialen Ressourcen ziemlich unsozial verteilt sind.



      Jedoch: Man kann bspw. einen Therapeuten nicht zwingen, mit bestimmten Menschen zusammenzuarbeiten. Ohne Passung geht es leider nicht, wenn einer nicht will...

      Und: Burn-out ist auch keine Befindlichkeitsstörung, sondern ernstzunehmen.. Ein UND, ein sowohl-als-auch ist hier wichtig.

      Dennoch ist aber auch die Perspektive des anderen Artikels bedenkenswert und auch nicht wegzuwischen. Die Wohnung als psychischen Schutzraum hatte ich gar nicht auf dem Schirm.



      Das Thema bleibt einfach ein scheiß Dilemma, jeder Weg hochindividuell, es gibt keine Standardlösung.

  • Vielen Dank für diesen sehr sachlichen Artikel.



    Sachlichkeit fehlt in Zusammenhang mit dem Thema "Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie" häufig.

    In den 50er/60er Jahren existierte eine geradezu menschenunwürdige Psychiatrie ... es folgten die 60er/70er Jahre ... Psychiatrieenquete, Sozialpsychiatrie, Stärkung der Psychotherapie ... schließlich moderne Neuroleptika ... die Hürden für einen Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen wurden (zu Recht) erhöht ... seit mehreren Jahren erleben wir jedoch:



    Es findet eine kollektive Entverantwortung der Profession statt: Ärzte in den psychiatrischen Kliniken praktizieren häufig - mit Verweis auf die "Selbstbestimmung" bzw. den "Willen" des Pat. - eine (verantwortungslose) "Drehtürpsychiatrie" und Menschen, die schwer psychisch erkrankt sind wird ihr Recht auf (Zwangs--)Behandlung vorenthalten (u.U. mit zynischen Kommentaren wie "Recht auf Psychose", etc.).



    Es wird verkannt: Quelle der Gewalt sind nicht Pflegekräfte oder ÄrztInnen, die "gerne" eine Zwangsbehandlung durchführen, sondern Quelle der Gewalt ist i.d.R. die geradezu brutale Erkrankung, die häufig zu erheblichen sozialen und auch somatischen Schäden führt.

    • @Ein wenig Vernunft, bitte!:

      Hier wurde ein Kommentar entfernt.

  • Das ist ein großes Dilemma. Auf jeden Fall ist es wichtig, dass es nicht leicht gemacht wird, jemanden gegen seinen Willen zu behandeln oder gar in ein Krankenhaus oder Psychiatrie einzuweisen. Das ist gut so und die Fälle, von denen man schon gehört hat, bei denen Menschen Opfer ihrer gierigen Angehörigen werden, oder einfach in die Mühlen der Bürokratie geraten, sind schrecklich.

    Aber ich selbst habe es erlebt, dass meine Alzheimer-kranke Mutter nicht ins Heim wollte (wer will das schon?) als es zu Hause privat auch mit Pflegediensten einfach nicht mehr ging. Sie konnte es schon wegen ihrer Erkrankung nicht einsehen. Und es blieb mir nichs übrig, als sie über einen gerichtlichen Beschluss einzuweisen. Das war alles andere als leicht und darum bin ich auch froh.

    Ich war überrascht, dass es tatsächlich sogar in unserem System, das nun leider immer mehr zusammengekürzt wird, ganz gute Unterstützung zur Hilfe für uns und meine Mutter gab.

    Ich kenne auch einen Fall, wo die demente Mutter einer Freundin hilflos draußen im Nachthemd herumlief und der Rettungswagen im Schritttempo neben ihr herfuhr, weil sie ihr nicht helfen durften. Das ist nicht gut.

  • ausführlicher können Leserinnen und Leser der taz hier zum Thema weiterlesen: elibrary.utb.de/do...1486/rp-02-2024_01



    Schon erstaunlich, wie der Autor menschenrechtliche Erwägungen, wissenschaftliche Erkenntnisse und internationale Erfahrung links (oder eigentlich rechts) liegen lässt.

  • Schon interessant, wenn dem Autor, einem Experten für extreme Armut, als Antwort auf die Armut psychiatrischer Zwang einfällt. Ist dem Autor denn bekannt, dass es überhaupt keine Belege dafür gibt, dass psychiatrischer Zwang hilft; hingegen ist es gesichert, dass psychiatrischer Zwang gefährlich ist, schadet und zum Tod führen kann (vgl. WHO: iris.who.int/bitst...eng.pdf?sequence=1 auf Seite 8).



    Irgendwie auch peinlich für die taz.



    Martin Zinkler

    • @martin zinkler:

      Ich finde diesen Beitrag von Herrn Sean-Elias Ansa sehr gut - und keineswegs peinlich für die taz - im Gegenteil: Im Unterschied zu dem Beitrag von Frau Gregorio ist diese Darstellung wesentlich differenzierter.



      Unter Umständen hat Herr Ansa die desaströsen Folgen psychiatrischer Erkrankungen häufiger / genauer beobachten können, als es Ihnen möglich war.



      Vermutlich dürfen Sie sich psychischer Gesundheit erfreuen, leben nicht in einem Wahnsystem und können einen freien Willen ausbilden und ein u.U. bürgerliches und zufriedenes Leben führen ... und schreiben Artikel dieser Art im Gestus des "Gutmenschen" ("Zwang" = moralisch schlecht, "kein Zwang" = moralisch gut) ... Genauer betrachtet (Dank nochmals an Herrn Ansa) machen Sie sich etwas vor (haben aber als Gesinnungsethiker ein gutes Gefühl) und de facto wird vielen Menschen eine (Zwangs-)Behandlung vorenthalten!



      Ich kenne keine/n Pat., d im Alter von 18 Jahren in sein Tagebuch geschrieben hätte: "Liebe Gesellschaft, lass mich in meinem Wahn chronifizieren und lass mich verelenden, wenn ich schwer psychisch erkranke!"



      Es ist zynisch, Menschen einen freien Willen zuzuschreiben den sie krankheitsbedingt nicht mehr bilden können !!

      • @Ein wenig Vernunft, bitte!:

        Desaströse Folgen psychischer Erkrankungen liegen aber eher an mangelhafter Versorgung insgesamt (Therapie, Inklusion, etc.) und weniger an fehlenden Zwangsmaßnahmen im Akutfall. Wenn das mal so einfach wäre - ein paar Zwangsmedikamente reingeworfen und hoppla, sind die Leute wieder gesund, fit, leistungsfähig. Der ganze Rattenschwanz an Stigmatisierung, (Re-)Traumatisierung, gesellschaftlichem Ausschluss und ökonomischem Abstieg ist da deutlich wesentlicher und bedürfte umfassenderer gesellschaftlicher Maßnahmen als schlicht Zwangsbehandlungen zu erleichtern.

      • @Ein wenig Vernunft, bitte!:

        ...Es ist aber auch zynisch, Menschen mit psychischen Erkrankungen die Bildung eines eigenen und legitimen Willens, auch des Willens zur Nichtbehandlung, umfassend abzusprechen. Falls Sie, wie Ihre Einlassungen implizieren, selbst schon Efahrungen in Psychiatrien gesammelt haben, hatten Sie vielleicht das große Glück, dort immer eine zugewandte, wertschätzende und nach Ihren Bedürfnissen ausgerichtete Therapie zu erhalten. Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen machen diese Erfahrung nicht bzw. nicht nur. Einmal in die Psychiatrie eingeliefert werden Betroffenen sehr schnell sämtliche "Leiden" unterstellt und selbst banale Verhaltensweisen oder bloßer Widerwille gegen irgendwelche Anweisungen des Personals als Krankheitssymptome/ Wahnhaftigkeit ausgelegt. Unter diesen Umständen Zwangsmaßnahmen von einem "Recht bauf Zwangsbehandlung" zu sprechen, ist durchaus kritikwürdig. Auch wenn grundsätzlich nachvollziehbar ist, worauf Sie hinaus wollen und Zwangsbehandlungen sicherlich bei einigen PatientInnen ihre Berechtigung haben. Sie sollten die absolute Ausnahme sein und sehr hohen Hürden unterliegen. Alles andere öffnet dem Missbrauch Tür und Tor.

  • Nach der Theorie kommt die Praxis. So muss sich auch jedes Gesetz und jede Gesetzesänderung in der Praxis beweisen. Erst danach kann man sagen, wie das 'Neue' wirkt. Zwangsmaßnahmen ohne Zwangseinweisung, da passt aber vielleicht nicht alles zusammen und mir fallen drei Punkte zum Urteil ein:

    (i) Mir fehlt vielleicht die Fantasie, aber die Fixierung einer alleinstehenden Person im heimischen Bett stelle ich mir extrem schwierig vor. Wer garantiert da die vorgeschriebene permanente Aufsicht?

    (ii) Der Betreuungsaufwand für kontrollierte Medikamenteneinnahme im privaten Lebensumfeld ist enorm und kann für PatientInnen enorm einschränkend sein, da sie auf die unregelmäßige Medikamentenausgabe teils stundenlang warten müssen.

    (iii) Schon lange fehlen in den Bereichen medizinische Versorgung, Pflege und Betreuung Fachkräfte und daran wird sich nichts schnell ändern lassen. Mehr Personal wird aber nötig, wenn Zwangsmaßnahmen in Zukunft dezentral durchzuführen sind.

    • @Stoersender:

      Ein schöner, ruhiger Kommentar,der wichtige Punkt anspricht und Fragen stellt und dabei ohne Dämonisierungen auskommt. Das ist bei diesen Thema leider selten der Fall.