Wiederkehr des Klassismus: In Moral verbarrikadiert

Die Klassenfrage wird seit neuestem wieder vermehrt gestellt – allerdings identitätspolitisch und mit moralischem Unterton.

Reinigungskräfte auf dem Parteitag der Grünen in der Dortmunder Westfalenhalle im Januar 2009 Foto: Martin Meissner/ap

Am Identitätshimmel ist ein neuer Stern aufgegangen. In den USA altbekannt, wurde er hier erst kürzlich (wieder-)entdeckt. Er trägt den Namen „Klassismus“. Ein bedeutungsschwangerer Begriff – denn die Bedeutung, die er in seinem Bauch trägt, wiegt schwer: Es ist die Klasse. Auferstanden aus den Ruinen der Linken, ist sie zum „Klassismus“ mutiert. Klassismus meint Vorurteile und Diskriminierungen aufgrund der sozialen Herkunft. Das sind abschätzige Blicke, herablassende Gesten, das Herabschauen – Klassismus richtet sich vorwiegend gegen Schlechtergestellte. Er reicht von mangelnder Anerkennung bis hin zur offenen Verachtung.

Solches zu benennen heißt, es zu kritisieren. Das schafft ein Bewusstsein, dass Klassen mehr sind – immer mehr waren als rein ökonomische Kategorien. Ein gegensätzliches Verhältnis, wo Ausbeutung flankiert ist von Geringschätzung. Mal expliziter – mal diskreter als die „feinen Unterschiede“, wie sie der Soziologe Pierre Bourdieu sichtbar gemacht hat. In jedem Fall aber dient solcher Klassismus sowohl als Legitimation der Unterdrückung – als auch als Besiegelung des Klassenschicksals. So wehrt eine Gesellschaft allzu heftigen sozialen Aufstieg ab.

Klassismus findet sich, in der Definition des US-Ökonomen Chuck Barone, auf drei Ebenen: als Unterdrückung durch das ökonomische System; als Vorurteil gegen Gruppen und als individuelle Vorbehalte. Bezeichnend, dass der nunmehr wiederentdeckte Klassismus sich allerdings auf die zweite und dritte Ebene konzentriert.

Diskriminierung und Anklage

Denn solcherart wird die soziale Frage in eine Frage der Diskriminierung verwandelt. Sie wird in einen Moraldiskurs eingeschrieben, der folgerichtig mit den entsprechenden Methoden exorziert werden soll: Anti-Klassismus-Trainings, um klassistische Einstellungen zu überwinden.

Das bedeutet nichts weniger als die Wiederkehr der Klassenfrage als Identitätspolitik. Die Klasse wird zur Identität und der Klassismus zur identitätspolitischen Ausgrenzung. Das ist kein Wunder – denn Identität bildet heute unseren ideologischen Horizont. Identität ist die Form, in der gesellschaftliche Konflikte heute ausgetragen werden – wie man in Abwandlung von Karl Marx sagen könnte. Identitätspolitik aber ist immer Anerkennungspolitik. Bei race und gender ist klar, auf welche Anerkennung das abzielt. Aber bei der Klassenzugehörigkeit? Was ist das Ziel, die Utopie des Klassismus-Diskurses: eine glückliche Unterschicht, glücklich, weil man sie nicht mehr so nennen darf?

Das ist natürlich billige Polemik, wird man einwenden. Denn es ginge nicht um entweder – oder. Nicht: entweder ökonomische Verteilungskämpfe oder respektvoller Umgang. Nicht: entweder Geld oder Anerkennung. Nicht: ökonomisches oder symbolisches Kapital. Es ginge vielmehr um das Und. Um beides. Wie zuletzt etwa Olaf Scholz bekräftigt hat.

Identitätspolitische Festschreibung

Aber hier übersieht man einen entscheidenden Punkt: Die identitätspolitische Festschreibung verhindert genau das. Sie verhindert das Und, das Beides – weil sie sich in ihrer Ausschließlichkeit, in ihrer Moral verbarrikadiert. Einbunkert. So wie sie den Klassismus auf dieser Ebene festnagelt. Weil sie keine allgemeinen, umfassenden Konzepte mehr zulässt. Nur noch individuelle. Mit dem Effekt, dass die notwendige Anerkennung ebenso wie die notwendige Solidarität umcodiert wird.

Solidarität basiert auf Gemeinsamkeit, auf etwas, das man teilt. Früher war das die Klassenlage. Heute aber werden Anerkennung und Solidarität nur noch imaginär gefasst. Im Sinne eines Spiegelbilds. Verbindend sind nicht die Verhältnisse. Verbindend ist vielmehr die Ähnlichkeit. Wie bei race und gender. Nun wird auch Klasse zu einer solchen Identität. Um es klar zu sagen: Ja, es braucht soziale und symbolische Anerkennungskämpfe. Niemand will eine Rückkehr zum kruden Ökonomismus. Aber Richtung und Dynamik, die die Identitätspolitik genommen hat, sperren sie in ein Spiegelkabinett. Und das ist heute ihre Crux. Genau das macht all die notwendigen Kämpfe um Anerkennung zur Sackgasse.

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