Zensur in Russland: Der Krieg um die Köpfe
Unabhängiger russischer Journalismus kann auch im Krieg nicht begraben werden. Wird ihm ein Kopf abgeschlagen, entsteht wie bei einer Hydra ein neuer.
Seit Beginn des Krieges zwischen Russland und der Ukraine haben die russischen Zensurbehörden mehr als 40 Redaktionen geschlossen oder zur Schließung gezwungen. Das reicht von großen landesweiten Medien wie Nowaja Gaseta, Meduza oder Echo Moskwy über kleine wie iStories und Holod bis hin zu unabhängigen Regionalmedien wie 7x7 oder dem Studentenmagazin DOXA.
Websites werden blockiert, Russlands ältester unabhängiger Radiosender Echo Moskwy wurde vom Netz genommen. iStories wurde zur „unerwünschten Organisation“ erklärt, was anders als das Etikett „ausländischer Agent“ strafrechtliche Verfolgung heißen kann. Der Nowaja Gaseta wurde zu verstehen gegeben, dass die weitere Berichterstattung zum Lizenzentzug führen werde.
Am neunten Tag des Krieges führte Präsident Wladimir Putin neben Gesetzen zur Militärzensur auch zwei neue Vergehen ein: „Diskreditierung der Handlungen der russischen Streitkräfte“ und „Aufruf zu Sanktionen gegen Russland“.
Auch gibt es den neuen Straftatbestand „Öffentliche Verbreitung falscher Informationen über die Aktivitäten der russischen Streitkräfte“. Am 5. April kam ein Verbot der Verbreitung von „Fake News“ über Aktivitäten russischer staatlicher Stellen im Ausland hinzu.
Der 3. Mai wurde 1993 von der UN-Vollversammlung zum Welttag der Pressefreiheit erklärt. Die taz panter stiftung hat aus diesem Anlass gemeinsam mit Reporter ohne Grenzen eine Beilage für die taz erstellt. Wir blicken auf die Lage der Presse in Russland und Kuba, in Frankreich und Myanmar, in Afghanistan, im Irak und in der Türkei. Aber wir schauen auch auf den Journalismus in Deutschland in Zeiten von Crowdfunding und Fake News. Und wir fragen Günter Wallraff, warum er sich für den Wikileaks-Gründer Julian Assange einsetzt.
Alle Texte erscheinen online unter taz.de/pressefreiheit
Das Menschenrechtsprojekt OVD-info schätzt, dass seit Beginn der Militärzensur 1.000 Personen unter die neuen Verbote gefallen sind und 30 strafrechtlich verfolgt wurden.
Stille Protestform mit „Preisschildern“ im Supermarkt
Prominentester Fall ist Sasha Skotschilenko, eine 30-jährige Künstlerin und Autorin. Sie hatte sich der in Russland beliebten stillen Protestform angeschlossen, Preisschilder an Supermarktwaren durch Zettel mit Infos über die Opfer der russischen Armee in der Ukraine zu ersetzen. So werden Kunden direkt informiert und auch ältere Bürger, deren einzige Informationsquelle oft das Staatsfernsehen ist.
Skotschilenko drohen bis zu 10 Jahre Haft. „Meine Ankläger bekommen einen mickrigen Bonus, während ich Unsterblichkeit und einzigartige Gefängniserfahrung erhalte, von der ich der Welt in lebhaften Farben berichten kann“, schreibt sie unbeugsam aus dem Gefängnis.
Nachdem die Behörden ihre Offensive gegen die großen unabhängigen Medien geführt und viele Journalisten zur Flucht gezwungen hatten, begann die Verfolgung von Redakteuren kleinerer Medien in der Provinz.
Bericht über Befehlsverweigerung und Ausrüstungsmängel
So wurde der Chefredakteur von Nowij Fokus, Mikhail Afanasjew, aus der sibirischen Republik Chakassien verhaftet. Er hatte über Soldaten geschrieben, die den Einsatz in der Ukraine verweigerten, und soll dabei angeblich über die „unzureichende materielle Unterstützung“ der Armee gelogen haben.
Da die unabhängigen Medien jetzt nicht mehr einfach zugänglich sind, scheint die Fernsehpropaganda des Regimes die Oberhand zu gewinnen. Putin hat in den letzten 22 Jahren die Sender systematisch von unabhängig denkenden Menschen gereinigt. Und die Propaganda hat wohl sogar die Propagandisten selbst überzeugt.
Wie etwa Wladimir Solowjow, Hauptstimme des Kremlfernsehens. 2008 vertrat er noch eher unabhängige Ansichten, was ihn populär machte. Er sagte: „Es wird nie Krieg zwischen Russland und der Ukraine geben. Denn jeder, der ernsthaft eine solche Tat begehen will, ist ein Verbrecher.“ Doch nun widmet Solowjow seine Sendezeit Aufrufen zur Ermordung „ukrainischer Nazis“ und stellt die Existenz einer unabhängigen Ukraine infrage.
Doch die Propaganda verliert angesichts des echten Kriegs ihre Wirkung. Dies zeigt sich etwa daran, dass laut dem Finanzministerium die Mittel für das staatliche Fernsehen im März stark erhöht wurden, als sich die ersten militärischen Niederlagen nicht mehr verbergen ließen.
Alte Zensurmethoden funktionieren nicht mehr
Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stiegen die Ausgaben für die staatlichen Medien von Januar bis März um fast 300 Prozent, für den Militärhaushalt um 11 Prozent. Demnach scheint Russland eher über das Fernsehen einen Krieg um die Köpfe seiner Bürger zu führen als mit dem Militär um die Ukraine.
Alte Zensurmethoden funktionieren im Jahr 2022 nicht mehr. Journalisten sind an die Sperrung von Webseiten gewöhnt und haben sich und das Publikum darauf vorbereitet. Noch Anfang Februar waren in Russland Zoom, Telegram, WhatsApp, TikTok und Instagram die fünf am häufigsten heruntergeladenen Apps. Jetzt sind VPN-Dienste auf den ersten fünf Plätzen. Die Menschen wollen Informationen. Altmodische Verbote können das kaum verhindern.
Laut Natalja Sindejewa vom aufgelösten TV-Sender Dodschd wird ihre Redaktion bald außerhalb des Landes die Arbeit wieder aufnehmen. Der geschlossene Radiosender Echo Moskwy sendet weiter auf Youtube. Die Nowaja Gaseta war durch Druck von Roskomnadsor gezwungen, die Arbeit einzustellen. Zwei Verwarnungen können zum Entzug der Lizenz und einem Druckverbot führen.
Wie mit Blut geschrieben
Das wäre eine Tragödie. Denn in Russland haben Gefangene und ältere Menschen manchmal nur eine einzige Informationsquelle – eine gedruckte Zeitung. Als einzige ist die Nowaja Gaseta unabhängig. Solange es in Russland Gefängnisse gibt, müssen wir eine Zeitung machen, sagen wir oft in der Redaktion.
Bisher sind sechs unserer Mitarbeiter ermordet worden. Vieles ist buchstäblich mit Blut geschrieben. Deshalb fiel es den Veteranen des Blattes natürlich sehr schwer, die Produktion einzustellen.
Eine Warnung von Roskomnadsor kam übrigens kurz nach der Ankündigung von Chefredakteur Dmitrij Muratow, dass er die Medaille seines ihm im Dezember 2021 verliehenen Friedensnobelpreises verkaufen und das Geld ukrainischen Flüchtlingen spenden wolle.
Doch ein Teil des Teams der Nowaja Gaseta schreibt weiter, jetzt für die Novaya Gaseta Europe im Ausland. Wir suchen und finden Wege zur Wiedergeburt.
Der russische Journalismus kann auch in Kriegszeiten nicht begraben werden. Wir sind eine Lernäische Hydra. Wird ein Kopf abgeschlagen, lernen wir, an seiner Stelle einen neuen wachsen zu lassen.
Der Autor ist Nachrichtenchef der Nowaja Gaseta
Dieser Text ist Teil einer Beilage der taz Panter Stiftung und von Reporter ohne Grenzen in der taz vom 3. Mai 2022, dem Internationalen Tag der Pressefreiheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind