Wilhelmshavens Last der Vergangenheit: Kolonialer Alptraum
Die Marinestadt Wilhelmshaven ist ein Freilichtmuseum des deutschen Imperialismus. Ein Runder Tisch versucht nun die Dekolonialisierung.
H art kommt das Auto zum Stehen. „Jetzt schau dir das an!“, sagt Wilma Nyari beim Aussteigen, die Luft schmeckt nach Salz, legt sich feucht auf die Haut, bedeckter Himmel über Wilhelmshaven. „Es ist so unfucking fassbar!“. Wilma Nyari zeigt aufs Obergeschoss des rechten der zwei leer stehenden Minendepots auf der Schleuseninsel: fünfstöckige Großbauten, weiß und symmetrisch, Gründerzeit, denen Türmchen mit Giebeldach an den jeweiligen Schmalseiten eine herrenhausartige Anmutung verleihen. „Ich sag doch, das hat hier Methode, in Wilhelmshaven“, und sie hat ja recht, so wie eben am alten Schlachthof steht da schon wieder ein Mansardenfenster sperrangelweit offen, in diesem Baudenkmal, sodass die korrosive Seeluft eindringen kann. Sie wird die Wände durchfeuchten, Risse werden sich auftun im alten Mauerwerk, vielleicht auch Schimmel wachsen lassen.
Es wirkt, als würde jemand darauf hoffen, dass Regen, Frost und Hitze die historische Substanz ruinieren. So wie es augenscheinlich schon an der Kammgarnspinnerei geklappt hat, 1910 als U-Boot und Torpedowerft errichtet, ab 1945 dann zivil genutzt, bis zur Pleite in den 1990ern. „Das ist so unfucking fassbar!“, sagt Wilma wieder, sie ärgert sich. „Un-fucking-fassbar!“
Unfucking fassbar, das hatte sie schon beim ersten Zwischenstopp der spontanen Stadtrundfahrt gesagt, sie mag diesen Ausdruck, der für sich genommen vielleicht nicht besonders sinnvoll ist, aber funktioniert. Noch ist etwas Zeit zum Termin. Die Sitzung des runden Tischs Dekolonialisierung beginnt erst um 15 Uhr, zum Glück.
Denn nur wer eine Idee davon hat, was dieses Wilhelmshaven eigentlich ist, bekommt eine Ahnung, was Dekolonialisierung hier bedeuten könnte: Sie muss alles infrage stellen. Und die Grundsätzlichkeit ihres Anliegens tritt nirgends in Deutschland deutlicher hervor als in der Kulisse dieser Stadt, die als ein Freilichtmuseum des Imperialismus durchgehen könnte: Wilhelmshaven und deutscher Imperialismus sind untrennbar miteinander verbunden. Die Stadt, einst nur für ihn erbaut, ist heute seine monumentale Allegorie.
Einzelne besonders grausame Kolonialverbrechen haben hier ihren Ausgangspunkt: So hatte das berüchtigte Kanonenboot „SMS Habicht“ hier seinen Heimathafen, seine Strafexpeditionen führten es nach Neu-Mecklenburg in Papua-Neuguinea, nach Kamerun und selbstverständlich auch in die Lüderitzbucht vor Deutsch-Südwest, wo die Marinetruppen am Völkermord an den Nama und Herero mitwirkten.
Greifbar wird an diesem Ort auch die von Globalhistorikern betonte Kontinuität zwischen Kolonialismus und NS-Verbrechen. So wird seit 1941 Kommodore Friedrich Bonte durch die Benennung des Kais am großen Hafen dafür geehrt, dass er und seine Zerstörerflotte am 9. April 1940 das neutrale Norwegen und Dänemark überfielen. Von hier aus.
Ein Verbrechen, auch wenn er dafür nicht verurteilt wurde, weil er dabei starb. Heute ist es eine sehr schicke Wohnadresse, und den Anliegern will keiner zumuten, ihren Briefkopf zu ändern.
Andere deutsche Küstenstädte haben eine ältere Kolonialismus-Geschichte: Emden war im 17. und 18. Jahrhundert der preußische Stützpunkt für den Versklavungshandel, Flensburgs Reichtum ist Frucht der Ausbeutung von Saint Thomas in der Karibik, wo Schwarze Menschen durch Arbeit im Zuckerrohranbau und in der Melasseküche vernichtet wurden.
Ende des 19.Jahrhunderts, als Wilhelmshaven bedeutsam wurde, ist das passé, aber anders als Emden oder Flensburg hat die Stadt keine Geschichte vor oder jenseits des Kolonialismus. Wilhelmshaven verdanke seine „Entstehung einzig und allein dem Machtstreben eines werdenden Weltstaates, das in dieser Stadt geradezu seine Verkörperung findet und sie deshalb in gleichem Maße künstlich mit sich emporreißt, wie dieses Streben seine Erfüllung erfährt“, so drückte es, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, ein gewisser Gerhard Kaiser aus. Der war Leiter des Industrieamts von Rüstringen, der fast hufeisenförmig um die Kasernen- und Militäranlagenstadt Wilhelmshaven herum gebauten Arbeitersiedlung.
Seine Analyse hat sich besser gehalten als sein vaterländisch-revanchistisches Pathos: „Das ist die DNA der Stadt“, so lautet die gegenwärtige Metapher für dasselbe Phänomen, nüchterner, ohne Sehnsucht nach verlorener Größe, schicksalsergeben. Alle Gesprächspartner*innen bemühen sie, mal mit, mal ohne Abtönung. Alle.
Wilma Nyari, runder Tisch Dekolonialisierung Wilhelmshaven
Aber ließe sich denn der Imperialismus dekolonialisieren? Kann so ein Projekt etwas anderes bedeuten, als Stück für Stück diese am Reißbrett entstandene Stadt abzutragen – bis zum Grundstein der Garnisonskirche, ihrer Keimzelle, den Wilhelm I., damals noch preußischer König, am 7. Juni 1869 gelegt hat?
Als 1853 der Jadevertrag zwischen den Ländern Oldenburg und Preußen das Vorhaben besiegelt, hier im schlickigen Niemandsland einen gigantischen Marinehafen zu bauen, schreibt er die Pflicht der preußischen Militärboote fest, die Handelsschiffe „zu schützen und zu vertheidigen“, die die eben nicht nur Wein aus Bordeaux und Portugal, sondern auch Tabak, Baumwolle, Kopra oder ganz allgemein „Kolonialwaren“ nach Norddeutschland transportieren.
Wilma Nyari ist eine große Frau. Energie strahlt sie aus, Tatendrang, eine echte Freude daran, etwas zu unternehmen blitzt aus ihren Augen. Ihr Leben – sorry, aber das ist ein Roman für sich. An die Nordsee gezogen ist sie erst vor sieben Jahren. Der Name ist ungarisch, die Mutter hat die Nazi-Zeit im Versteck verbringen müssen, weil Romni. Manchmal klingt ein hessischer Akzent durch, wenn Wilma spricht. Friedberg, da ist sie in einer Zeit aufgewachsen, als es in Deutschland reichte, ein Schwarzes Kind zu sein, um ins Heim zu kommen.
Die barmherzigen Schwestern haben sie dann rausgeschmissen, da war sie 13. Neue Einrichtung: Frankfurt am Main, städtisch. Als die drei Jahre später den Standort wechselte, hatte die Leitung die Insassin Wilma Nyari vergessen. Seither ist sie auf sich allein gestellt gewesen, immer, eckt an, gerade weil sie etwas los macht und, als Autodidaktin, eben oft andere Worte und auch andere Wege findet als die gewohnten.
Was vielleicht ganz gut ist bei einer Stadt, die, wirtschaftlich krass gebeutelt und gesellschaftlich eigentümlich fragmentiert, wirkt, als wisse sie nicht, was sie mit sich anfangen soll. Vor allem mit dieser beschissen-militaristischen Geschichte, für die man sich irgendwie schämt: Was soll man damit anfangen? Aber auch sonst so: Eine Stadt mit 10,1 Prozent Arbeitslosen kann ja schlecht am Standort einer Schwerindustrie-Anlage rumnörgeln, auch wenn es dort alle Nasen lang brennt und ins citynahe Wohngebiet qualmt. Aber lässt es sich dann noch zur Top-Adresse luxussanieren? Und wie verträgt sich das mit dem dringenden Wunsch, touristisch attraktiv zu sein, wenn die Rauchfahne den einzigen Festlandssüdstrand der Nordseeküste erreicht?
„Die Wilhelmshavener“, bestätigt der Regionalhistoriker Hartmut Peters den Eindruck einer gewissen Planlosigkeit, „neigen dazu, nicht zu sehen, was ihre Stadt ausmacht.“ Es gebe einen „regelrechten Selbsthass“, aus Unvermögen, mit dem Erbe umzugehen, dabei „ist die Stadt im Grunde eine einzige Attraktion – was Wilma Nyari mit ihrem Blick von außen sofort erkannt hat“.
Unfucking fassbar
Und es ist echt unfucking fassbar, was die Stadt dadurch an Chancen versiebt und Potenzial vernichtet: Als Wilma Nyari hierher zog, weil sie so begeistert war von Wilhelmshaven, stand zum Beispiel die Südzentrale noch. Eins der bedeutendsten Industriedenkmale Deutschlands, das ab 1908 für die Versorgung der Marine errichtete Elektrizitätswerk, reinster Jugendstil, das größte Europas bis weit in die 1920er, genutzt bis 1993. Ein Wahrzeichen gleich bei der Hafeneinfahrt.
Man hat es verfallen lassen, dann vertickt, der Investor hat's trotz Denkmalschutz und Bürgerprotesten abgerissen, 2015. Jetzt fehlt ihm offenbar die Kohle, um das Gelände anders nutzbar zu machen: Da gähnen Ruinen, eine klaffende Wunde. Unfucking fassbar findet Wilma Nyari, was hier an historischer Substanz verrottet, wie man Filetgrundstücke, die dadurch freiwerden, verramscht und wie mit ihnen spekuliert wird.
Sie spricht von einer „negativen Geschichtsschreibung“, als könnte man die Spuren verwischen, die Dinge, die nicht schön sind, „da hat man immer versucht ein Deckmäntelchen drüber zu legen“, sagt sie. „Aber da muss man ran, an Mord, an Genozid, da musst du ran“, schließlich gehe es darum „die Essenz rauszufiltern. Wir müssen etwas Positives daraus gewinnen“, sagt sie, „für die Gegenwart.“
Logisch, dass sie politisch aktiv ist. Landtagskandidatin war sie gewesen für die Grünen, die waren ihr aber zu rassistisch, ist sie also raus, hat den Landesverband der Partei „Die Urbane – eine Hiphop-Partei“ mitgegründet, „auch wenn ich mit Hiphop nichts am Hut habe“, wie sie sagt. Für ein Mandat hat es mit denen bei der Kommunalwahl 2021 aber nicht gereicht.
Das kann Wilma Nyari, mit Jahrzehnten aktivistischer Arbeit in Hessen auf'm Buckel, nicht bremsen. Hat sie halt ohne Mandat den runden Tisch ins Leben gerufen, im Sommer. Und das Verrückte ist: Es funktioniert. Schon jetzt hat das Küstenmuseum, das auch die Stadthistorie mitbearbeitet, „auf Anregung des runden Tischs Dekolonialisierung“ die Wanderausstellung „Homestory Deutschland“ hergeholt, eine Biografien-Sammlung der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland.
„Das passt zu uns“, sagt Museumsleiter Sven-Hinrich Siemers. Gerade erforsche man in Kooperation mit der TU Berlin die Provenienz der eigenen Bestände aus kolonialen Kontexten. „Und dabei kam die Frage auf, inwieweit gibt es auch eine Schwarze Geschichte Wilhelmshavens?“ Die ist noch unerforscht, völlig, „ein weißer Fleck“, so Siemers. Aber „es müsste eigentlich eine Präsenz von Menschen aus den Kolonien hier im Stadtgebiet gegeben haben“, sagt der Archäologe.
Die Arbeitstreffen der Dekolonisierer*innen finden etwa einmal pro Monat statt. Sie versammeln nicht nur die hochmotivierten studentischen Zirkel, die Dekolonialisierung, verdienstvoll, besten Willens, enthusiastisch in Uni-Städten wie Hamburg, Bremen oder Freiburg auf die Tagesordnung gesetzt haben.
Hat etwas von einer Graswurzelbewegung
Ohne deren Impulse würde sich auch in Wilhelmshaven nix rühren. Aber anders als dort droht der Diskurs hier nicht ins Akademisieren abzugleiten. Es hat viel mehr etwas von einer Graswurzelbewegung, an der bewährte Altlinke wie Regionalhistoriker Peters ebenso selbstverständlich teilnehmen wie Ingenieurin Jessica Obame Angoue, die im Herbst die Afrika Union Wilhelmshaven-Friesland gegründet hat, Siemers ist auch dabei und ebenso der Kurator*innen und der Direktor des Deutschen Marinemuseums, Stephan Huck, das, vom Verteidigungsministerium gesponsert, finanziell ein bisschen mehr Beinfreiheit hat. Sich an der Diskussion zu beteiligen, sei „eine Frage der Professionalität“, sagt Huck. Schließlich „gehören das Thema Kolonialismus und Marine unmittelbar zusammen“.
Die Dauerausstellung des Marinemuseums lässt daran keinen Zweifel: Gleich zu Beginn des Rundgangs konfrontiert sie die Besucher*innen mit einem Neuruppiner Bilderbogen. Der diente dazu, Kindern in der Kaiserzeit zu veranschaulichen, wie süß es ist, uniformiert und mit Gewehr fürs Vaterland auf kaum bekleidete Schwarze Menschen zu schießen.
Immerhin war der blanke Revisionismus, den die Sammlung früher zur Schau stellte, unter Hucks Leitung allmählich kritischerer Reflexion gewichen. Derzeit befinde man sich „in einem Umbruch und Neukonzeptionsprozess“. Der soll auch wegführen von der Täterfixierung: „Wir müssen auch die umgekehrte Perspektive einnehmen“, so der Historiker. Keine kleine Herausforderung: Die Opfer sind tot. Die Sammlungs-Objekte sind Tatwerkzeuge oder dienen der Feier der Verbrechen.
Auch die Namibia-Hilfe ist beim runden Tisch vertreten, die Unternehmerin Diana Thiam kommt regelmäßig, wenn die Treffen am Nachmittag sind, das Migrationsamt und Leute vom Team der NS-Gedenkstätte sind dabei, der Pastor der Garnisonskirche, in der mit geschnitzten U- und Torpedobooten verzierte Eichenholzbänke stehen, engagiert sich und, nicht unwichtig: auch Michael Diers, nur wird er diesmal leider verhindert sein. Diers ist Geschäftsführer der kommunalen Tourist-Info, die sich mit weltläufiger Selbstironie seit jeher WTF nennt.
In diese GmbH hat die Stadt einst fast die Gesamtheit der kommunal verwalteten musealen Einrichtungen und künstlerischen Aktivitäten outgesourct, was viel übers örtliche Kulturverständnis sagt. In seinem Büro hängt gerahmt das Zertifikat des Guiness-Buchs der Rekorde, das bestätigt, dass 2005 in Wilhelmshaven das bislang größte Labskaus-Essen der Menschheitsgeschichte durchgeführt wurde. Diers muss lachen, wenn er zur Begrüßung als heimlicher Kulturdezernent angesprochen wird, „das dürfen Sie dem echten Kulturdezernenten nicht sagen“, weist er den Titel vergnügt zurück.
Wilhelmshaven Im Jadevertrag erlaubt das Land Oldenburg dem Land Preußen 1853, auf seinem Territorium am stets eisfreien Jadebusen einen Kriegshafen zu errichten, erhält im Gegenzug Geld und die Protektion des Seehandels unter Oldenburger Flagge: Das ist die Voraussetzung für die Gründung von Wilhelmshaven, das 1869 bei der Grundsteinlegung für die Garnisonkirche durch Preußenkönig Wilhelm I. seinen Namen erhält. Nach Reichsgründung 1871 dient die Stadt daher neben Kiel als Ausgangspunkt für die staatlichen Expansionsbestrebungen in Afrika, Südsee und China.
Kontinuität Anders als in verzerrender nationalhistorischer Perspektive lange dargestellt setzt die deutsche Politik den von einzelnen Ländern, Hafenstandorten und hanseatischen Handelshäusern betriebenen Kolonialismus fort, der die Geschichte der norddeutschen Küste seit dem 17. Jahrhundert prägt: So waren das preußische Emden und die dänischen Städte Husum und Altona ebenso wie Hamburg und das britisch-hannoversche Harburg Standorte des Versklavungshandels. Flensburg, ebenfalls dänisch, bezog seinen Reichtum von den Zuckerrohrplantagen der westindischen Insel Saint Thomas.
Sklaverei Nachdem Europa beginnt, Sklavereiverbote zu erlassen (das erste initiiert 1792 ausgerechnet Ernst-Heinrich Schimmelmann, Sohn eines Sklavenhändlers aus Ahrensburg, in seiner Zeit als dänischer Finanzminister), wird der Kampf gegen den Sklavenhandel (neben der Missionstätigkeit) zu einem legitimatorischen Vorwand für die Inbesitznahme und Ausbeutung von Ländereien südlich des Äquators.
„Ich will etwas machen“, das ist Diers' Selbstverständnis, „ich möchte etwas bewegen in dieser Stadt, sie in eine andere Perspektive bringen.“ Vielleicht gerade weil das ihr genauso geht, knirscht es zwischen Wilma Nyari und Diers mitunter bei den Runden-Tisch-Gesprächen, das wissen beide. Sie sei halt manchmal vielleicht zu anspruchsvoll, sagt er, sich selbst attestiert er „eine bollerige Art“, das kann aufeinander krachen.
Aber in der Sache sieht Diers sich ganz bei ihr. Er lobt sie dafür, dieses Thema in Wilhelmshaven überhaupt erst mal gesetzt und zudem all jene zusammen getrommelt zu haben, die er „die Player hier“ nennt.
„Das ist das Schöne an der Gruppe, dass die Player alle sofort erkannt haben, dass das wichtig ist für die Stadt.“ Alle seien „sehr ergriffen von dem Thema“, sagt er. Von der Verwertungslogik, die eine Ausrichtung von Kultur an touristischen Bedürfnissen doch auch impliziert, sieht er sich bei der Frage der Dekolonialisierung jedenfalls nicht eingeschränkt. „Ich glaube“, sagt Diers, „dass gerade diese Dissonanzen spannend sind.“ Jetzt müsse es darum gehen Formate und Veranstaltungen zu finden, um diese Spannung in die Stadt zu tragen.
Aber wie? Sich darüber zu verständigen hat, gerade weil das Thema so umfassend, so vielschichtig, so überbordend ist, weil die Ziele, die Zwischenschritte, so unklar bleiben, auch etwas unendlich Mühseliges, wie jede Arbeitssitzung. Es gibt Rückschläge, den Black History-Month, den man ursprünglich hatte organisieren wollen, muss man fürs erste vertagen.
Auch ist zwar Konsens, dass etwas geschehen muss. Aber es muss halt finanziert werden. Und vorbereitet. Und von wem? Es muss ja auch das Richtige sein, bitte kein Tritt ins Fettnäpfchen, was ja auch immer passieren kann. Diers' Vorschlag vom letzten Mal zum Beispiel, etwas zu veranstalten, was er „Parade der Kulturen“ genannt hatte, und für die er schon Termine geblockt hat, naja, also angesichts des militaristischen Kontexts…
Also Wilma Nyari würde das, „und deshalb ist es so schade, dass Herr Diers heute nicht da ist“, sagt sie, also sie „würde das gerne durch einen Diaspora-Preis nach Bremer Vorbild ersetzen“. Dessen Erfinderin Virginie Kamche ist auch eigens zur heutigen Sitzung angereist, um zu erklären, wie sich Initiativen und Vereine von Menschen mit Migrationserbe oder globaler Biografie bewerben und sich präsentieren können, öffentlich, und sich sichtbar machen. Wahrnehmbar. Als Player.
Das hier ist fundamentaler
„Diese Sichtbarkeit, das ist extrem wichtig“, sagt Wilma Nyari. „Das hat eine Selbstwirksamkeit.“ Nanu? Es soll doch hier um Dekolonialisierung gehen. Und im Kopf hast du dann Konzepte von Restitution, Raubkunstrückgabe, die Überführung von Human Remains, die Ethnologen der Kaiserzeit in Übersee geklaut haben und ein bisschen demokratische Bilderstürmerei, die gerade in einer Stadt nottäte, in der 2015 noch ein Bismarck-Denkmal aufgestellt wurde.
Aber das hier ist fundamentaler. Denn Voraussetzung für Kolonialisierung ist, den zu Kolonisierenden aus dem Zentrum, aus dem Licht des Seins zu drängen, so hat es der argentinische Philosoph Enrique Dussel einst analysiert. Diese Hierarchie des Blicks umzuwälzen, sich selbst zu zeigen, das ist Voraussetzung dafür, dieses Herrschaftssystem, das informell noch existiert, zu beseitigen.
Das bedeutet nicht, seine beweiskräftigen Spuren zu tilgen, sie verfallen zu lassen, abzureißen. Im Gegenteil. „Wie soll denn eine Stadt“, fragt sie, „anders ein Selbstbewusstsein entwickeln, als indem sie sich ihrer Geschichte stellt.“
Wilhelmshaven hat allen Grund vor dieser unfucking fassbaren Dimension zu erschrecken. Welthistorisch ist für sie das richtige Wort. Und klar, diese Stadt zu dekolonisieren, das überfordert sie, das hat etwas von Größenwahn. Aber eine andere Chance hat sie nicht.
Hinweis: In einer früheren Version des Textes hatte ich irrtümlich geschrieben, Wilma Nyari, sie Stadtratsmitglied gewesen. Das basiert auf einem Missverständnis meinerseits und ist falsch. B.S.
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