Zeit für Selbstreflexion: Kein Antisemit zu sein, ist Arbeit
Den eigenen Rassismus zu hinterfragen, ist normal. Das Eingeständnis, antisemitische Stereotype mit sich rumzutragen, ist dagegen tabuisiert.
Obwohl es auf den Straßen längst nicht mehr sichtbar ist: Auch in Deutschland hat Black Lives Matter seit seiner Hochphase 2020 die Gesellschaft nachhaltig geprägt. Menschen wurde bewusst, dass Rassismus nicht erst dort beginnt, wo Nazis prügeln, sondern tief eingeschrieben ist in die Handlungen jedes Einzelnen im Alltag.
Bis weit ins rechtsextreme Lager lehnen Menschen für sich die Bezeichnung „Rassist*in“ ab. Aber seit 2020 bemerken viele, dass diese Abwehr nicht produktiv ist. In einer Gesellschaft, die im Kern auf der rassistischen Ungleichheit der Menschen beruht, sind alle Teile dieser Gesellschaft rassistisch. In weiten Kreisen der Linken gehört es zum guten Ton, das einzugestehen: unbewusst rassistisch zu handeln und gerade darum aktiv gegen Rassismus arbeiten zu müssen.
Einen solchen Turn hat es beim Antisemitismus nie gegeben. Warum eigentlich nicht? Selbst Menschen, die bei sich rassistische Muster entdecken und reflektieren, würden nie offen sagen, dass sie auch antisemitische Impulse haben. Während eine folkloristische Tiermaske auf einer Chipstüte der Sorte „Afrika“ klar als kolonial-rassistische Bildsprache erkannt und sanktioniert ist, scheint das Interesse an antijüdischer Bildsprache erst zu greifen, wo in sprichwörtlicher Stürmer-Manier Hakennasen und Raffzähne sichtbar sind, also Jüd*innen tatsächlich rassistisch angegriffen werden.
Tief in der Gesellschaft eingeschrieben
Dabei ist Antisemitismus – in seinen religiösen, rassistischen, politischen Varianten – der Gesellschaft vermutlich sogar tiefer eingeschrieben, bedenkt man, dass einzelne Regionen in Deutschland schon im 12., 13. Jahrhundert „judenfrei“ pogromiert wurden, ehe Konstrukte wie „Rasse“ überhaupt denkbar waren.
Das Christentum, das die westlichen Gesellschaften prägt und über koloniale Zusammenhänge auch andere Regionen, verwendet wahnsinnig viel theologische Arbeit darauf, das Judentum abzuwerten. Beim Vordenker Paulus, selbst zunächst Jude, geht es los mit den Ressentiments, bald mussten sich bekehrte Römer*innen kompliziert in den Bund Israels mit Gott hineinschreiben. Das ging am besten, indem dieser – theologisch begründet mit einem jüdisch geborenen Kronzeugen und einem jüdisch geborenen Messias – als überholt betrachtet wurde. Dass dabei reale Jüd*innen störten, als stetige, lebende Mahnung, liegt auf der Hand.
Feindschaft gegen Jüd*innen beginnt nicht in Auschwitz, nicht einmal bei Luther und der berüchtigten „Judensau“. Die Figuren von Ochs und Esel in der traditionellen Weihnachtskrippe repräsentieren in der christlichen Bildsprache etwa das jüdische Volk – zu stumpf, den Sohn Gottes in seiner Mitte zu erkennen. Die Ikonografie des Antisemitismus ist kompliziert.
Rechte, für die Antisemitismus zentraler Bestandteil ihrer Ideologie ist, unterstützen Juden immer nur dann, wenn die sich gegen muslimische Menschen in Stellung bringen. Aber auch linkes Denken ist bekanntlich antisemitisch grundiert. Globalisierungs- und Kapitalismuskritik, Elitenkritik und die damit verbundene Medienkritik tun sich schwer, antisemitische Topoi nicht zu wiederholen: Thesen von geheimen Mächten, die das Denken steuern und selbst über dem Gesetz stehen oder dem nichtproduktiven Kapital, das der ehrlichen Arbeit entgegengesetzt ist, begründen den sozialen Ausschluss von Jüd*innen seit Jahrhunderten und werden auch, allen Updates zum Trotz, heute noch mit jüdisch gelesenen Menschen assoziiert.
Antisemitismus wird als Kollateralschaden hingenommen
Der Kapitalismus ist zerstörerisch. Aber eben auch der Antisemitismus, der als Kollateralschaden der berechtigten Kritik an den ökonomischen Verhältnissen oft hingenommen wird.
Statt neue Narrationen linker Kritik zu finden, fließt Energie in die Abwehr eines Eingeständnisses, wie tief der Antisemitismus das Denken postmonotheistischer Gesellschaften durchzieht. Statt die eigentlich selbstverständlichen Hausaufgaben zu machen, durch Selbstreflexion und Aufklärungsarbeit ein mörderisches Diskriminierungsmuster auszulöschen, diskutieren Linke in Deutschland seit Wochen über Detailfragen der Kritik am Staat Israel. Denn bei aller Skepsis gegenüber der mittlerweile wieder abgeblasenen Berliner Antidiskriminierungklausel: Man hätte sie auch, zumindest im Nebeneffekt, zum Anlass nehmen können, sich zu hinterfragen, warum eine anerkannte Antisemitismusdefinition die eigene Position als antisemitisch einstuft, statt diese Einordnung zu skandalisieren und das auch noch mit der Erzählung einer einflussreichen zionistischen Lobby. Es scheint ein größeres Interesse daran zu geben zu verhindern, antisemitisch genannt zu werden, statt an einer Kritik zu arbeiten, in der israelische Politik und Geschichte nicht antisemitisch interpretiert wird.
Dabei ist israelbezogener Antisemitismus in linken und migrantischen Bubbles zwar ein sehr lautes Problem, aber noch das am besten überschaubare – angesichts der Normalität der „Johannespassion“ zu Karfreitag oder dem Gewese um das gute „Bio“ gegen den bösen „Agrarkonzern“ oder der Überzeugung, „die da oben“ würden „uns“ was vormachen in der Mitte der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, in der es eben Arbeit bedeutet, nicht antisemitisch zu sein. In der Antisemitismus die Standardeinstellung ist, nicht die Ausnahme.
Antisemit zu sein, ist nach dem Holocaust ein globales Tabu. Niemand außer Rechtsextreme will sich so bezeichnen. Was erst mal richtig erscheint. Doch die Abwehrmechanismen gegen eine Analyse sind obskur: von der Bedeutungserweiterung des „Semitischen“ auf arabische Communitys bis zu einem Antizionismus, dessen „Zionismus“ verdächtig undefiniert bleibt. Solange dieses Tabu dazu führt, dass unangenehme Fragen ans Selbst nicht gestellt werden, verlängert es die lange Geschichte einer elenden Weltsicht.
Letztendlich erzählt es aber auch, wie unterschiedlich die Betroffenen von Rassismus und Antisemitismus imaginiert werden: Das Zugeständnis, rassistisch zu denken, fällt auch deshalb leicht, weil man vor Rassismusbetroffenen keine Angst zu haben glaubt – „die“ sollen schließlich dankbar sein, dass „wir“ uns um sie kümmern. Während Jüd*innen noch immer als das unsichtbare Andere im Eigenen verstanden werden, etwas Verdrängtes, Bedrohliches, mit einer Macht, gegen die man sich nicht zu wehren versteht. Das schlechte Gewissen der frühen Christ*innen, es wirkt bis heute nach.
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