Zurückweisungen an der Grenze: „Bruch des europäischen Rechts“
Der Grünen-Vize Sven Giegold hat gegen das deutsche Vorgehen Beschwerde bei der EU-Kommission eingelegt. Die guckte zuletzt allerdings eher weg.

„Nach meiner Erinnerung hat noch nie eine neue Regierung eines großen Mitgliedslands mit der quasi ersten Amtshandlung den Bruch des europäischen Rechts in Kauf genommen“, schreibt Giegold an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Als Staatssekretär sei er selbst bis November 2024 dafür verantwortlich gewesen, dass die Bundesrepublik das Europarecht einhält. Das für alle Mitgliedsstaaten zu überwachen, sei Aufgabe der EU-Kommission. Deutschland gefährde mit seinem Handeln nun „die Grundlagen der Europäischen Union“.
Denn, so Giegold: Die EU beruhe darauf, dass Europarecht Vorrang vor nationalem Recht hat. Und laut Europarecht ist für den Asylantrag eines Menschen zwar das Land zuständig, in dem dieser die EU zuerst betreten hat. Also in der Regel nicht Deutschland, das von anderen EU-Staaten umgeben ist. Deutschland muss demnach aber erst mal prüfen, welcher Staat zuständig ist – und kann Asylsuchende entsprechend nicht einfach abweisen. Das ist nur nach nationalem Recht möglich, das aber eigentlich vom Europarecht überlagert wird.
Zahl der Asylanträge sinkt sowieso
Grüne und Linke sowie zahlreiche Asylrechtsexpert*innen kritisieren die pauschalen Zurückweisungen – Ausnahmen gibt es nur für Schwangere, Minderjährige und andere besonders vulnerable Gruppen – als europarechtswidrig. Nach Auffassung des Innenministers kann Deutschland sich jedoch auf Artikel 72 des EU-Rechts berufen. Nach dieser Klausel kann von EU-Recht abgewichen werden, sofern es die öffentliche Sicherheit erfordert.
„Eine Notlage wurde weder angezeigt, noch ist sie gegeben“, sagte der taz hingegen der Grüne Sven Giegold. „Die Zahl der Asylanträge in Deutschland sinkt.“ Er verweist zudem auf das sehr restriktive und von den Grünen mit beschlossene „Gemeinsame Europäische Asylsystem“ (GEAS), das so neu sei, dass über dessen Wirksamkeit noch gar nicht bekannt sei.
„Es hat immer ein Geschmäckle, wenn ein deutscher Kanzler von einer deutschen Kommissionspräsidentin kontrolliert wird, die zudem in der selben Partei ist“, sagte Giegold der taz. „Ich erwarte, dass Ursula von der Leyen unparteiisch über die Einhaltung europäischen Rechts wacht. Das wird hier in Brüssel auch sehr genau beobachtet.“
Dass die Kommission einschreitet, ist allerdings unwahrscheinlich. Im Asylrecht hat sie in den vergangenen Jahren häufig nicht sehr verhement auf die Einhaltung europäischen Rechts gepocht. Ein Beispiel dafür sind die inzwischen teils seit Jahren andauernden Grenzkontrollen Deutschlands zu seinen Nachbarstaaten – erlaubt sind im Schengenraum eigentlich maximal sechs Monate.
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