EM-Verlängerungen: Schreckliche halbe Stunde
Wozu braucht es Verlängerungen bei der EM? Die zusätzliche Spielzeit mit überanstrengten Körpern und maximaler Risikovermeidung will niemand.

I ch habe bei diesem Turnier viel Extrazeit geschenkt bekommen. Von den vier Spielen, die ich bisher im Stadion besucht habe, gingen drei in die Verlängerung. Dabei kenne ich keinen Menschen, der Verlängerung mag. Denn oft sieht sie so aus: Zwei Teams am Ende ihrer Kräfte schleppen sich nochmal 30 Minuten über den Rasen. Keiner will so richtig ins Risiko gehen, keiner den letzten Schlag kassieren.
Koordinierte Angriffe bringt ohnehin niemand mehr zustande, stattdessen weite Schläge irgendwo nach vorn. Manchmal ist es so mitleiderregend, dass man nicht hinschauen will, wenn die Deutschen zu zehnt mit zuckenden Bewegungen vorantraben. Die halbe Stunde kriecht dahin. Und alle Fans schauen auf die Videoleinwand und warten auf das, wofür sie diese Geduldsübung überhaupt durchmachen müssen: das Elfmeterschießen.
Verlängerungen gibt es erstaunlicherweise schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, und sie sind eine der schlechtesten Erfindungen des Fußballregelwerks. Im Spiel kommt nichts mehr zustande, das Kräfteverhältnis ist ausgeglichen? Kein Problem, lass uns doch einfach noch länger spielen. Mit Sportler:innen, die ihre Fitness auf 90 Minuten trainiert haben, die sowieso viel zu viele Partien im Jahr absolvieren und in ein paar Tagen das nächste K.-o.-Match haben.
Klar, quälen wir sie doch einfach noch ein wenig. Früher gab es dazu noch so wirres Zeug wie Golden Goal und Silver Goal, was dazu führte, dass irgendwann keine:r mehr wusste, ob das Spiel jetzt eigentlich vorbei ist. Immerhin, jetzt weiß man: 120 Minuten, wir müssen da durch.
Hoch lebe das Elfmeterschießen!
Das Elfmeterschießen dagegen, erstaunlicherweise erst bei der Männer-WM 1970 eingeführt, ist sicherlich eine der besten Ideen in der Geschichte des Regelwerks. Ein geradezu cineastischer Spannungsbogen voller Dramatik, Leid und unerwarteter Held:innen – und das mit minimalem konditionellem Aufwand oder Verletzungsrisiko.
Das Elfmeterschießen ist ein so schräges Format, dass es beinahe wirkt wie aus einer Influencer:innen-Liga, wie gemacht für unsere Generationen mit limitierter, social-media-ruinierter Aufmerksamkeitsspanne. Wenn Elfmeterschießen läuft, guckt wirklich niemand aufs Handy. Wo gibt es das sonst noch, so ein totales Leben im Moment? Es lebe das Elfmeterschießen!
Ich weiß aus vielen gemeinsamen Rants, dass ich nicht die einzige Person bin, die die Verlängerung als eine Durststrecke erlebt, die man durchstehen muss, um zum Elfmeterschießen zu gelangen. Denn falls in dieser halben Stunde des Elends wirklich noch was passiert, macht es die Sache ja auch nicht besser. 29 Minuten Warten aufs Elfmeterschießen, und dann meint irgendeine Engländerin, ein Tor im Spiel schießen zu müssen? Per Elfmeter, danke für nichts. Deshalb lasst es doch einfach mit diesen Verlängerungen. Ich verspreche, niemand wird es vermissen. Und wir Journalist:innen haben weniger Nachtschichten. Nicht, dass mich so was nach einer weiteren Nachtschicht jemals zu so einem Text motivieren würde.
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