Zaghafte Ernährungspolitik: Özdemirs Schonkost
Cem Özdemir „diskriminiert Fleisch und Milch“ nur vorsichtig. Seine Ernährungspolitik muss jetzt ihren Namen verdienen, auch gegen eine starke Lobby.
F ast geräuschlos und stets vorsichtig speist Landwirtschafts- und Ernährungsminister Cem Özdemir (Grüne) seine politischen Initiativen in die Ernährungsdebatte ein. Das „Containern“, also das Zurückholen und Verwerten weggeworfener Lebensmittel aus dem großen Müllhaufen des Handels, will er straffrei stellen. Die Polizei solle sich doch lieber um richtige Verbrecher*innen kümmern, meint der Minister.
Und wenig später, nachdem Spanien die Mehrwertsteuer auf alle Grundnahrungsmittel gekappt hat, erneuert Özdemir die Forderung, künftig Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte von der Steuer zu befreien. Der Vorstoß passt perfekt zu den gestiegenen Lebensmittelpreisen und zur allgemeinen Inflationsjeremiade.
Der zweite Teil der Botschaft fehlt allerdings: Wenn Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte billiger werden, sollten sich im Gegenzug Fleisch und Milchprodukte verteuern. Im aktuellen Krisentaumel gibt es allerdings mit Ausnahme der Veggie-Hardcore-Initiativen niemanden, der es wagen würde, solche Preisaufschläge auch nur zu thematisieren. Billigfleisch ist gerade jetzt sakrosankt, auch für die Grünen.
Mit seiner Container-Initiative hat der Minister dagegen kaum Widerspruch zu befürchten. Es besteht Einigkeit, dass zu viele Lebensmittel weggeworfen werden. Lebensmittelretter, die in die Container krabbeln, mögen zwar schlecht riechen, haben aber die Sympathien der Gesellschaft auf ihrer Seite. Zumal der allgemeine Irrsinn, Lebensmittel mit angestoßenen Verpackungen, kritischem Haltbarkeitsdatum oder kleinen optischen Schönheitsfehlern zu vernichten, auch bei denen für Kopfschütteln sorgt, die selbst natürlich nur makellose Ware kaufen.
Taube Ohren beim Bauernverband
Mülltaucher werden immer wieder kriminalisiert. Diebstahl, Bandendiebstahl, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruch, Einbruch – die Liste ist lang. Versuche, die weggeworfenen Lebensmittel mithilfe der juristischen Vokabel „Eigentumsaufgabe“ als „herrenlos“ zu deklarieren, sind oft vergeblich. Höchste Zeit also, das Containern zu legalisieren und Kooperationen zwischen Handel und Mülltauchern, wie es sie in einigen Städten schon gibt, zu forcieren.
Die Forderung nach einer stärker pflanzenbasierten Nahrung und einer Mehrwertsteuer-Absenkung für Obst und Gemüse dagegen hat reflexartig die Sprechautomaten des Bauernverbands und der Ernährungsindustrie aktiviert. Schon bei der Verabschiedung der Eckpunkte einer eher harmlosen und sehr allgemein formulierten „neuen Ernährungsstrategie für Deutschland“ aus dem Özdemir-Ministerium gifteten die üblichen Verdächtigen.
Der Bauernverband warnte vor einer „Diskriminierung von Fleisch und Milch“ – und keiner hat gelacht. Der Koalitionspartner FDP meinte einen erhobenen grünen Zeigefinger zu erkennen. Die Union polterte, die Ernährung tauge nicht als „Schalthebel zum Umbau der Gesellschaft“. Özdemir selbst betont immer wieder ganz brav, er wolle selbstverständlich niemandem vorschreiben, was er zu essen habe.
Das erstaunliche Erregungsniveau, das schon hochvernünftige ernährungspolitische Minimalvorstöße provozieren, lässt Zweifel aufkommen, ob sich in diesem Land jemals eine Ernährungspolitik etablieren kann, die diesen Namen verdient. Bisher gibt es sie nicht. Gesunde und nachhaltige Ernährung wurde in Deutschland immer auf das Einkaufsverhalten des Einzelnen abgewälzt.
Mehr Gemüse wagen!
Der soll, umstellt von Werbelügen, dubiosen Qualitätssiegeln und dem Chemiechinesisch im Kleingedruckten der Verpackungen, in Selbstverantwortung seinen Magen füllen. Das zuständige Ressort hieß denn auch lange ausschließlich Landwirtschaftsministerium und wurde mit Politikern bestückt, die auf der Grünen Woche Bockwurst mit Schnaps kombinierten und Herrenwitze in die Runde warfen à la „Oldenburger Butter / hilft dir auf die Mutter“.
Als die Grünen es mit einem bescheidenen Veggieday versuchten, fiel die Meute derjenigen über sie her, die den Nackensteak-Esser als Rückgrat unserer Gesellschaft betrachten. Das zeigt aber bis heute Wirkung. Angst essen Seele auf. Inzwischen hat zwar eine selbstbewusste Veggiebewegung dafür gesorgt, dass sich die Speisekarte auch im letzten bayerischen Dorfgasthaus deutlich geändert hat.
Doch die Ernährungslage in unserem Land ist nach wie vor verheerend: Zwei von drei Männern und jedes sechste Kind sind stark übergewichtig. Die Epidemie von Fastfood, Zuckerbrause und Industriefraß ist ungebrochen. Immer weniger Menschen kochen selbst, Lebensmittelkompetenz und -wissen verdampfen in der Mikrowelle. Es geht um Gesundheit, um Lebenschancen, um 12 Millionen adipöse Menschen, um Genuss und Freude am Essen, um Umwelt, Klima, Tierwohl.
Doch im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gibt es bei uns keinen für alle Lebensmittel verbindlichen Nutri-Score (Lebensmittelampel), keine Lenkung durch Steuern, kein Klima- und kein echtes Tierwohl-Label, kein gesundes Gratisessen in Schulen und Kitas, keine Werbeverbote für offensichtlich Ungesundes. Und Adipositas ist nach wie vor nicht als chronische Krankheit anerkannt, sondern wird als individuelles Problem etikettiert.
Das Veggieday-Trauma der Grünen
Es gäbe also viel zu tun: Die Vorschläge der Wissenschaft aus dem Beirat des Ministeriums liegen seit Jahren auf dem Tisch. Die Gesellschaft ist bereit für Veränderungen. Özdemir hat recht, wenn er betont, dass eine breite Mehrheit hinter seiner Ernährungsstrategie stehe. Leider ist diese entsprechend defensiv, in vielem noch vage und eher auf 2030 ausgerichtet als auf heute und morgen.
Die Grünen müssen ihr Veggieday-Trauma endlich überwinden. Sie dürfen sich von der Lobby aus Industrie und Bauernverband nicht länger einschüchtern lassen. Die Zeiten von Bockwurst und Doppelkorn sind vorbei. Jetzt braucht es Mut und Aufbruchstimmung, damit Besseres auf den Tisch kommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind