Zum internationalen Welttoilettentag: Ein Recht auf Pinkeln
Klohäuser in Slums sind für Frauen oft gefährliche Orte. In Indien setzt sich eine Frauenbewegung für mehr Toiletten ein und bricht Tabus.
L idia Mwikali hatte in ihrem Leben noch nie eine Toilette zu Hause. Sie musste immer öffentliche Klos benutzen. Ein Haus mit eigenem Sanitärbereich ist ihr großer Wunsch, aber sie fürchtet, dass es immer ein Traum bleiben wird.
Die 32-Jährige lebt in Mathare, einem Armenviertel der kenianischen Hauptstadt Nairobi, in dem rund eine halbe Million Menschen wohnt. Bei Sonnenschein sieht es genauso armselig aus wie im Regen. Kriminelle, aber auch die schießwütige Polizei sorgen für große Angst.
Mwikali lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in einem gemieteten Zimmer von 6 Quadratmetern. Ihr Wohnquartier heißt B4, ein Labyrinth von Bruchbuden aus Stein oder Lehm und Holz, bedeckt mit Wellblech. Im Zimmer steht das Ehebett. Die beiden Jungs teilen sich daneben einen Schlafplatz. Es gibt noch eine Ecke zum Kochen, mehr Platz ist in dem Zimmer nicht.
Mwikalis Mann hat nur ab und zu Arbeit, seit der Coronapandemie noch seltener als sonst. Sie selbst ist ausgebildete Sekretärin. „Aber wer heuert eine Sekretärin an, die in Mathare lebt?“, merkt sie zynisch an. Die öffentliche Toilette, die sie normalerweise benutzt, ist 5 Minuten Fußweg entfernt. Es sind zwei Toiletten und zwei Duschen, wofür sie täglich umgerechnet 5 Eurocent zahlen muss, damit die ganze Familie sie benutzen kann. Das macht 1,50 Euro im Monat – viel Geld bei einem Monatseinkommen von 50 Euro, wovon 30 für Miete draufgehen.
Die privat betriebenen Toiletten und Duschen sind kostenpflichtig, dafür wird das Klo täglich gereinigt – theoretisch. „Wie man sieht und riecht, geschieht das nicht jeden Tag. Aber es ist besser als nichts“, meint Mwikali. „Schlimmer ist es, wenn ich wirklich dringend muss, und es steht eine Warteschlange vor beiden Türen.“
Empfohlener externer Inhalt
In Mathare haben zwar auch Hilfswerke und Kirchen Toiletten gebaut, aber es ist auch Big Business geworden für private Unternehmer. In einer mehrere Jahre alten Studie hat die US-Professorin Samantha Winter berechnet, dass in den verschiedenen Teilen des Slums 17 bis 232 Menschen auf eine einzige Toilette angewiesen sind. Drei Viertel der Frauen nehmen auch mal einen Eimer oder Plastiktüten, die dann irgendwo draußen ausgeleert werden.
Wenn das Klo nur tagsüber sicher ist
Mwikalis Familie benutzt, wie die anderen hier, das Klo nur tagsüber, wenn es hell ist. Seit April herrscht nächtliche Ausgangssperre wegen der Coronapandemie. „Aber selbst wenn es keine Ausgangssperre gibt, gehe ich nicht im Dunkeln dorthin. Es gibt hier kaum Licht, und das ist die Zeit, in der Kriminelle und Polizisten aktiv werden. Ich könnte sogar vergewaltigt werden. Das Risiko gehe ich nicht ein.“
Der Weg zu ihrer Wohnung führt über große Steine, glitschigen Schlamm und enge Durchgänge. An einer Stelle mit guter Aussicht sieht man, dass der Slum in einem Tal entlang des Mathare-Flusses liegt. Mathare entstand nach dem Zweiten Weltkrieg als Wohnviertel der schwarzen Arbeiter weißer Siedler in Nairobi, die nachts nicht in der Stadt bleiben durften.
„Das Schlimmste ist, wenn einer von uns mal wieder Durchfall hat“, erzählt Mwikali. „Tagsüber gelingt es, auf die Toilette zu gehen, aber nachts müssen wir dann den Eimer benutzen.“ Dafür ist im Haushalt ein blauer Eimer mit Deckel reserviert. „Es stinkt dann trotz Deckel unerträglich im Haus. Ich stehe dann früh auf und gehe mit dem Eimer beim ersten Tageslicht zum Fluss hinunter, um ihn auszuleeren.“
Laut WHO haben etwa 70 Prozent der Kenianer:innen keinen Zugang zu akzeptablen Sanitäranlagen. Vor allem Menschen in Armenvierteln und ländlichen Gebieten benutzen Latrinen, Eimer, Plastiktüten oder gehen in den Busch. Das verursacht Krankheiten: Kenia zählt jährlich 100.000 Fälle von Typhus, mehr als 1.200 sterben daran.
Doch auch in Metropolen ist die Versorgungslage oft schlecht: In Mumbai kommen im Schnitt 75 bis 100 Personen auf eine Toilette. Rund vierzig Prozent der Bevölkerung der Megacity lebt in Slums, dessen Bewohner:innen oft nur Gemeinschaftstoiletten zur Verfügung stehen. Diese sind zwar oft kostenlos, aber in schlechtem Zustand. Das Wasser zum Spülen und Säubern der Hocktoiletten muss selbst mitgenommen werden. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützt den Toilettenbau unter anderem mit einem Projekt im südindischen Andhra Pradesh.
In ganz Kenia haben nach UN-Angaben etwa 70 Prozent der rund 50 Millionen Einwohner keinen Zugang zu akzeptablen Sanitäreinrichtungen. Aber der Mathare-Fluss ist dafür berüchtigt, dass er vollkommen verschmutzt und verstopft ist. Es ist ein Nebenfluss des größeren Nairobi-Flusses, der ebenfalls stark verdreckt ist. Versuche, die Flüsse zu säubern, scheitern immer wieder am Geldmangel der Regierung, wie etwa voriges Jahr, als 14 Kinder- und Babyleichen im Wasser gefunden wurden. Der Fluss ist eine Müllkippe, auch für Schlachtabfälle. Keiner wundert sich darüber, dass in Mathare Durchfall, Typhus und Cholera grassieren.
Warum zieht Mwikali nicht weg? „Ich bin hier geboren, meine Eltern lebten hier, es ist mein Zuhause“, sagt sie. „Wir könnten aufs Land ziehen, aber welche Arbeit ist da für uns ohne Landbesitz? Und am schlimmsten finde ich, dass der Unterricht dort schlechter ist als hier in Mathare. Ich glaube, die Schule ist für meine Kinder der Weg in ein besseres Leben. In ein Haus mit Toilette.“
Aktionen für mehr Frauentoiletten in Indien
In Indien hat sich eine Bürger:innenbewegung das Ziel gesetzt, für mehr kostenlose Frauentoiletten zu kämpfen. „Right to Pee“ (RTP, auf Deutsch: „das Recht auf Pinkeln“) ist berüchtigt für ihre Aktionen: Sei es die Ankündigung, vor das Parlament zu urinieren, oder die Inszenierung einer Trauerveranstaltung, begleitet vom Aufstellen von Kerzen vor Waschräumen am Welttoilettentag. Zu den Organisator:innen gehört die 33-jährige Sozialarbeiterin Supriya Sonar, die auch für die NGO Coro arbeitet und seit neun Jahren bei RTP aktiv ist.
2014 erreichten die Frauen mit der Drohung, vor dem Parlament zu urinieren, dass sie an den Verhandlungstisch mit der Stadt kamen. Seitdem weiß Sonar: „Wir müssen sie in Verlegenheit bringen.“
Gefördert durch das European Journalism Centre (EJC) mit Unterstützung der Bill & Melinda Gates Foundation folgt die taz ein Jahr lang dem Wasser. Fünf taz-Korrespondentinnen recherchieren in Lateinamerika, Westasien, Südasien und in Afrika entlang des Nils. Denn vor allem im Globalen Süden gibt es zu wenig oder kein sauberes Wasser. Besonders Frauen müssen jeden Liter über weite Strecken nach Hause tragen. Der Zugang zu Wasser wird mit der Klimakrise verschärft. Immer öfter wird Wasser privatisiert oder steht im Konflikt mit Großprojekten, die Fortschritt bringen sollen. Mehr unter taz.de/wasser
Lange Zeit lag Indien im internationalen Vergleich weit zurück, was die Versorgung mit Toiletten anging. In dem Land gebe es mehr Tempel als Toiletten, hieß es lange. 2012 forderte ein Minister, dass es eben mehr Toiletten als Tempel brauche, und löste damit eine Kontroverse aus. 2014 machte die Regierung den verstärkten Toilettenbau dann zum Ziel der landesweiten Kampagne „Sauberes Indien“. Sie dauerte bis 2019 und gilt als größtes Sanitärprogramm der Welt. Nach Regierungsangaben wurde so der Bau von 107 Millionen Toiletten gefördert. Dass alle einen Wasseranschluss haben und die auch genutzt werden, bezweifeln Kritiker:innen ebenso wie die Regierungsbehauptung, dass es in Indien keine öffentliche Darmentleerung mehr gebe.
Nach Meinung von Sonar ist es in Mumbai auch heute noch nicht so weit, dass jeder eine Toilette benutzen kann. Denn es genügt nicht, einfach ein Klohaus zu bauen. Die Menschen müssen sich umstellen.
Aus hygienischen Gründen wollten einige Familien lange kein Klo unter ihrem Dach. Aber die Zeiten ändern sich. Ein Bollywoodfilm thematisierte das Tabuthema „Klo im Haus“. Er basiert darauf, dass sich eine Inderin 2017 scheiden ließ, weil ihr Mann ihr keine Toilette einrichten wollte und sie im Freien urinieren musste. Das verdeutlicht, worum es Sonar und ihren Mitstreiter:innen geht: die Teilhabe von Frauen. Denn die fängt schon bei der Toilette an.
Genau daran arbeitet Sonar mit ihrem Team und der Stadtverwaltung. Sie und ihre Mitstreiterinnen sprachen mit vielen Frauen in Ostmumbai, um zu verstehen, was sich ändern muss. In ihrem Projektgebiet M East gab es letztes Jahr für 900.000 Menschen gerade mal 500 Klos. Die Benutzung der einfachen Toilettenanlagen in der Stadt ist zwar umsonst, doch man muss sein eigenes Wasser zum Spülen mitbringen. Pissoirs für Männer gebe es viel mehr als Toiletten für Frauen. „Sauberkeit ist für alle notwendig. Als Frauen brauchen wir vier Wände und Privatsphäre.“
Sonars Team konnte in M East den Bau von 85 weiteren Toiletten vorantreiben. Zudem wurden während des strikten Coronalockdowns in Mumbai sogar die kostenpflichtigen WCs für alle frei zugänglich gemacht. Allerdings nur bis Juni. Es bleibt viel zu tun. Manche Mumbaierinnen, sagt Sonar, geben fast so viel für die Nutzung von Toiletten aus, wie sie am Tag verdienen.
Die Scham auf dem Weg zum Klohaus
Büroleiterin Rashmi, die in einer informellen Siedlung in Mumbais Vorort Santa Cruz East lebt, musste bis zu ihrem 25. Lebensjahr die kostenlosen gelben Gemeinschaftsklos nutzen, die meist nicht sehr sauber sind. „Es war jedes Mal beschämend, mit dem Eimer Spülwasser in der Hand zum Klohaus zu laufen“, erinnert sie sich. Dann baute bei ihr im Wohnblock ein Stadtratsmitglied eine neue Anlage. Die kostet sie umgerechnet 50 Cent im Monat. Für sie als Angestellte ist das günstig.
Aber wenn Rashmi in Mumbai unterwegs ist, hat sie erneut ein Toilettenproblem. „Obwohl wir Frauen gleichgestellt sind, gibt es in der Stadt einfach zu wenige öffentliche Toiletten für uns. Manchmal ist es schwierig, eine zu finden, vor allem wenn es sauber sein soll“, sagt die 31-Jährige. Deshalb unterstützt sie die Idee von Right to Pee.
Zum diesjährigen Welttoilettentag veröffentlicht die Gruppe ein Toilettenmanifest und fordert saubere und zugängliche Toiletten mit Wasser und Strom, in deren Gestaltung gewerkschaftliche Organisationen und Frauen eingebunden werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau