piwik no script img

EM-VerlängerungenSchreckliche halbe Stunde

Wozu braucht es Verlängerungen bei der EM? Die zusätzliche Spielzeit mit überanstrengten Körpern und maximaler Risikovermeidung will niemand.

Und jetzt Verlängerung? Italiens Elena Linari hat nach dem 1:1 von England in der Nachspielzeit offensichtlich keine Lust darauf Foto: Jean-Christophe Bott/KEYSTONE/dpa

I ch habe bei diesem Turnier viel Extrazeit geschenkt bekommen. Von den vier Spielen, die ich bisher im Stadion besucht habe, gingen drei in die Verlängerung. Dabei kenne ich keinen Menschen, der Verlängerung mag. Denn oft sieht sie so aus: Zwei Teams am Ende ihrer Kräfte schleppen sich nochmal 30 Minuten über den Rasen. Keiner will so richtig ins Risiko gehen, keiner den letzten Schlag kassieren.

Koordinierte Angriffe bringt ohnehin niemand mehr zustande, stattdessen weite Schläge irgendwo nach vorn. Manchmal ist es so mitleiderregend, dass man nicht hinschauen will, wenn die Deutschen zu zehnt mit zuckenden Bewegungen vorantraben. Die halbe Stunde kriecht dahin. Und alle Fans schauen auf die Videoleinwand und warten auf das, wofür sie diese Geduldsübung überhaupt durchmachen müssen: das Elfmeterschießen.

Verlängerungen gibt es erstaunlicherweise schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, und sie sind eine der schlechtesten Erfindungen des Fußballregelwerks. Im Spiel kommt nichts mehr zustande, das Kräfteverhältnis ist ausgeglichen? Kein Problem, lass uns doch einfach noch länger spielen. Mit Sportler:innen, die ihre Fitness auf 90 Minuten trainiert haben, die sowieso viel zu viele Partien im Jahr absolvieren und in ein paar Tagen das nächste K.-o.-Match haben.

Klar, quälen wir sie doch einfach noch ein wenig. Früher gab es dazu noch so wirres Zeug wie Golden Goal und Silver Goal, was dazu führte, dass irgendwann kei­ne:r mehr wusste, ob das Spiel jetzt eigentlich vorbei ist. Immerhin, jetzt weiß man: 120 Minuten, wir müssen da durch.

Hoch lebe das Elfmeterschießen!

Das Elfmeterschießen dagegen, erstaunlicherweise erst bei der Männer-WM 1970 eingeführt, ist sicherlich eine der besten Ideen in der Geschichte des Regelwerks. Ein geradezu cineastischer Spannungsbogen voller Dramatik, Leid und unerwarteter Hel­d:in­nen – und das mit minimalem konditionellem Aufwand oder Verletzungsrisiko.

Das Elfmeterschießen ist ein so schräges Format, dass es beinahe wirkt wie aus einer Influencer:innen-Liga, wie gemacht für unsere Generationen mit limitierter, social-media-ruinierter Aufmerksamkeitsspanne. Wenn Elfmeterschießen läuft, guckt wirklich niemand aufs Handy. Wo gibt es das sonst noch, so ein totales Leben im Moment? Es lebe das Elfmeterschießen!

Ich weiß aus vielen gemeinsamen Rants, dass ich nicht die einzige Person bin, die die Verlängerung als eine Durststrecke erlebt, die man durchstehen muss, um zum Elfmeterschießen zu gelangen. Denn falls in dieser halben Stunde des Elends wirklich noch was passiert, macht es die Sache ja auch nicht besser. 29 Minuten Warten aufs Elfmeterschießen, und dann meint irgendeine Engländerin, ein Tor im Spiel schießen zu müssen? Per Elfmeter, danke für nichts. Deshalb lasst es doch einfach mit diesen Verlängerungen. Ich verspreche, niemand wird es vermissen. Und wir Jour­na­lis­t:in­nen haben weniger Nachtschichten. Nicht, dass mich so was nach einer weiteren Nachtschicht jemals zu so einem Text motivieren würde.

*etwas Kleines

Fairplay fürs freie Netz

Auf taz.de finden Sie unabhängigen Journalismus – für Politik, Kultur, Gesellschaft und eben auch für den Sport. Frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Alle Inhalte auf unserer Webseite sind kostenlos verfügbar. Wer es sich leisten kann, darf gerne einen kleinen Beitrag leisten. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Alina Schwermer
freie Autorin
Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum und Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen und übers Reisen. Autorin mehrerer Bücher, zuletzt "Futopia - Ideen für eine bessere Fußballwelt" (2022), das auf der Shortlist zum Fußballbuch des Jahres stand.
Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • Die schlechte Nachricht:



    Am Sonntag keine Verlängerung mit den DFB-Frauen.



    Die gute Nachricht:



    Das Spiel wird nicht von Bernd Schmelzer kommentiert.

  • Auch das noch: Jemand hat die Nachspielzeit der Verlängerung erfunden :-)

    Das Gegenteil davon war, was niemand wollte: Das "Golden Goal", also die Abkürzung der Verlängerung!!! Die Verlängerung abschaffen? Watt mutt mutt unn tutt gutt.

    Da ist die Tradition hartnäckig geblieben. Bravo. Gut so. Die volle Verlängerungsspielzeit von effektiv 30 Minuten ist wieder da! Die Verlängerung im deutschspanischen Frauenhalbfinalspiel bewies, wie gut das tut - gerade in einem verfahrenen 0:0-Patt wie gestern! Die Verlängerung ermöglicht das Unmögliche: Ein Siegtor aus dem Spiel heraus. Oder auch Tore beider Teams mit möglichem erneuten Unentschieden. und dann kommt das von manchen ersehnte Elfmeterschießen. Klar ist Letzteres zu guter Letzt spannend wie eine Duell-Serie der Helden gegen die Gangster auf der Wildwest-Stadt-Main-Street vor dem Saloon. Aber soviel Hollywood soll Fußball ja nur ausnahmsweise bieten - das Spiel soll entscheiden, nur notfalls die Elfer-Show! !

    Fußballspielen soll Turnier-K.O.-Spiele entscheiden. Das ist O.K Offenbar hält's mancher Fußballfan damit wie Pariser, die zu Opern immer erst eintreffen, wenn das Ballett zu tanzen beginnt. Hat Oper etwa mit Gesang zu tun?

  • Persönliche Müdigkeit oder Sympathie für Equipe X sollte wohl keinen Artikelinhalt beeinflussen. ;)



    Früher gab es Wiederholungsspiele - undenkbar heute. Aber eine Verlängerung gibt dem Spiel Vorrang vor dem Showdown, das hat etwas, und ist dann auch mehr fürs Geld.

  • Vielen Dank für Ihren erfrischenden Kommentar. Auch wenn der relativ zwecklos erscheint. Dafür ein umso erheiternderes Gedankenspiel, wenn man den Zeitpunkt der Veröffentlichung bedenkt 😃 Golden Goal würde ich gerne mal erleben. Damals war ich noch recht jung. Warum wurde das abgeschafft?

    • @drum:

      Willkür, und es führte zum unschönen Komplettmauern, denn jeder Fehler konnte der sein, der nicht mehr gutzumachen gewesen wäre.



      Und Bierhoff musste auch mal etwas Besonderes hinbekommen haben.

      • @Janix:

        Danke für Ihre Erklärung. Das mit dem Mauern kann ich gut nachvollziehen. Da möchte ich wirklich nicht der sein, der den entscheidenen Fehler macht.

  • "...Elfmeterschießen dagegen, erstaunlicherweise erst bei der Männer-WM 1970 eingeführt, ist sicherlich eine der besten Ideen in der Geschichte des Regelwerks. Ein geradezu cineastischer Spannungsbogen voller Dramatik, Leid und unerwarteter Hel­d:in­nen – und das mit minimalem konditionellem Aufwand oder Verletzungsrisiko."



    Das sehe ich komplett anders, obgleich d. BVB unerwartet manch' Elfmeter-Schießen gewann, so auch legendär im Pokalwettbewerb in München, als mein Nachbar Norbert vor Beginn des Events in d. Katakomben zum Tresen ging mit den Worten "ich halt das nicht mehr aus".



    Wir wussten ja nicht, was kam:



    www.n-tv.de/sport/...ticle15009821.html



    Dennoch: Golden Goal finde ich besser, wie von Oliver Bierhoff erzielt, Silver Goal eher schlechter als die Entscheidung abwechselnd v. Punkt.



    Eine Verlängerung ohne Torhüter wäre auch eher eine mit als ohne Tore.



    Norbert hat sich übrigens ziemlich geärgert, er hatte aber nicht gewusst, dass die Bayern eine Verlängerung gegen den BVB schon gar nicht im Kalkül hatten. Legendärer Ausgleich damals b. sehr stark dominanen Bayern. Megaverrücktes Match in der hell illuminierten Arena.

  • Weder Verlängerung noch Elfmeterschießen sind gute Möglichkeiten, um ein Spiel zu entscheiden. Direkt aufs Elfmeterschießen zu gehen ist aber auch keine Lösung. Elfmeterschießen hat mit dem Spiel wenig zu tun. Ein Sieg übers Elfmeterschießen ist nicht verdient, sondern glücklich.

    Vielleicht sollte man eine Idee von van Gaal aufgreifen. Er schlug schon vor Jahren vor beim Spielstand von null zu null ab einer bestimmten Spielzeit anzufangen SpielerInnen vom Feld zu nehmen. Dann entstehen automatisch Räume, hoffentlich mehr Tore und Spiele dauern nicht mehr drei Stunden.

    • @Leon Kaz:

      Elfmeterschießen hat absolut nichts mit Glück zu tun.



      Dort ist die fußballerische Kernkompetenz gefordert, einen ruhenden Ball genau dahin zu schießen, wo er hin soll.



      Ein platzierter Schuss in den Winkel ist noch niemals gehalten worden.



      Leider wird diese Kernkompetenz viel zu wenig trainiert, zwei Trainingseinheiten am Tag a 90 Minuten gelten ja schon als hartes Training.



      Deshalb immer die Ausrede mit der angeblichen Drucksituation und dem Glück.

  • Ja warum überhaupt so viel bewegen, kürzen wir es runter auf 2x30 Minuten und mindestens einmal die Woche müssen alle schiessen üben im Training. Anders gesagt, wenn der Fussball zum Standsport wird, sag ich bald Tschüss. Besser deutlich weniger Spiele im Jahr ansetzen, weniger KO-Spiele, o.ä., es gibt genug Möglichkeiten. Elfmeterschiessen ist ein eigener Sport und der Genuß sicher Geschmackssache.