Wo hängen eigentlich Mülleimer?: Die Anarchie der Tonne
Städtische Papierkörbe sehen heute aus wie Popstars und reden auch so. Aber immer, wenn man einen braucht, ist keiner da – warum?
Es ist paradox: Mülleimer sind überall und trotzdem unsichtbar. Eine junge Frau etwa verlässt ein Fast-Food-Lokal am Berliner Alexanderplatz, in der Hand einen Pappbecher mit dem Rest ihres Getränks. Ein Schluck noch, dann wirft sie ihn in den orangefarbenen Mülleimer, der an einem Laternenmast vor dem Lokal hängt. Die Bewegung wirkt unbewusst, routiniert. Den Eimer nimmt sie kaum wahr. Auch nicht der Rentner, der wenig später ein Taschentuch darin versenkt – er tut es beiläufig.
Mülleimer sind Fixpunkte in den Straßen der Großstadt. Dass es sie gibt: klar, nicht weiter bemerkenswert. In unsere Wahrnehmung rücken sie erst, wenn weit und breit keiner zu sehen ist. Dann nämlich, wenn der Abfall in der Hand auf die Abwesenheit eines passenden Behälters trifft.
Eine App wär’s, die in solchen Momenten den Weg zum nächsten Mülleimer weist. Zumindest aber wäre hilfreich zu wissen, nach welchen Kriterien Mülleimer aufgehängt werden. Wie man schnell einen findet. Wieso eigentlich an manchen Straßenkreuzungen drei davon hängen, an anderen kein einziger. Genau: Man müsste wissen, welcher tieferen Logik die Verteilung von Mülleimern folgt.
Rainer Kempe kennt sie. Er ist Leiter des Regionalzentrums Nord-West der Berliner Stadtreinigung (BSR) und entscheidet, wo in seinem Gebiet Mülleimer – Papierkörbe, wie sie offiziell heißen – angebracht werden. Dazu holt er sich Hinweise von den Reinigungsmitarbeitern und Scouts der BSR ein.
Sie sind zwei der besten deutschen Schriftsteller: Jochen Schmidt stammt aus Ostdeutschland, David Wagner aus der alten Bundesrepublik. In der neuen taz.am wochenende vom 11./12. Oktober 2014 erzählen sie über Kindheit und Jugend im geteilten Deutschland, 25 Jahre nach dem Mauerfall. Außerdem: Boris Palmer ist grüner Oberbürgermeister von Tübingen. Ehrgeizig, nicht nur beliebt - jetzt möchte er wiedergewählt werden. Was hat er erreicht? Und: Ab Samstag talkt Ina Müller wieder im Ersten. Ihr Studio ist eine Kneipe im Hamburger Hafen. „Sabbeln und Saufen läuft“, sagt sie. Ein Gespräch. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
„Beim Leeren der Straßenpapierkörbe sehen unsere Mitarbeiter anhand des Füllungsgrades, wo Bedarf nach weiteren Abfalleimern besteht“, sagt Kempe, „auch entsprechenden Bürgerhinweisen gehen wir nach“. Er begutachte dann mit seinen Mitarbeitern den Standort und entscheide, ob es einen zusätzlichen Papierkorb braucht.
Wie viele Mülleimer? Wo?
„In Fußgängerzonen, an touristischen Plätzen und anderen Orten, die sehr stark frequentiert sind, gibt es besonders viele Straßenpapierkörbe“, sagt Rainer Kempe weiter. Schon klar, nur: dort kommt man nicht in Mülleimernot. Weil es genügend gibt oder man als Bewohner der Stadt die überlaufenen Zentren ohnehin meidet.
Es sind die Nebenstraßen und abgelegeneren Ecken, in denen man sucht. Dort kann man sich zumindest an Cafés, Bäckereien und Imbissbuden orientieren. „In Bereichen, wo viele Coffee-to-go-Becher und Einwegverpackungen anfallen, haben wir eine hohe Anzahl an Papierkörben.“
Konkrete Vorschriften aber, wie viele Mülleimer wo zu stehen haben, gibt es keine. Eine Mindestanzahl pro Flächeneinheit? Nach Einwohnern vielleicht? Nein. „Das Straßenreinigungsgesetz erteilt uns den Auftrag, die öffentlichen Straßen und Plätze der Stadt sauber zu halten“, sagt Rainer Kempe. Wie die BSR das macht, ist ihr überlassen. Wo zu viel Müll neben den Eimern landet, werden eben neue aufgehängt – ein gewachsenes System, reguliert nach Angebot und Nachfrage.
Das Gleiche gilt für die Stadtreinigung Hamburg und das Münchner Baureferat, die dort jeweils für die Mülleimer auf den Straßen zuständig sind. Auch sie arbeiten nach Bedarf, nicht nach abstrakten Zahlen. Horst Schiller, Leiter der Abteilung für Straßenunterhalt und -betrieb im Baureferat München, sagt sogar: „Wenn wir merken, dass ein Abfallbehälter nicht genutzt wird, stellen wir den woandershin. Sonst macht der ja keinen Sinn.“
Inseln der Normfreiheit.
Flexibilität in Ämtern? Mülleimer als ein Teil des öffentlichen Raums, der noch nicht bis ins Letzte durch reglementiert ist? Das ist ungewöhnlich. Nein, mehr noch: Anarchie ist das! Und beruhigend obendrein: Es gibt sie noch, die Inseln der Normfreiheit.
Das zeigen auch die unterschiedlichen Mülleimer-Quotienten der drei Städte. Im Berliner Straßenland sind etwa 21.500 Mülleimer angebracht. Macht 6,28 Eimer pro tausend Einwohner. Hamburg kommt mit seinen 9.000 Mülleimern auf einen Quotienten von 5,15. Und in München, wo das Baureferat 7.000 Stück anbietet, müssen sich tausend Einwohner 4,97 Mülleimer teilen.
Etwas verwunderlich, dass ausgerechnet in München die wenigsten Mülleimer platziert sind – wo die Stadt doch für ihre Sauberkeit bekannt, für ihre Sterilität geradezu verschrien ist. Das mag an der in München weniger ausgeprägten Straßenkultur liegen. Vielleicht erfreut sich die Stadt aber auch besonders verantwortungsbewusster Café- und Kneipenbesitzer, die von sich aus Abfallbehälter vor ihren Läden aufstellen.
Fest steht hingegen: Mülleimer verraten einiges über die Städte, in denen sie stehen. Sie lassen sofort erkennen, wo man sich befindet. In München sind sie am unscheinbarsten. Einfache Blechmodelle, grau und still hängen sie an Verkehrsschildern oder säumen die Plätze in der Innenstadt.
In Berlin und Hamburg dagegen gibt es die Pop-Versionen unter den Mülleimern: Die Berliner Exemplare, knallorange, sind je nach Stadtviertel mit einem Wortspiel beklebt. „Steglitzern“, „Reinlichendorf“ oder „Gute Sitte in Mitte“. Noch quasseliger die tiefroten Mülleimer in Hamburg. „Bin für jeden Dreck zu haben“ oder „Hast du mal ’ne Kippe?“ steht auf ihnen, jeweils eingefasst in eine Sprechblase.
„Seit Längerem schon gibt es in Großstädten die Tendenz, dass sogar der Müll ästhetisiert wird“, sagt dazu Simone Egger. Die Münchner Kulturwissenschaftlerin lehrt an der Universität Innsbruck und forscht vor allem im Bereich Stadtentwicklung und Urbanisierung. „Das Humorvolle und diese Sprüche sind eine bildhafte Aufwertung von etwas eigentlich Hässlichem, das man beiseiteräumt.“ Wie also lassen sich diese Unterschiede lesen?
In Berlin und Hamburg sieht Egger mit der Gestaltung der Mülleimer die Bedeutung linker Subkulturen und Szenegruppen wiedergegeben, die mit Graffiti und Tags arbeiten. „Das ist ja eigentlich das Moment, das diese Sprüche aufgreifen: kurze Kommentare, die man mit dem Edding irgendwohin schreibt, oder Aufkleber mit politischen Slogans, die man überall in der Stadt sieht“, sagt sie.
Umgekehrt erscheint es in München plausibel, dass sich die Mülleimer völlig zurückhaltend dem Bild der schönen Stadt fügen: „Hier hat man ja oft das Gefühl, dass die Stadt eine sehr homogene, aalglatte Oberfläche hat, auf der die unterschiedlichen Gruppierungen, die es natürlich auch in München gibt, gar nicht so zum Tragen kommen. Dass nun der Müll nicht bunt betont und kommentiert wird, ist vielleicht auch Ausdruck davon.“
Was sind das für Zeichen?
Dazu eine Szene aus Münchens Glockenbachviertel, so geschehen an einem Samstagnachmittag im September: Eine junge Mutter spaziert mit ihren beiden noch sehr jungen Kindern durch die Klenzestraße. Vor einer grauen Holztür, die über und über mit Tags besprüht ist, machen die Kleinen abrupt halt. Sie scheinen solche Zeichen zum ersten Mal zu sehen, fragen nach ihrer Bedeutung.
„Die Leute, die so was machen, finden das lustig. Aber eigentlich ist das eher schlimm“, erklärt ihnen die Mutter in sanftem Ton. „Das sollte man nicht tun“, schiebt sie hinterher. Dass die schlichten Mülleimer in München ihren Grund haben, dass ihr Inhalt wohl bewusst nicht durch kecke Sprüche hervorgehoben wird – freilich, die Szene beweist das nicht. Aber sie lässt es erahnen.
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