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Wohnungslos unter MerzLetzte Orte vor dem Verschwinden

Wohnungslose Menschen auf öffentlichen Bänken irritieren. Sie erinnern daran, dass das Leben auch andere Wege nehmen kann. Wird sich Friedrich Merz um sie kümmern?

Parkbänke halten, was die Gesellschaft nicht hält Foto: IMAGO

Z wei Bänke stehen vor meinem Haus. Unscheinbare Bänke, die ich aus meinem Fenster sehen kann, wenn die Bäume keine Blätter tragen, im ­Winter. Es sind gewöhnliche Bänke, auf denen ungewöhnliche Menschen sitzen. Menschen, die anderswo keinen Platz finden. Keine Spaziergänger, keine Rentner mit Einkäufen, nie Eltern mit Kinderwagen. Auf den Bänken sitzt, wer aus Wohnungen, Beziehungen, Systemen gefallen ist.

Ich denke viel über diese Menschen nach. Da sind junge Liebespaare, Pubertierende, eng ineinander verschlungen. Mädchen mit Kopftuch auf den Knien ihrer Angebeteten. Ich stelle mir vor, dass sie in ihren konservativen Familien niemals so ungestört übereinanderliegen könnten. Die Bänke bieten ihnen einen Ort, ohne Fragen zu stellen, ohne über sie zu urteilen.

Ich beobachte Jungs mit zartem Flaum über der Lippe. Sie reichen sich Joints, auch bei Minusgraden. Wenn ich sie passiere, hängt mir noch lange der Geruch von Deo und Energy­drinks in der Nase.

Zwei Männer trinken stumm ihre Feierabendbiere, schauen polnische Videos auf ihrem Handy. Nie gemeinsam, immer abwechselnd. Vielleicht trinken sie hier, weil es zu Hause nicht geht, weil sie Ruhe vor ihrer Frau brauchen, vor ihren Fragen. Vielleicht leben sie nicht mehr wirklich zu Hause. Nur noch irgendwo. Auch einer meiner Nachbarn sitzt dort.

Ein alter Mann, sehbehindert, Kettenraucher, bleich wie ein Geist. Nur selten besucht ihn jemand. Manchmal schleicht er durch den Hausflur. Begegne ich ihm, ruft er mir jedes Mal zu: „Vorsicht, aufpassen, ich stehe hier, nicht erschrecken!“, als sei ich diejenige, die ihn nicht sieht. Die ihn übersehen könnte. Vielleicht sitzt er auf den Bänken, weil ihn drinnen niemand erwartet. Weil er draußen wenigstens ein wenig Leben mitbekommt. Wer weiß, denke ich, vielleicht.

Nichts an diesen Orten ist romantisch

Diese Bänke halten, was die Gesellschaft nicht hält. Ich meine das nicht romantisch. Nichts an diesen Bänken ist romantisch. Für viele sind sie der letzte Ort vor dem Verschwinden. Obdachlose zum Beispiel. Menschen, deren Anblick irritiert, verstört – weil er daran erinnert, dass das Leben auch andere Wege nehmen kann. Nicht die geplanten, sondern die katastrophalen.

Diese Bänke halten, was die Gesellschaft nicht hält

Als ich neulich an meinen Bänken vorbeilief, dachte ich an Friedrich Merz. Auch er saß in dieser Woche auf einer Bank. Einer Wahlbank. Sie wackelte kurz, dann war alles wieder festgezurrt. Kanzler wurde er trotzdem.

Ich frage mich: Wird Merz sich als Kanzler, wird diese neue Bundesregierung sich um die anderen Bänke im Land kümmern? Die unbequemen? Die, auf denen niemand freiwillig schläft? Wird sie verhindern, dass Bänke zu Wohnräumen werden müssen?

In der S-Bahn lag neulich ein Mann quer über vier Sitze. Obdachlos vermutlich, vor sich hin dämmernd. Um ihn herum seine Habseligkeiten in Plastiktüten. Eine davon tropfte. Eine stinkende Spur zog sich wie ein Fluss durch den Waggon. Niemand sagte etwas. Ich folgte der Spur, setzte mich ans andere Ende. Bald stieg eine Schulklasse ein. Eine Gruppe von Mädchen quetschte sich zu mir. Sie tuschelten.

„Denkst du, der hat da hingemacht?“, fragte eine. – „Bestimmt war er betrunken“, sagte eine andere. Und dann, fast beiläufig: „Ich kenne Menschen, die das machen.“ Dieser Satz traf mich mehr als alles andere. Weil in ihm eine Ahnung steckte. Eine Traurigkeit. Und ein feiner Sinn für das, was ist. Nicht: Wie kann man nur so leben? Sondern: Ich kenne Menschen, die das machen.

Noch Tage später hallt der Satz nach. Vielleicht sind es genau solche Sätze, beiläufig im Alltag fallen gelassen, die zeigen, wie viel Menschlichkeit möglich ist. Nicht in großen Gesten, sondern im Wahrnehmen der anderen. Auf Bänken, in Zügen, am Rande eben. Wenn man nur hinsieht.

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Erica Zingher
Autorin und Kolumnistin
Beschäftigt sich mit Antisemitismus, jüdischem Leben, postsowjetischer Migration sowie Osteuropa und Israel. Kolumnistin der "Grauzone" bei tazzwei. Freie Podcasterin und Moderatorin. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber.
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11 Kommentare

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  • Danke für diesen Text. Gut dass wenigstens noch eine Zeitung einen Blick für die Wirklichkeit hinter den blinkenden Glasfassaden hat.



    Unter Merz wird es für jene im Schatten, auf den Bänken und U-Bahnschächten noch schlimmer werden. Die Daumenschrauben des Kapitalismus werden um eine Drehung angezogen... man wird es Sachzwang nennen...

  • Sanktionen beim ALG2, Bürgergeld, werden zu mehr Obdachlosigkeit führen. Das ist ja gewollt. Selbst Kranke mit AU werden sanktioniert, wenn sie Termine verpassen. Langzeitarbeitslose, haben oft keine Tagesstruktur, da kann man mal Termine verpassen. Da sind viele Kranke bei: Suchtkranke, psychisch Kranke.

    Eine harte, unbarmherzige Zeit scheint da bewußt geplant zu werden. Christliche Nächstenliebe sieht so aus?

    • @menschbin:

      Ja etwas makaber muss man wohl sagen das christliche Nächstenliebe üblicherweise so aussieht.

      Ein Blick in ein Land (bzw staatenbund) in dem die christliche Religion noch deutlich stärker gelebt wird als in Europa, bestätigt das sogar. Ich meine damit natürlich die USA und gewisse gesetzliche Regelungen wie beispielsweise das in manchen Staaten geltende Verbot Obdachlosen Menschen auch nur die geringste Hilfe zukommen zu lassen. Die verhaften sogar ihre eigenen Pastoren wenn die denen Suppe ausschenken...

  • taz: *Wohnungslose Menschen auf öffentlichen Bänken irritieren. Sie erinnern daran, dass das Leben auch andere Wege nehmen kann. Wird sich Friedrich Merz um sie kümmern?*

    Ist die Frage ernst gemeint? Obdachlose haben keine Aktienpakete, folglich wird sich der ehemalige BlackRock-Lobbyist Merz auch nicht um solche armen Menschen kümmern und dafür sorgen, dass in einem der reichsten Länder dieser Welt solche mittelalterlichen Zustände endlich mal beendet werden. Ein Staat der auf der einen Seite immer noch den Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaatgedanke) im Grundgesetz stehen hat - und auch den Art. 1 GG (Menschenwürde) - auf der anderen Seite aber nicht erkennen will, dass die Armut in diesem Land immer größer wird, in so einem Land stimmt schon lange etwas nicht mehr. Nach Schätzungen der BAGW (Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe) im Januar 2025, sind ca. 50.000 Menschen in Deutschland obdachlos (leben also schon auf der Straße) und ca. 530.000 Menschen sind in Deutschland wohnungslos - was bei näherer Betrachtung auch Obdachlosigkeit bedeutet. Merz kümmert sich nur um reiche Menschen, siehe ***Friedrich Merz - Lobbypedia*** lobbypedia.de/wiki/Friedrich_Merz

    • @Ricky-13:

      Vermutlich wird er eher die Bänke abbauen lassen. Oder durch solche mit Armlehnen zwischendrin ersetzen (damit sich niemand hinlegen kann). Ist ja sowieso seit Jahren weltweit der Trend in den Innenstädten.

      • @Gothograecus:

        ***Warum gibt es noch immer Obdachlosigkeit, Herr Bundespräsident? - Hinz&Kunzt, Das Hamburger Strassenmagazin, 2022*** www.hinzundkunzt.d...-bundespraesident/

        Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte sich in seiner Doktorarbeit schon 1991 mit der Obdachlosigkeit befasst. Leider hat er das Elend der Wohnungs- und Obdachlosen aber nicht einmal als Bundespräsident angesprochen - außer ein paar leere Worte (siehe Hinz&Kunzt). Er hat wohl nie Zeit für arme Menschen, da er mit den reichen Managern andauernd reden muss. Bei Friedrich Merz (CDU) kann man überhaupt nicht erwarten, dass er sich um Obdachlose kümmert - Merz wird die Zahl der Obdachlosen höchstens noch erhöhen.

        [Frank-Walter Steinmeier: 'Bürger ohne Obdach, zwischen Pflicht zur Unterkunft und Recht auf Wohnraum, Tradition und Perspektiven staatlicher Intervention zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit'; Gießen, Universität, Dissertation, 1991, Bielefeld]

  • Wollen wir es hoffen, dass sich wenigstens die Merz-Regierung um sie kümmert. Die verflossene Ampel hat es augenscheinlich nicht, sonst gäbe es die Wohnungslosen ja nicht.

    • @fleischsalat:

      Wäre auch sehr überraschend gewesen, wenn eine zerstrittene Regierung in drei Jahren schaffen würde, woran andere Regierungen über Jahrzehnte gescheitert sind.



      Allerdings: Zitat: " Wird sie verhindern, dass Bänke zu Wohnräumen werden müssen?" Ich fürchte aus dieser Frage wird zuerst das "müssen" gestrichen. Sprich Parkbänke gegen Einzelbestuhlung ausgetauscht, damit man die Wohnungslosen nicht mehr sehen muss. Eher als dass tatsächlich etwas für die Menschen getan wird.

  • Leise geschrieben. Gefühlvoll. Berührt mich. Danke.

    Ich erwarte leider keine Verbesserung dieser Situation von Merz.

    Die Hoffnung bleibt, dass andere Menschen in Zukunft nicht noch auf sie eindreschen, sondern menschlich bleiben.

  • Da wird Merz leider ausnahmsweise eine Tradition von Angela Merkel fortführen, nämlich eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber den Schwachen in der Gesellschaft. Und auch die SPD ist der Anwalt der „fleißigen Leute“, mit Obdachlosen haben auch die Sozis nichts im Sinn.

  • "Wird sich Friedrich Merz um sie kümmern? "



    Hat sich Olaf Scholz um sie gekümmert, oder Habeck, oder Lindner? Nein, denen war es scheinbar völlig egal, und Merz samt Klingbeil werden da auch nicht anders sein.