Zukunft des ukrainischen Fußballs: Fußball auf der Flucht
Soll die ukrainische Fußballmeisterschaft ab September im Ausland ausgespielt werden? Nicht alle im Land halten das für eine gute Idee.
Wegen der Kampfhandlungen sind zwei Klubs der ersten Liga erst mal komplett verschwunden, Desna Tschernihiw und FK Mariupol. Der Fortbestand von Sorja Luhansk, das sich für die Europa League qualifiziert hat, ist fraglich. Seit 2014 trägt der Klub seine Spiele in Saporischschja aus – einer Stadt, die heute direkt an der Front liegt.
Die Profis haben seit Kriegsausbruch keine Gehälter mehr erhalten – viele sind zur Armee gegangen, andere fanden eine Beschäftigung im Ausland. In den unteren Ligen haben etliche Klubs gar keine Spieler mehr. Viele Profiklubs waren zu Kriegsbeginn in Trainingslagern im Ausland, um sich auf die Wiederaufnahme der Saison nach der Winterpause vorzubereiten.
Die zweite Liga sollte im März starten und viele Klubs trainierten am 24. Februar noch in der Türkei. Direkt vom Hotel wechselten die Spieler in die unteren Ligen von Polen, der Slowakei oder Deutschland. Einige landeten an eher exotischen Fußballstandorten wie Island oder den Färöer-Inseln. Für ein paar Hundert Euro im Monat schlossen sie sich kleinen Vereinen an. Rund 200 ukrainische Fußballer sind ins Ausland gegangen. Allein in Polen spielen derzeit mehr als 150 Ukrainer. Dabei geht es nicht allein um Sport. Junge und gesunde Männer sind vor dem Krieg geflohen.
Spielbetrieb mitten im Krieg?
Doch nun soll der ukrainische Fußball wiederbelebt werden. Am Freitag treffen sich die Chefs der Erstligaklubs, um darüber zu entscheiden, wann und wo die nächste Meisterschaft stattfinden soll. Der Minister für Jugend und Sport, Wadim Gutzeit, sagte, dass definitiv eine Meisterschaft gespielt werde – in der Ukraine oder im Ausland. Derweil kündigte Verteidigungsminister Oleksij Resnikow an, dass die Ukraine in eine neue Phase des Krieges eintrete und „uns harte Wochen bevorstehen“.
Wahrscheinlich also wird beschlossen, die Hinrunde von September bis Oktober im Ausland zu spielen – in der Türkei oder in Polen. Die Türkei ist für die meisten der 16 Erstligaklubs auch deshalb eine Option, weil es genügend Stadien, Hotels und Trainingsstützpunkte gibt. Schon jetzt kommen ukrainische Klubs, die Geld haben, im Winter für mehrere Monate in die Türkei, um zu trainieren. In Polen könnte man dagegen vor Fans spielen – mittlerweile leben dort mehr als vier Millionen Ukrainer. Doch angesichts der Vielzahl von Vereinen und Ligen in Polen wird es schwierig, geeignete Stadien zu finden.
Moralische und finanzielle Bedenken
Doch wer soll den Ligabetrieb organisieren? Seit April 2019 hat die Liga keinen Chef, und der Präsident des Ukrainischen Fußballverbandes reist in diesen Wochen zu PR-Zwecken durchs Land, um für seine Wiederwahl zu werben, statt sich mit der Frage zu befassen, woher das Geld für den Umzug kommen soll. Einige Klubs schlagen vor, die Einnahmen von Schachtar Donezk in der Champions League in einen Fonds einzubringen, aus dem der Spielbetreib finanziert werden könnte. Allein für die Teilnahme an der Gruppenphase kassiert Donezk mehr als 15 Millionen Euro.
Doch da ist noch eine andere Frage: Fußballer, Klubmitarbeiter, Fernsehleute, Schiedsrichter und Funktionäre – wie können all diese Männer überhaupt ein Land verlassen, in dem das Kriegsrecht und die allgemeine Mobilisierung verlängert wurde? Auch die Uefa muss den Plänen erst noch zustimmen. Deren Regeln besagen, dass nationale Verbände ihre Wettbewerbe auf ihrem Staatsgebiet durchführen müssen.
Während Vereine und Verbände alle denkbaren Optionen erörtern, gibt es auch andere Stimmen: Eine Stabilisierung der Lage an der Front liegt noch in weiter Ferne, der Spielbetrieb im Ausland wäre teuer und moralisch unvertretbar. Sollte man da nicht einfach eine Pause einlegen und nur in den europäischen Wettbewerben und mit der Nationalmannschaft spielen? Bei Kriegen in Europa wurden nationale Wettbewerbe früher ja auch ausgesetzt.
„Lasst uns Russland besiegen und dann die offiziellen Fußballwettkämpfe wieder aufnehmen“, schlägt Nikolai Nesenok, Journalist und einer der Manager von Dynamo Kiew vor. Wenn die Uefa eine Meisterschaft im Ausland erlauben würde, wie würde das für die Athleten anderer Sportarten und für die Bürger der Ukraine aussehen, die jetzt das Land nicht verlassen dürfen?
Und außerdem: Wie erklärte man, dass aus einem Land im Krieg, das andere Länder um Hilfe und Unterstützung bittet, plötzlich Tausende Menschen ausreisen, sich in Hotels einquartieren, Trainingsplätze und Stadien mieten und Spiele ohne Zuschauer gegeneinander austragen, was natürlich ja auch wieder jede Menge Geld kostet? „Warum? Wofür? Für die Europacupspiele, die auch im Ausland ausgetragen werden?“, fragt sich Nesenok.
Aus dem Russischen von Barbara Oertel und Gaby Coldewey
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin