Wladimir Kaminer über Ukraine-Krieg: „Kannibalische patriotische Orgien“
Seit jeher erzählt Wladimir Kaminer, dass die Russ*innen ein herzensgutes Volk sind. Dann griff Moskau die Ukraine an – „ein ganz anderes Russland“.
taz: Eine Art Vertreter Russlands und russischer Kultur bist du schon seit langer Zeit in Deutschland. Wie hat sich das für dich im letzten Jahr geändert?
Wladimir Kaminer: Natürlich fühle ich eine Mitverantwortung für das, was passiert ist. Ich habe seit 30 Jahren hier an allen Ecken erzählt, dass Russland im Grunde genommen ein europäisches, kreatives Ausland ist und die Russen ein herzensgutes Volk sind. Diese kannibalischen patriotischen Orgien gegen eine ehemalige sowjetische Republik: Das ist ein ganz anderes Russland, das ist ein konstruiertes und nicht wirklich gewachsenes Russland. Diese Großraum-Fantasien wirken sehr lächerlich im 21. Jahrhundert und rufen Ekel und Verwunderung hervor.
Jahrgang 1967, geboren in Moskau, ist ein deutscher Schriftsteller und Kolumnist sowjetischer Herkunft. Seine Erzählbände „Militärmusik“ und „Russendisko“ machten ihn auch außerhalb Deutschlands bekannt.
Welche Frage bekommst du am häufigsten gestellt?
„Was ist passiert?“, fragt man mich immer. Vor allem in Ostdeutschland spüre ich auch eine Art Mitleid von Menschen, die ihren Glauben an Russland noch nicht verloren haben. Auch weil ich jahrelang erzählt habe, dass das Problem in Russland die russische Führung sei, nicht die Bevölkerung. Die Menschen haben keine Mittel, um auf die Politik des Landes einzuwirken. Sie sind in gewisser Weise Geiseln dieser Führungsetage. Und das ist ein gefährlicher Prozess. Ich hatte immer daran geglaubt, dass Russland früher oder später auf die demokratische europäische Schiene zurückkommen würde. Inzwischen sehen wir jedoch, dass es doch nicht so einfach ist und dass die politische Führung auch nicht vom Himmel gefallen ist.
Siehst du eine Veränderung in der russischen Gesellschaft?
Auf jeden Fall. Die Illusion vom großen Russland als letztem Bollwerk der Moral und der wahren Familienwerte gegen die ganze Welt – nicht gegen die Ukraine – wird leider inzwischen von wirklich vielen Menschen in Russland als Realität wahrgenommen. Und natürlich ist die Rolle der Presse dabei sehr wichtig. Die Menschen sind unglaublich beeinflussbar und formbar. Sie passen sich an. Diesem russischen Präsidenten ist es irgendwie gelungen, sein eigenes „Beleidigtsein“ gegenüber dem Westen zu einem gesellschaftlichen Problem zu etablieren.
„Unser Fenster nach Russland“, so lautet das Meduza-Projekt der taz. Bedeutet „Meduza“ für dich auch ein Fenster nach Russland?
Ja, das ist eine sehr starke Plattform von Journalisten, die sehr wichtig ist, gerade auch, weil die Berichterstattung über die Situation in Russland und über den Krieg in der Ukraine sehr unterschiedlich geführt wird – je nachdem, wie betroffen die Menschen sind. Das Meduza-Projekt der taz ist extrem wichtig, weil es dem deutschen Publikum auch andere Aspekte dieses Krieges zeigt. Zum Beispiel, dass so viele russische Journalisten ihr Land verlassen mussten. Im Grunde genommen ist das eine Situation, die in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit noch nicht angekommen ist. Eine Million Menschen sind aus Russland geflüchtet – zum Teil die ganzen Berufsstände, wie die Journalisten. Als Folge ist ein ganz neues Russland auf den sozialen Medien entstanden, das jetzt auch eine wichtige Rolle spielt. Für uns in Deutschland ist es zwar ein Großereignis, der Krieg, aber kein existenzielles. Das ist eher eine Art von Rechnung: Wir sind natürlich auf der Seite des Guten und wollen das kleine angegriffene Land in Schutz nehmen, aber nicht zu jedem Preis.
Einige Themen, die oft in der Russland-Berichterstattung auftauchen, sind: Patriotismus, Anti-LGBTQ-Gesetze, Medien und NGOs als ausländische Agenten, Oppositionelle im Gefängnis, Oligarchen … Findest du dies eine repräsentative Auswahl?
Ja, diese Artikel sind richtig und wichtig, aber damit können die Menschen in Deutschland auch denken: „Irgendwie ist Russland kaputt, verrückt geworden …“ Aber das finde ich falsch. Was mit Russland passiert, wenn es mit dieser patriotischen Wand so weitergeht, wird auch auf unser Leben hier große Auswirkungen haben. Einfach so wird das nicht verschwinden, deswegen müssen wir im Gespräch bleiben und erfahren, was mit den Menschen dort passiert. Wir sollten uns darüber Gedanken machen, wie eine Art Exitstrategie aussehen würde.
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