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Zonen für paranationalen KapitalismusFragwürdige Fluchtfantasien

Freiheit ohne Staaten: Der kanadische Historiker Quinn Slobodian geht im Buch „Kapitalismus ohne Demokratie“ den marktradikalen Utopien auf den Grund.

Den Preis für die Träume der Marktradikalen zahlen vor allem Gastarbeiter: Hoch über Hongkong Foto: Gerhard Joren/LightRocket/Getty Images

Vielleicht haben Sie schon mal von heutigen libertären Fantasien gehört, auf der Hochsee oder in den Tiefen des Weltalls neue Mikrostaaten zu gründen, in denen das „freie Spiel“ der Markt- und Kapitalkräfte nicht durch die „harte Hand“ eines demokratischen Wahlvolks an die Kette gelegt wird? Überraschen wird Sie womöglich trotzdem, dass es diese Fantasien – und die dazugehörigen Real-Utopien – im modernen Kapitalismus immer schon gegeben hat.

Das Buch

Quinn Slobodian:„Kapitalismus ohne ­Demokratie. Wie Markt­radikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steuer­oasen zerlegen wollen“. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp, Berlin 2023, 427 S., 32 Euro

Der kanadische Historiker Quinn Slobodian hat ihnen unter dem Titel „Kapitalismus ohne Demokratie“ ein hervorragendes Buch gewidmet. Im Vorgänger „Globalisten“ von 2019 untersuchte Slobodian marktradikale Strategien beim Aufbau transnationaler Institutionen, nun geht es um paranationale Nationen oder „Zonen“.

Als Muster seiner Art galt hier lange Hongkong. Aus seinem Zwitterstatus als letzte britische Kolonie und (künftig) teilsouveräne „Sonderverwaltungszone“ wurde die winzige Halbinsel dank geringer Steuern, Zölle und Regulierungen sowie fehlender demokratischer Kontrolle im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte zu einer der bedeutendsten Industrie- und Finanzstätten der Welt.

Libertäre Vordenker

Doch die Begeisterung libertärer Vordenker wie Milton Friedman für Hongkong als „der letzte wirklich kapitalistische Ort auf der Erde“ ließ sich etwas schmälern durch den Verweis auf stetig steigende Staatsausgaben für Sozialwohnungen oder medizinische Versorgung einer riesigen Zahl an Gastarbeitern. Hier zeigt sich ein von Slobodian herausgearbeiteter Widerspruch der neoliberalen Ideologie: dass ihre Antistaatsrhetorik gewöhnlich übersieht – oder bewusst verschweigt –, dass marktradikale Visionen zu ihrer Durchsetzung in der Regel sehr wohl staatlicher Interventionen bedürfen.

Besonders deutlich wird das an anderen libertären Vorzeige-Stadtstaaten wie Singapur oder Dubai, deren Rolle als außerwestliche Enklaven des Kapitalismus durchaus einem „großen staatlichen Plan“ entsprang, den/die man auch als „liberalen Autoritarismus“ beschreiben kann, oder als „wirtschaftliche Freiheit ohne politische Freiheit“.

Während auch China schon vor der Rückgabe Hongkongs 1997 zahlreiche Kopien der kapitalistischen Insel im Kommunismus als „Sonderwirtschaftszonen“ aufzubauen versuchte, wurden auch im Westen „mobile“ „Miniatur-Hongkongs“ geschaffen – inzwischen gibt es weltweit mehr als 5.400 solcher „Zonen“.

Eine der bekanntesten ist das wie eine Sonderwirtschaftszone innerhalb einer europäischen Hauptstadt funktionierende Finanzmekka der City of London, einem „Vatikan des Kapitalismus“, sowie ihre Geschwister in den Londoner Docklands. Vermeintlich altehrwürdig wie die City ist auch das Fürstentum Liechtenstein, das als größter „Safe“ der Welt einer der Erfinder der Steueroase war.

„Crack-up-Kapitalismus“

Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat dann seit den 1990er Jahren einen unerwarteten Boom neuer Staatsgründungen und die Aufwertung bestehender Zwergstaaten hervorgebracht, die von Libertären und Vertretern eines „Crack-up-Kapitalismus“, der alte, größere Länder in neue, kleinere „aufbrechen“ will, um sie als Experimentierfeld zu nutzen, euphorisch begrüßt wurde.

Slobodian folgt diesen „anarchokapitalistischen“ Reallaboren vor und nach 1990 von Südafrika über Somalia bis Honduras, von Gated Communities (als „globale Apartheid“) über souveräne Unternehmen („Sovcorps“) und Seasteads (als „juristische Mobile Homes“) bis hin zu „Start-up-Städten“ eines Silicon-Valley-Kolonialismus zu Land, Wasser, im Weltraum wie im Metaversum.

Indem sie/ihre Akteure wie etwa die Friedman-Nachkommen David und Patri Teile des 19. Jahrhunderts oder gar des Mittelalters in die Gegenwart importieren wollen, machen sie deutlich, dass „der Übergang vom Zeitalter der Imperien zum Zeitalter der Nationen keine Einbahnstraße“ war – wenn er überhaupt je konsequent beschritten wurde.

Staaten gehören den Reichen

Slobodian widmet den düsteren Experimenten wie ihren zynischen Visionären ein beeindruckend akribisch recherchiertes und dabei erfreulich pointiert geschriebenes Buch, das wir als Warnung vor einer (bereits gegenwärtigen) Zukunft verstehen müssen, in der Staaten als Unternehmen auch rechtlich nicht mehr dem Staatsvolk als Ganzem gehören, sondern allenfalls noch seinen reichsten Vertretern.

Man darf sich von den libertären Fluchtfantasien nicht täuschen lassen. Am Ende weiß auch jemand wie Peter Thiel – Paypal- und Palantir-Gründer sowie Seastead-Unterstützer –, dass eines noch besser ist, als „mühsam einen neuen Staat zu errichten“: nämlich „den existierenden Staat zu übernehmen“.

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