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Identitätspolitik und Wissenschaft„Jede Generation hat ihre Agenda“

Der Soziologe Steffen Mau wirft im Gespräch einen differenzierten Blick auf die Debatte um Identitätspolitik.

Demo der Black-Lives-Matter-Bewegung auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof Foto: Markus Schreiber/ap
Edith Kresta
Interview von Edith Kresta

taz: Herr Mau, rund 70 Wis­sen­schaft­le­r*in­nen haben sich zum Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zusammengeschlossen. Sie sehen die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit der Forschung und Lehre durch identitäts­politische Gruppen zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt und ihr wissenschaftsfremde Grenzen gesetzt. Wie stehen Sie dazu?

Steffen Mau: Ich erlebe es nicht so. Es gibt sicher Randbereiche, wo es intensivierte Konflikte über das Sagbare gibt und Überempfindlichkeiten Platz ­greifen. Aber eine pauschale Bedrängnis für das Wissenschaftssystem sehe ich nicht. Ich würde sagen, das sind Auseinandersetzungen, die wir immer wieder erlebt haben: etwa im Kontext der Reform der Universität oder der 68er-Bewegung. Aber dass der gesamte Wissenschaftsbetrieb davon bedroht sei, das kann ich einfach nicht beobachten. Viel heftiger sind Angriffe von außerhalb des Wissenschaftssystems, wenn man etwa an die Migrationsforschung oder die Genderstudies denkt.

Die oft kritisierte Cancel Culture existiert also nicht?

Den Begriff würde ich mir nicht zu eigen machen, aber es gibt natürlich schon Diskursverschiebungen, wo man genau hinschauen muss, ob sie einen emanzipatorischen Kern tragen oder zu entleerten Gesinnungsgefechten werden, die sich gegen Personen und nicht gegen Argumente richten. Wenn man jetzt die Frage anspricht, wer legitimerweise für wen und worüber sprechen darf, dann gibt es gut begründete Vorstellungen einer gleichberechtigten Kommunikation, wo jeder, soweit auf dem Boden unserer Verfassung stehend, erst einmal eine Stimme hat. Und das sind natürlich Prinzipien, an denen wir festhalten sollten – sie machen Demokratie und Wissenschaft aus, wobei es bei Letzterem um wissenschaftliche Geltungskriterien gehen muss.

Im Interview: Steffen Mau

Professor für Makro­soziologie an der HU Berlin. Seine Themen: Ungleichheit, Transnationalisierung, europäische Integration, Migration. Er schrieb den Bestseller „Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“.

Nichtsdestotrotz gibt es auch Gruppen, die sagen, wir wollen erst einmal für uns sprechen, wir wollen nicht in einen gleichberechtigten Diskurs eintreten, weil dieser auf asymmetrischen Machtstrukturen basiert, was wiederum eine legitime Kritik sein kann. Ich halte das für ein Übergangsphänomen einer Gesellschaft mit pluralen Anerkennungsansprüchen. Das ist etwas, mit dem wir erst einmal leben müssen.

Wie würden Sie diesen Übergang als empirischer Sozialwissenschaftler fassen?

Es gibt eine erhöhte Sensibilisierung für Themen, die wir bislang ausgeblendet oder sogar tabuisiert haben. Dazu gehört eine größere Sichtbarkeit von marginalisierten Gruppen, die berechtigte Anliegen in die Mitte der Gesellschaft hineintragen, und ein Bewusstsein darüber, dass Diversität nicht etwas ist, was sich aus dem politischen Raum heraushalten lässt, weil wir sagen, wir sind doch alle gleich oder alle haben die gleichen grundgesetzlichen Rechte. Man muss sehen, dass für die Frage der Teilhabe mehr als Rechtsgleichheit notwendig ist. Es gibt über das Formale hinausreichende Anerkennungsforderungen, die aus Erfahrungen der Randstellung und Missachtung herrühren und für die wir noch keine hinreichenden politischen Modi der Bearbeitung gefunden haben. Das sind Entwicklungen, die jetzt in Gang gesetzt werden.

Betrifft das auch die Anliegen der Ostdeutschen?

Ja. Es ist eine Mobilisierung von Gruppen, die bisher mehr oder weniger stillschweigend ihre Position eingenommen haben und jetzt manchmal sehr vehement und zuweilen moralisch rigoros versuchen, ihren Platz zu erkämpfen oder Sichtbarkeit zu erlangen. Auf diese Auseinandersetzung müssen wir uns einlassen, daran führt kein Weg vorbei. Wir als Gesellschaft müssen aushandeln, wie wir diesen Anliegen gerecht werden können, ohne wichtige institutionelle Errungenschaften zu gefährden. Das ist allein mit diskursiver Eskalation nicht zu machen, man braucht auch Kompromissformeln und neue Formen der Wechselseitigkeit.

Wenn Identitätspolitik eine Form der politischen Mobilisierung von Minderheiten ist, was bedeutet für Sie Identität?

Identitäten werden erst hergestellt – sie sind kein Apriori –, und zwar nicht nur durch die Gruppen selbst, sondern auch als Zuschreibung. Identität entsteht in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und muss daher als Prozess begriffen werden. Ebenso ist es falsch zu glauben, dass mit irgendeiner Identität eine bestimmte politische Bewusstseinsbildung einhergeht. Da gibt es keinen Automatismus.

Konkret?

Bezogen auf die Ostdeutschen zum Beispiel ein essenzialistisches Identitätsverständnis: Das wären etwa die Ostdeutschen als Mitglieder eines Stammes, einer Abstammungsgemeinschaft oder eines durch Kultur und Sitten zusammengehaltenen Kollektivs. Sie hätten Eigenschaften, die allen eigen und letztlich unverrückbar sind. Das ist aber mitnichten so. Ostdeutscher wird man erst in einem Prozess der Auseinandersetzung mit sozialen Erfahrungen und durch Zuschreibungen von außen oder indem man sich kollektiv über bestimmte Identitäten verständigt. Das ist kein stabiler Kern, sondern wird gesellschaftlich gemacht. Identität ist etwas unglaublich Komplexes, etwas, das ständig im Fluss ist. Identitäten können sich deshalb auch transformieren. Das trifft ja für die ostdeutsche Identität ganz eindrücklich zu. Zwischen 1989 und heute unterscheidet sich das „Ostdeutsche“ enorm. Es unterscheidet sich nach Generationen, Gruppen und Regionen, es kann als reaktionärer Osttrotz wie als emanzipatorischer Oststolz auftreten.

Die jungen Leute kommen mit anderen Themen?

Das ist so, jede Generation hat ihre Agenda, ihre zeitgeschichtlichen Bezugsräume, ihre Bewusstseinsformen. Junge Menschen sind oft sehr sicher in ihren Meinungen, sehen sich auf der Höhe der Zeit, Ältere denken eher zyklisch und erfahrungsgeprägt, zudem gibt es natürlich auch einen nicht zu leugnenden Alterskonservatismus. Wenn es schnellen und durchgreifenden sozialen Wandel gibt, prallt das stärker aufeinander, als wenn alles geruhsam dahinfließt.

Und ein Wolfgang Thierse wird heute nicht mehr auf den Gender-Zug der jungen Generation aufspringen. Ist das schlimm?

Nein, das muss man auch etwas gelassener sehen. Die Lebenswelten sind heute andere; das, was man für wichtig hält, auch. Wolfgang Thierses großes Lebensthema ist der auch persönlich riskante Kampf gegen eine Diktatur und das Ankommen in einer Demokratie, er wird Transgenderfragen kaum dieselbe Aufmerksamkeit schenken und sie ganz oben auf die Agenda setzen, selbst wenn sie für andere aufgrund ihrer Erfahrung genau dort hingehören. Unterschiedliche Erfahrungshorizonte, diverse Betroffenheiten, jeweils andere Herkünfte – das muss man aushalten.

Es gibt keine pauschal zu verstehende identitätspolitische Vorrangigkeit, es gibt keinen letzten Wahrheitsanspruch, den man aus der eigenen Befindlichkeit oder Betroffenheit ableiten kann. Es gibt nur die Verpflichtung der Mehrheitsgesellschaft, die eigene Perspektive zu dezentrieren und diesen neuen Diskursen und Stimmen Raum zu verschaffen. Alles andere muss weiter miteinander diskutiert und verhandelt werden.

Aber oft tritt Identitätspolitik als einzige gültige Wahrheit auf.

Ich wundere mich zuweilen auch über manche Selbstgewissheit und das Kippen in unverstellten Partikularismus. Das betrifft aber nicht die Breite der Anerkennungsbestrebungen, sondern allenfalls bis zur Karikatur verfremdete Überspitzungen. Das sollte man nicht verwechseln. Aber der Perspektivwechsel ist immer eine gute Strategie der eigenen Erdung und Welterkundung. Als ich in meiner Lehrzeit drei Jahre im Schiffsbau gearbeitet habe, da musste ich mich mit anderen Lebenswelten auseinandersetzen und lernen, andere Perspektiven, die ich mir nie zu eigen machen würde, nicht von vornherein moralisch abzuwerten. Sie sind oft durch sehr andere Existenzformen entstanden.

Und warum scheint das für viele Verfechter der Identitätspolitik so schwierig zu sein?

Das liegt auch an vielen Biografien der jungen Verfechter von Identitätspolitik. Sie gehen durch die Bildungsinstitutionen und bewegen sich in gleichgesinnten Milieus, das Leben außerhalb ist oft wenig vertraut. Der Blick reicht nicht weit hinaus über die Diskurs­kontexte, wie sie an den Bildungsinstitutionen und in den Medien stattfinden. Damit nehmen sie sich Lernmöglichkeiten, die man durch Irritation und Befremdung des Selbstverständlichen gewinnt. Für Menschen aus migrantischen Familien oder Arbeiterkinder an Universitäten liegt die Sache naturgemäß anders, da gibt es biografisch schon immer den Rückverweis auf andere Erfahrungshorizonte.

Oft wird identitätspolitischen Grup­pen vorgeworfen, sie verträten nur eigene Interesse und spalteten damit die Gesellschaft …

Das gilt mit historischem Blick für alle Bewegungen, ob es die Arbeiterbewegung, die Bürgerrechtsbewegung oder den Feminismus betrifft. Alle haben erst einmal für sich selbst gesprochen und eigene Interessen in den politischen Raum hineingebracht. Ähnlich ist es mit der Identitätspolitik. Sie erinnert die Gesellschaft daran, dass es normative Gleichheitsansprüche gibt, die aber de facto nicht eingelöst sind. Ob das zu partikularistisch ist, das muss man im Einzelfall anschauen, ich vermute aber, dass dieser Vorwurf in dieser Pauschalität nicht trägt.

Sehen Sie die Spaltung in Kulturlinke und Soziallinke?

Dazu haben wir eigene Studien gemacht, die zeigen, dass sich die meisten Leute nicht so eindeutig in eine der Gruppen einordnen lassen, sondern unterschiedliche Anliegen gleichzeitig in den öffentlichen Raum hineinbringen können. Wenn man das weiß, dann ist diese doch sehr aufgeregte Diskussion über Spaltung etwas überzogen. So einfach und so polarisiert ist die Gesellschaft nicht.

Wird der Konflikt mit identitätspolitischen Ansätzen in den Medien hochgeschrieben?

Dass es so hoch schießt, hat auch etwas mit Medienaufmerksamkeiten zu tun. Unter anderen Bedingungen und zu anderen Zeiten wäre vielleicht so ein Thierse-Aufsatz einfach unter den Tisch gefallen. An den meisten Leuten geht diese Diskussion vorbei.

An den „Normalen“?

Es gibt so Triggerpunkte der Kon­tro­verse, die betreffen aber nicht die generelle Einstellung der Gesellschaft zu Gleichstellung. Wenn ich jetzt sage: „Es darf kein indisches Essen in der Mensa geben, das ist kulturelle Aneignung“, oder wenn Rastazöpfe in Paderborn flechten als Problem gerahmt wird, dann ist das für viele überzogen und kann zum Aufreger werden.

Aber wenn es darum geht, dass Transpersonen gleiche Anerkennung bekommen, dass homosexuelle Paare Kinder adoptieren können, dann ist unsere Gesellschaft relativ liberalisiert und weiter und weniger gespalten, als das der mediale und politische Diskurs suggeriert. Wir haben auch dazu eigene Untersuchungen gemacht, und da sehen wir, dass in der Breite die Bevölkerung anerkennungsbereit ist. Und dass sie sich vor allem an den identitätspolitischen Spitzen und Übertreibungen stößt, nicht an wichtigen emanzipatorischen Anliegen.

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17 Kommentare

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  • "... , dass sind Auseinandersetzungen ..."

    Da hat sich ein Fehler eingeschlichen.

  • Also mit einigen Sachen habe ich so meine Probleme.



    Zum Beispiel das hier:

    "Nein, das muss man auch etwas gelassener sehen. Die Lebenswelten sind heute andere; das, was man für wichtig hält, auch. Wolfgang Thierses großes Lebensthema ist der auch persönlich riskante Kampf gegen eine Diktatur und das Ankommen in einer Demokratie, er wird Transgenderfragen kaum dieselbe Aufmerksamkeit schenken und sie ganz oben auf die Agenda setzen, selbst wenn sie für andere aufgrund ihrer Erfahrung genau dort hingehören. Unterschiedliches Erfahrungshorizonte, diverse Betroffenheiten, jeweils andere Herkünfte – das muss man aushalten."

    Ich, als transgeschlechtliche Frau, kann doch wohl erwarten, wenn das Bundesverfassungsgericht 2011 einen Urteil festgestellt hat, dass das Transsexuellengesetz in weiten Teilen verfassungswiderig ist, dann 2021 eine verfassungskonforme Lösung gefunden ist. Ich möchhte schließlich auch mal in der Demokratie ankommen können.



    So viel Verständnis kann ich ja wohl von anderen Menschen erwarten.

  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    Frage : Oft wird identitätspolitischen Grup­pen vorgeworfen, sie verträten nur eigene Interesse und spalteten damit die Gesellschaft …

    Mau : Das gilt mit historischem Blick für alle Bewegungen, ob es die Arbeiterbewegung, die Bürgerrechtsbewegung oder den Feminismus betrifft.................

    ===

    Die Arbeiterbewegung hat Ihre Interessen formuliert - letztendlich über das Vehikel der Gewerkschaften, die bis heute, allerdings mit abnehmender Relevanz, Tarifverträge aushandeln/bzwh. periodisch erneuern. Beide Seiten sitzen an einem Tisch - schauen sie sich die Arbeit der Betriebsräte in den Konzernen oder größeren Betrieben an - unterschiedliche Interessen ja - aber Spaltung?

    Bei Bürgerrechtsbewegungen sollte man genauer hinschauen von welchem Land oder von welcher Region man spricht wenn es darum geht Spaltung zu detektieren.

    Identitäre Bewegungen hingegen erzeugen/verstärken Verlustängste in den Bevölkerungsgruppen, die sozial eher am Rand stehen oder mit dem Gefühl kämpfen, sich in einem Prozess der Desintegration im Vergleich zu einer häufig eher imaginären Mehrheitsgesellschaft zu befinden.

    Beispiel/These:



    Wenn es nach 1989 ähnlich viele effektiv arbeitende Integrationshelfer in der zusammenbrechenden DDR gegeben hätte, die mit Engagement für Strukturen, Bildung und fließende Übergänge und für Einkommen abseits von Harz 4 gesorgt hätten - würde es den Widerstand in dieser Größenordnung gegen die Integration von Flüchtlingen ab 2015 und in dieser Form nicht geben.

  • Die aktuelle Identitätspolitik 2.0 ist eine Identitätspolitik ‘on steroids’ - und darin besteht ihre Problematik: Allein die Dosis macht das Gift.

    Radikale Maßlosigkeit ist ihr Kennzeichen: Maßlos die Übertreibungen, maßlos die Forderungen.

    Nichts macht den Bruch der aktuellen Identitätspolitik mit universellen Gleichheitsprinzipien deutlicher als das Schicksal der Forderung nach 'Farbenblindheit': Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter zu beurteilen.



    Zur Zeit M. L. Kings galt sie als 'radikal' - heute gilt sie den Anhängern der (woken) Identitätspolitik als 'rassistisch'.

    Insofern steht die heutige Identitätspolitik NICHT in der Tradition der frühen Bürgerrechtsbewegungen der Schwarzen, der Frauen, der Schwulen.

    Auch diese Bewegungen betrieben eine Form von Identitätspolitik, aber im Gestus: 'Wir zusammen für gleiche Rechte'.



    Die Perspektive war 'Farbenblindheit'. Das Programm war, den Kategorien der Hautfarbe (des Geschlechts) soziale Bedeutung zu entziehen.



    Alle Menschen, gleich welcher Hautfarbe, gleich welchen Geschlechts, gleich welcher sexuellen Orientierung sollten nicht (in erster Linie) als 'Weiße', 'Frauen', 'Lesben' gelten - sondern als Menschen.

    Mit ihrem versöhnenden Gestus hatte diese (eher liberale) Identitätspolitik die Herzen der Mehrheit der Bevölkerung gewinnen können. Sie hat Spaltungen reduziert.

    Der Gestus der heutigen Identitätspolitik scheint eher: 'Wir zusammen GEGEN die anderen.' Statt der ausgestreckten Hand der Versöhnung die gereckte Faust der Revanche.

    Während in der früheren Identitätspolitik das 'Wir-Zusammen' nur als taktisches, temporäres Konstrukt in der Perspektive seiner Überwindung (Farbenblindheit) gedacht wurde, pflanzt die woke Identitätspolitik (Opfer-)'Identität' als zentrale Kategorie in die Seele der Menschen ein.



    Sie lädt die Kategorien der Hautfarbe, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung wieder mit sozialer Bedeutung auf.

    Das ist nicht ungefährlich.

    • @Weber:

      on steroids waren die 68er auch, gespalten haben sie auch, gewirkt haben sie trotzdem auf alle, und am Ende hatten wir ein besseres Land als davor. Manche Veränderungen tun eben ein bisschen weh, vor allen Dingen denen, die sich so sicher sind, schon alles zu wissen und auf jeden Fall auf der richtigen Seite zu stehen.



      Ich finde es sehr interessant zu beobachten, wie viele ältere Menschen, die in ihrer Jugend die ganze Weltordnung in Frage gestellt haben und absolut nicht zimperlich waren mit dem Aufbrechen angelernter Verhaltensweisen und normaler, höflicher Umgangsformen, jetzt ein Problem damit haben, dass junge Menschen genauso radikal sind, wie sie selbst es waren. Als hätten sie ein Monopol darauf. Und sie entrüsten sich genauso, wie ihre Eltern es damals taten. Vielleicht muss das so sein. Ich kann nur aus meiner eigenen Perspektive sagen, dass die Welt sich für mich als Frau in den letzten 10 Jahren radikal schneller verbessert hat als in den 30 jahren davor. Und das finde ich gut.

    • @Weber:

      I must make two honest confessions to you, my Christian and Jewish brothers. First, I must confess that over the past few years I have been gravely disappointed with the white moderate. I have almost reached the regrettable conclusion that the Negro's great stumbling block in his stride toward freedom is not the White Citizen's Counciler or the Ku Klux Klanner, but the white moderate, who is more devoted to "order" than to justice; who prefers a negative peace which is the absence of tension to a positive peace which is the presence of justice; who constantly says: "I agree with you in the goal you seek, but I cannot agree with your methods of direct action"; who paternalistically believes he can set the timetable for another man's freedom; who lives by a mythical concept of time and who constantly advises the Negro to wait for a "more convenient season." Shallow understanding from people of good will is more frustrating than absolute misunderstanding from people of ill will. Lukewarm acceptance is much more bewildering than outright rejection.



      Martin Luther King Junior, Letter from a Birmingham Jail, via www.africa.upenn.e...er_Birmingham.html

      re: Farbenblindheit: Ich kann kein Rassist sein, ich bin farbenblind und für mich zählt nur der Mensch.

  • Differenziert, auf den Punkt. Damit ist alles gesagt. Danke dafür!

  • Schön zu sehen, dass man das Thema auch sachlich und differenziert besprechen kann.

  • Ja, angenehm entspannt und differenziert. Allerdings scheint mir es doch einen blinden Fleck zu geben, nämlich die Annahme, dass Identitätsbildung und Sichtbarwerdung von den Akteuren auch tatsächlich als Schritt zur Verwirklichung von Rechten und Anliegen gesehen werden. Dass diese Prozesse also wirklich konstruktiv sind und die Debatte erweiternd. Das trifft aber sehr oft nicht zu. Es formen sich ja - vielleicht sogar überwiegend- kollektive Identitäten, Gruppen, die gar keine gesellschaftliche Debatte wollen, sondern nur die Durchsetzung ihrer Ansichten. Oder solche, die von Egoismen bestimmt sind oder von Selbstvergewisserungsspielchen und inneren Machtkämpfen. Oder die Veränderung unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit bekämpfen. Die sogenannten Identitäten und ihre Bildung sind letztendlich einfach billig, unterkomplex und antigesellschaftlich bis hin zum antidemokratischen Tendenzen, und deswegen sind sie auch so beliebt. Und wir erleben folglich in Wirklichkeit eine gesellschaftliche Fragmentierung, verschärft auch noch durch die mediale Fragmentierung, man kann da nicht einfach so tun, als würden diese ganzen Entwicklungen schon irgendwie doch letztendlich konstruktiv verlaufen.

    • @Benedikt Bräutigam:

      Mir scheint gerade, dass bei dem blinden Fleck stark die vom Gleichstellungsbeauftragten unten angesprochene mediale Aufmerksamkeit mit hineinspielt, denn die meisten Akteure in dem Feld sind durchaus in der Lage, differenziert mit dem Thema umzugehen, nur landen die nicht in den Medien, weil sie besseres zu tun haben, als auf Twitter Kein-Indisches-Essen-in-der-Mensa-Forderungen anzubringen.



      Und meistens wird dann ja im A-hat-B-vorgeworfen-Format berichtet, statt sich inhaltlich mit dem Thema auseinanderzusetzen, denn dann würde man merken, dass es auch aus identitätspolitischer Perspektive nicht schwer ist, entsprechende Forderungen als Unsinn zu entlarven.



      Und gerade bei der Art, wie mit Social Media umgegangen wird, müssten sich die Altmedien dringend an der Nase nehmen. Erfüllt man den eigenen gesellschaftspolitischen Anspruch wirklich, wenn man einfach die Leute rezitiert, die am lautesten brüllt, ohne das Gebrüllte zu kontextualisieren?

    • @Benedikt Bräutigam:

      Wie Steffen Mau eben dargelegt hat, deckt sich Ihre Vorstellung nicht mit der Realität unserer Gesellschaft.



      Bleibt die Frage, warum es Ihnen so wichtig ist, an der Vorstellung festzuhalten.

      • @mats:

        Mich interessiert kein Festhalten und kein Überkommenes. Mich interessiert nur die konstruktive Veränderung und als Mittel dazu der Austausch. Der aber funktioniert eben nicht. Stattdessen regiert die Abspaltung, je mehr sich Gruppen bilden, die nur noch ihre eigene Meinung kennen und diese dann der Gesellschaft einfach überstülpen wollen. Jede Variante von "unserer Realität" darf sich nicht beschweren, wenn nichts dabei herauskommt wenn sie auf eine andere Variante von "unserer Realität" trifft.

  • Eine gute Analyse, sehr differenziert und aufschlussreich. Gerade der letzte Absatz spricht mir aus dem Herzen, denn es gibt geradezu lächerliche Übertreibungen ("kein indisches Essen in der Mensa"). Aussagen wie diese erweisen den seriösen und legitimen Anliegen einen Bärendienst. Die Bewegung wird so zu einer Karikatur ihrer selbst und braucht sich nicht wundern, dass Menschen mit mehr Lebenserfahrung wie Herr Thierse dann darauf hinweisen, dass an der generellen Einordnung solcher "Probleme" etwas nicht stimmt.

    Auch die Frage nach der medialen Aufmerksamkeit ist interessant und sollte auch Medien wie der taz zu denken geben: So mancher taz-Artikel zu dem Thema war auf dem Indisches-Essen-in-der-Mensa Niveau, oft genug undifferenziert und einseitig polemisch. Da ist das vorliegende Interview ein wohltuender Lichtblick. Mehr davon, liebe taz!!

  • Differenziert und nüchtern, sehr gutes Interview.

    Aber "dass sind Auseinandersetzungen" ist kein korrektes Deutsch!

  • Wie angenehm, mal in in der Tagespresse eine so differnzierte und unaufgeregte Betrachtung lesen zu können. Danke dafür.

  • Ziemlich gutes Interview. Wer meint, indisches Essen in der Mensa sei problematisch oder Rastazöpfe bei Jugendlichen sollte dann halt dort nicht essen gehen oder sich keine Rasta-Zöpfe flechten. Leben und leben lassen, keiner hat das Recht seine kulturelle Moral anderen über zu stülpen. Und wenn jemand seine Meinung sagen will, schön, soll er. Wenn er sich entscheidet, das nicht zu tun, soll er auch.



    Aber wer meint, anderen Menschen den Mund verbieten zu können, weil zu männlich, zu weiß oder zu alt ist im Geiste nicht viel besser als all die AfDler.