EMtaz: 20 Jahre Golden Goal: Kacktor, aber golden

Vor 20 Jahren schoss Oliver Bierhoff sein Golden Goal bei der EM. Was wurde aus dieser Regel und warum zählten in der Karibik Golden Goals doppelt?

Oliver Bierhoff bejubelt sein Golden-Goal gegen Tschechien 1996.

Jogi Löw zum Golden Goal vor 20 Jahren: „Ich bin froh, wenn ich das nicht höre. Das erzählt Oliver oft genug“ Foto: dpa

BERLIN taz | Es war ein absolutes Gurkentor. Wäre es nicht im EM-Finale 1996 vor exakt 20 Jahren gefallen – es wäre eine gute Wahl für Arnd Zeiglers „Kacktor des Monats“ gewesen: Oliver Bierhoff bekommt im tschechischen Strafraum ein mittelscharfe Flanke von Klinsmann mit Rücken zum Tor unter Kontrolle. Er dreht sich nach rechts um den Verteidiger Miroslav Kadlec und schießt mit dem schwachen linken Fuß aufs Tor.

Allerdings trifft er die Hüfte eines Gegenspielers und anschließend die Hände des tschechischen Torhüters Petr Kouba. Aus dessen Flutschfingern kullert der Ball im Super-Slowmo-Tempo in Richtung Tor, stupst gegen den Innenpfosten und von da aus über die Torlinie. Mit letzter Kraft erreicht der Ball das hintere Tornetz. Egal. Deutschland ist per „Golden Goal“ in der 95. Minute 1996 Europameister geworden. Aus Scheiße Gold gemacht.

Das Spiel ist trotzdem vorbei. Ohne Chance auf Wiedergutmachung für die tschechische Mannschaft. Wäre 1970 das Jahrhundertspiel Deutschland-Italien nach dem ersten Treffer in der Verlängerung abgepfiffen worden, es wäre ein popliger 1:2-Deutschland-Sieg nach 94 Minuten geblieben. Und nicht das legendäre 4:3 für Italien. Die fünf Treffer der Verlängerung wären niemals gefallen. 102.444 Menschen im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt hätten nicht beiden Mannschaften nach dem Schlusspfiff Standing Ovations und Dauerapplaus gespendet. Keine Erinnerungstafel am Stadion würde den Protagonisten der „Partido del Siglo“ huldigen. Es hätte nur ein lahmes Golden-Goal von Gerd Müller gegeben.

Oliver Bierhoffs besonders hässlicher Treffer war das erste Golden Goal der Fußballgeschichte auf großer Bühne. Es zeigte, was für ein eigenartiges Kapitel der Fußballgeschichte die Fifa damals begonnen hatte. Zwar gab es später auch noch schönere Exemplare in freier Wildbahn, etwa der David-Trezeguet-Volleyschuss im EM-Finale 2000 gegen Italien.

Aber diese waren eher die Ausnahme. Die Regel waren vor allem sehr langweilige Verlängerungen, die meistens im Elfmeterschießen mündeten. Eigentlich wollte die Fifa das Spiel mit dem aus dem Eishockey importierten Sudden Death spannender machen. Tatsächlich beschränkten sich ohnehin nach 90 Minuten erschöpfte Teams hauptsächlich auf das Verteidigen, um sich bloß kein Golden Goal zu fangen.

In der Karibik zählen Golden Goals doppelt

Die Uefa führte daraufhin ab 2002 für innereuropäische Wettbewerbe das Silver Goal ein – als Kompromiss zwischen alter Regelung und Golden-Goal-Neuerung. Erzielte demnach eine Mannschaft in der ersten Halbzeit der Verlängerung ein Tor, war das Spiel mit dem Schlusspfiff der ersten 15 Minuten beendet. Geschah dies nicht, endete die Partie regulär nach 120 Minuten. 2004 schaffte die internationale Kommission für Fußballregeln sowohl Golden- als auch Silver-Goal endgültig ab. Während der EM 2004 erzielte Traianos Dellas das letzte Silver Goal für Griechenland – im Halbfinalsieg gegen, genau, Tschechien.

Das absurdeste Kapitel der Geschichte des Golden Goals ist allerdings weitgehend unbekannt. Bereits 1994 experimentierte die Fifa gar mit einer Sudden-Victory-Regelung in der Qualifikation für die Karibikmeisterschaft. Auf alle Unentschieden der Quali folgten Golden-Goal-Verlängerungen. Extra-Motivation: Golden Goals in der Verlängerung zählen doppelt fürs Torverhältnis.

Daraus ergab sich die absurde Situation, dass beim Fußballklassiker Barbados gegen Grenada zeitweilig beide Mannschaften in beide Richtungen spielten. Barbados wäre nur mit einem zwei-Tore-Sieg für die Karibikmeisterschaft qualifiziert gewesen, führte jedoch mit nur einem Tor. Nachdem es Barbados nicht gelang, das 3:1 zu erzielen, versuchten sie deswegen, ein Eigentor zu erzielen, um in der Verlängerung per Golden Goal die Möglichkeit zu haben, die Tordifferenz um zwei Tore zu erhöhen.

Grenada musste also beide Tore verteidigen und Barbados griff beide Strafräume an. Letztere machten schließlich nach einer wunderbaren Kurzpass-Kombination das schöne Eigentor und erzielten sogar noch das Golden Goal in der Verlängerung. Grenada war draußen, Barbados weiter. Das mutmaßlich skurrilste Fußballspiel der Geschichte zu Ende.

Die Karriere des Torhüters Kouba verlief so mittelmäßig

Oliver Bierhoff jedenfalls passte das Golden Goal relativ gut in die Karriereplanung, in den folgenden Spielzeiten traf er für Udinese Calcio sehr erfolgreich in der Serie A, wurde 1998 Torschützenkönig der Serie A, deutscher Fußballer des Jahres und 1999 italienischer Meister mit dem AC Mailand. Heute ist er Manager der vielleicht erfolgreichsten, sicher aber am straffesten durchorganisierten DFB-Nationalmannschaft.

Ganz anders sieht es beim großen Golden-Goal-Verlierer, dem tschechischen Torwart Petr Kouba, aus: Das Torhütertalent, dessen Durchbruch eigentlich die EM 1996 werden sollte, setzte sich danach nicht durch. Bei La Coruña saß er auf der Bank. Selbst beim 1. FC Kaiserslautern kam er nie über die Rolle des Ersatztorwarts hinaus. Dafür wurde er wegen Dopings gesperrt. Bis an sein Karriereende blieb Kouba fast immer Reservist.

Ob der Inselstaat Grenada nach dem Ausscheiden aus der Qualifikation für die Karibikmeisterschaft je wieder glücklich wurde, ist hingegen nicht überliefert.

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